Radfahren im Sozialismus. Oder: Alle Mann an die Pumpen.

Der rumänische Arzt Dr. Gheorge Rafael-Ștefănescu hat seine Autobiographie geschrieben, die in Rumänien zum Bestseller wurde, „Erinnerungen aus dem sozialistischen Rumänien: Vom Aufblühen bis zum Scheitern“, „Amintiri din România socialistă: de la înflorire la faliment“.

Die Lektüre lohnt: Schließlich ist Sozialistisches in Deutschland, unter der sozialistisch sozialisierten Kanzlerin M., ja überall wieder schwer en vogue, sind die alten sozialistischen Dogmen ,alive and kicking‘.

Eine der Reminiszenzen entstammt der Welt des Fahrrads:

„Bei meinem ersten Besuch im Westen staunte ich darüber, mit welcher Leichtigkeit man dort Fahrräder aufpumpen konnte. Ich stellte fest, dass das Ventil ein Kügelchen besaß, während bei uns in Rumänien da eine kleine Gummiröhre war, die der Pumpe einen viel größeren Widerstand entgegensetzte. Und ich fragte mich: Warum kann man eigentlich nicht auch in Rumänien ein derartiges Ventil herstellen?

Ich dachte genauer darüber nach und zog folgende Schlüsse: Gesetzt den Fall, ein ,Innovator‘ kommt mit dem Vorschlag, die Fabrikation von Ventilen mit Kügelchen  zuzulassen. Möglicherweise würde sein Gutachten zu dieser Innovation akzeptiert, sogar die Genehmigung zur Produktion von ein paar Modellen erteilt. Der Erfinder würde belobigt, vielleicht sogar prämiert. Aber: Nie und nimmer würde seine Innovation in Serienproduktion gehen.  

Die Ursachen: Die Umstellung der Fertigungsstrecken erfordert harte Planungsarbeit („necesită bătaie de cap“) und Investitionen. Außerdem: Da es sich um eine Ware handelt, die für den Inlandskonsum bestimmt ist, die Fabrik das Fertigungsmonopol hat und keinerlei Konkurrenz existiert, besteht nicht das geringste Interesse an einer Verbesserung der Qualität des Produktes.“

„In vielen Bereichen, wo es keine Akkordarbeit gab, galt Blaumachen (,chiulul‘) nicht nur nicht als beschämend, sondern als lobenswert: ,Sie tun so, als ob sie uns bezahlten, und wir tun so, als ob wir arbeiteten!'“ – „Ei se fac că ne plătesc, noi ne facem că muncim.“

Hier sei angemerkt: Marxistischer geht’s nimmer, dachten doch Marx&Engels (genau wie vor ihnen die Protagonisten der Französischen Revolution) nie auch nur im Traum daran, ihren Lebensunterhalt mit so etwas wie realer Arbeit zu bestreiten. Und das Berufsideal der 68er(Innen) war bekanntlich: „irgendwas mit Sozialwissenschaft“.

„Immer mehr Männer und Frauen mieden ihre Arbeit in der kollektivierten Landwirtschaft, um privates Land zu bestellen. In der Saison der Agrarkampagnen machte sich ein akuter Mangel an Arbeitern bemerkbar, eine Lücke, die mit Soldaten, Studenten, Schülern gefüllt wurde, die nicht willens oder nicht in der Lage waren, Qualitätsarbeit zu leisten, was zu Ernteverlusten führte.“

„Die rumänischen Agrarspezialisten wählten eine Maissorte aus mit nur einen Meter hohem Flaum, aber genauso großen Kolben wie gewohnt. Der Zweck? Damit auch Kinder aus dem Kindergarten Mais ernten konnten.“

Fazit des Autors: „Economia monopolistă de stat, frână a progresului“ – „Staatliche Monopolwirtschaft, Bremse für den Fortschritt“.

Seinem Buch hat er das deskriptive und zugleich warnende Motto vorangestellt: „Pentru a privi spre viitor, trebuie să cunoaștem trecutul.“ – „Um in die Zukunft zu blicken, müssen wir die Vergangenheit kennen.“

„Amintiri din România socialistă“, Aufl. IV-a IngramSpark USA, 2020 (2005), S. 87f.

Erhoben, nicht erhaben

Im Langenscheidt-Lexikon Französisch-Deutsch stieß ich auf ein Wort, das meine Neugier weckte: le pédard, ,schlechter (rücksichtsloser) Radfahrer‘, umgangssprachlich. 

Das Wort ist in unseren Tagen nicht mehr relevant, der ,Larousse Classique‘ enthält es daher nicht. Der Band ist eines der Bücher, die ich stets griffbereit halte, Wörterbuch und Lexikon in einem, ,dictionnaire encyclopédique‘.

Ein Blick ins Internet, in Wiktionary, klärt die Dinge. Das Wort, eine abgekürzte Form von vélocipédard, ist erstmals 1892 bezeugt und heutzutage unüblich (,desuet‘).

Vélocipédiste wurde zu vélocipédard verunstaltet, das wiederum auf pédard gestutzt wurde (während der vordere Teil, vélo, ja noch heute das übliche französische Wort für Fahrrad ist).

Nicht nur den noch heute üblichen Tiefrad-Rocker müssen wir uns vorstellen, sondern, schlimmer noch, auch den auf seinem Hochrad thronenden.

In jenen Jahren existierte bereits das Tiefrad, also die moderne Form des Fahrrads, aber das Hochrad war ebenfalls noch verbreitet.

Diejenigen pédards also, die aus überhöhter Position wie Adler (oder: Geier) auf ihre Mitmenschen herabschauten, sich für erhaben, da erhoben, haltend, dürften ein besonders unangenehmer Typus gewesen sein.

Mir kam in den Sinn, dass manche Fahrradläden in Spanien den Namen Caballo de acero, ,Stahlross‘, tragen; vom harmlosen deutschen ,Drahtesel‘ keine Rede.

Abbildung aus: Larousse Classique, s. v. bicyclette. 1818 – 1855 – 1865 – 1957 (das Jahr der Erstauflage des Lexikons). Darunter ein aktuelles Fahrrad, viel zu schön pour des pédards.

Wiktionary liefert ein aufschlussreiches Zitat zu pédard aus dem Jahre 1897, ein paar Jahre vor der ersten Tour de France (1903):

„Das Wort pédard, das gegen Ende dieses Jahrhunderts in unserem Pariser Vokabular üblich geworden ist, (…) ist eine Abänderung von vélocipédiste „faite avec un sens de dénigrement“, also um den Bezeichneten ,anzuschwärzen‘, zu tadeln.

Der Verfasser empört sich: „Un pédard est un cycliste qui ne se respecte pas, un cycliste dénaturé et sans moeurs. Le pédard est au cycliste ce qu’est le ‚collignon‘ maradeur au cocher, le carabin au médecin, le pirate au corsaire.“

„Ein pédard ist ein Radfahrer, der sich nicht zu benehmen weiss, der verkommen (dénaturé) und sittenlos ist. Der pédard verhält sich zum Radfahrer wie der rücksichtslose collignon zum Kutscher, der carabin (medizinische Stümper) zum Arzt, der Pirat zum Freibeuter.“

Meyers Lexikon 1926:

In der deutschen Zeitschrift ,Die Umschau‘ vom 9. Mai 1909 geißelt der anonyme Verfasser des schönbetitelten Artikels Zweirad und Naturgenuss die Rücksichtslosigkeit, die „solche Unholde wie Rasende mitten durch das Strassengewühl treibt“.

Über den Ursprung des Wortes collignon klärt Wiktionary uns ebenfalls auf. Jacques Collignon war ein Kutscher, der am 22. 9. 1855 einen Fahrgast erschoss, der sich bei der Präfektur beschwert hatte, da Collignon den Tarif überschritten hatte.

Noch im selben Jahr beendete nach landesüblichem Brauch das Rauschen der Guillotine sein Dasein; sein Kopf rollte, sein Name aber lebte fort – solange Kutschenräder durch Paris rollten.

Dass im Gegensatz zur deutschen Alltagssprache sorgfältig zwischen ,Pirat‘ (böse) und ,Korsar‘ (gut) differenziert wird, ist angesichts der französischen Freibeuter-Tradition kein Zufall.

Man denke nur an den großen Robert Surcouf aus Saint-Malo, „corsaire français“ (Larousse classique), im XVIII. Jahrhundert der Schrecken der englischen Handelsschiffe im Indischen Ozean, Karl May-Lesern als ,der Kaperkapitän‘ aus Die Rose von Kairwan (Halbblut) bekannt.

Pédard hat, so erfahren wir aus Wiktionary, noch eine zweite Bedeutung, auch sie unerfreulich: der Amateurfahrer, der bei Profirennen die anderen durch sein unvorsichtiges Verhalten behindert.

Auch hier eine spanische Assoziation: der capitalista, ein Amateur, der, obwohl es gesetzlich verboten ist, in die Stierkampfarena springt. Er glaubt anmaßend, sich als der bessere torero beweisen zu müssen, und gefährdet damit das eigene Leben und das der Zuschauer.

Thomas Grimm, Cyclistes & pédards, Le Petit Journal, 13/10/1897, S. 1.

Homer for Dummies

Da der Titel sich an Dummies richtet, sei zunächst geklärt: Nicht um die Simpsons geht es in diesem Blog-Eintrag, sondern um einen früher recht bekannten europäischen Dichter …

In unseren Tagen, wo alle Formen geordneter Informationsaufnahme (vor allem: Zuhören und Lesen) aus der Mode gekommen sind, erfreuen sich Publikationen mit dem Titel „X für Dummies“ (Goethe für Dummies, Shakespeare für Dummies, Antike für Dummies) steigender Beliebtheit. So wie jedes zweite Mathematik- oder Französischbuch im Titel Zusätze wie „ohne Mühe“, „ohne Stress“ „blitzschnell“ trägt. Es gibt sogar eine Sprachkurs-Serie mit dem dumpfen Titel „Französisch/Italienisch für Faule“.

Hier also ein Beitrag für Leute, die keine Zeit haben, zum Thema „Homers ,Odyssee‘ für Dummies“. Verfasst von einem Spezialisten, der seinerseits eine Menge Zeit ins Lesen investierte:

„Es war einmal ein Mann, der irrte viele Jahre in der Fremde umher, denn sein Feind, der Gott Poseidon, ließ ihn nicht entkommen, und er war auf sich selbst gestellt, und die ganze Zeit über verschwendeten Freier seiner Gattin sein Eigentum und verschworen sich gegen seinen Sohn, aber er gelangte unter vielen Mühen heim, gab sich einigen zu erkennen, griff an und tötete seine Feinde. Das ist das Eigentliche; der Rest: Episoden.“

Aristoteles, Poetik, 1455b

Dreisprachige Ausgabe der aristotelischen Poetik, Griechisch – Latein – Spanisch

Mein neuer Fachaufsatz

Im neuen Heft der Mitteilungen des Altphilologenverbandes in Baden-Württemberg ist ein Aufsatz  von mir veröffentlicht worden, der den Neoplatoniker Porphyrios behandelt: „Ein Neoplatoniker im Streit mit dem Christentum – Neues aus Frankreich und Italien zu Porphyrios“. Das Heft (1/2020) ist auch online abrufbar unter www.dav-bw.de/downloads-2/

Aktueller Nachdruck meines Französischbuchs

Phrases-clés pour l’écrit et l’oral, das ich zusammen mit Valérie Deinert verfasst habe und das zu einem der erfolgreichsten deutschen Französischbücher geworden ist, ist erneut nachgedruckt. Es enthält die zentralen Vokabeln und Redewendungen für Textarbeit und Kommunikation, nach Kompetenzen geordnet und in besonders übersichtlicher Präsentation.

Realität&Fiktion

„Die Realität übertrifft die Fiktion“ – „La realidad supera la ficción“ ist ein spanisches Sprichwort. Wie wahr!

Im Jahre 2017 verstarb Jesús Tuson, einer der bedeutendsten katalanischen Sprachwissenschaftler, Professor für Linguistik an der Universität Barcelona. Neben seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk schrieb Tuson auch für das allgemeine Publikum.


Eines seiner erfolgreichsten Bücher ist Històries naturals de la paraula, Naturgeschichten des Wortes. In dieser Sammlung von Vignetten zu verschiedenen sprachlichen Themen geht es Tuson darum,  die Wechselwirkungen zwischen sprachlicher Veränderung und Alltagsleben zu veranschaulichen. Er setzt sich für Respekt im Alltag gegenüber jeder Sprachgemeinschaft ein, auch der kleinsten. Wie zu erwarten, verteidigt er vor allem das Katalanische gegen die Vormacht des Spanischen, aber aus der Position eines Liberalen, nicht der des Eiferers.

Das Buch erschien zuerst 1998 und ist seitdem wiederholt nachgedruckt worden. Man merkt ihm seine über zwanzig Jahre nicht an, es könnte gestern geschrieben sein.

Mit einer einzigen, aufschlussreichen und befremdenden Ausnahme. In dem Kapitel „Wörter und Lügen“ („Paraules i mentides“) behandelt Tuson auch die Gängelungen seitens der „politisch-korrekten“ Sprache, die „privacions lingüístiques“, also den Raubbau an der Sprache, den er scharf kritisiert.

Jede Art von verordneten Sprachregeln, so schreibt er, löse jedoch immer auch eine Gegenbewegung aus. „Contra eufemisme, rebel·lió“ ist der Titel des Unterkapitels.

Die Zukunft werde zeigen, ob es den Hütern des Neusprech gelänge, uns in bester Orwell-Manier zu dressieren, oder ob der Aufstand der Tiere, „la revolta del animals“, sie von der Farm verjagen würde, ein Aufstand „gegen die soziale Heuchelei, gegen die Gängelungen durch einige Machtzentren, die die wahrhaftigen Namen der Dinge verbieten (que prohibeixen els noms veritables de les coses)“.

Was Tuson schreibt, muss 2020 jeden kritischen Geist in doppelter Hinsicht frustrieren. Denn zum einen wissen wir inzwischen: Aufstand?  Keine Spur, vor allem (natürlich) hier in Deutschland nicht.

Eine so entschiedene Ablehnung des herrschenden Sprachregiments könnte sich kein deutscher Linguistik-Professor mehr ,herausnehmen‘. Wenn ein Liberaler wie Tuson einen solchen kritischen Text in einer Zeitung veröffentlichen wollte – in welcher sollte er das tun? Etwa in der ZEIT?!

Ein zweiter Punkt aber ist noch unerfreulicher. Für Tuson war es 1998 ein Zeichen der Hoffnung, ein Silberstreif, dass sich längst Satiriker des Themas „politische Korrektheit“ angenommen hätten: „Comença, doncs, la rebel·lió.“

Er nennt und zitiert ein Beispiel, eine satirische ,Übersetzung‘ (von James Finn Garner) des Märchens vom Rotkäppchen in die Denk- und Sprachwelt der Sprachkontrolleure.

Nur: 2020 ist die Satire längst real geworden. Vielen Lesern dürfte die Absicht gar nicht mehr auffallen. Einen Claus Kleber etwa, um das Beispiel dieses standhaft, ja glorreich humorfreien Sprachwarts zu nennen, wird kein Lachmuskel jucken, wenn er liest:

„Eines schönen Tages bat die Mutter Rotkäppchen, der Großmutter einen Korb mit frischem Obst und Mineralwasser zu bringen; keineswegs etwa, weil es typisch weibliches Verhalten wäre, so etwas zu tun, sondern als ein großzügiger Beitrag zur Stiftung von Solidaritätsbewußtsein (a crear un sentiment solidari).“

Längst sind ja alle möglichen Kinder- und Jugendbücher so oder ähnlich überarbeitet. Es gibt eine ganze neue Art von ideologischer Waffe gegen den Humor: Man macht aus Persiflage einfach Klartext.

Wirklich überraschend ist diese Beobachtung nicht, man denke an die Scherze vor einigen Jahren über freie Toilettenwahl des Individuums oder über immer neue Genderklassifizierungen. Erst war es Satire, dann wurde es real. In der englischsprachigen Welt ist seit Jahren der Aufschrei zu hören „1984 was a novel, not a blueprint!“. Umsonst.

Wer also persiflierend oder satirisch eigene Wortschöpfungen in die Welt setzt, könnte seine Persiflagen einige Zeit später von den Lippen eben jenes Claus Kleber hören, ex cathedra. Der wird übrigens für seine Gutsherrntätigkeit mit 600 000 Euro Bruttoverdienst pro Jahr entlohnt (ich habe es zuerst auch nicht geglaubt).

Die Kritiker sollten also aufhören zu spaßen, um die anderen nicht auf dumme Gedanken zu bringen.

Wie sagte doch Camille Desmoulins auf dem Weg zur Guillotine: „C’est ma plaisanterie qui m’a tué.“ Er hatte einen Witz über Saint-Just gemacht …

 

Històries naturals de la paraula. Editorial Empúries, Barcelona 2015. Die drei Unterkapitel von Paraules i mentides (S. 49-59): Tabú; Contra tabú, eufemisme; Contra eufemisme rebel·lió.

Drohe zu werden!

Am 25. Juni 2020 veröffentlichte ich einen kurzen Blog-Eintrag mit dem Titel ,Zitat des Tages: Nervende Psychotherapeuten‘, um zu würdigen, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung endlich die restringierenden Normen deutscher Grammatik zugunsten von viel mehr Vielfalt über Bord geworfen hat. 

Die Redaktion von BILD hat meinen Text zur Kenntnis genommen und möchte dokumentieren, dass sie der FAZ in nichts nachsteht. Des Deutschen nicht mächtige Journalisten (=to put it politically correctly: the syntactically handicapped, sorry: challenged) sind auch bei der BILD-Zeitung, der Gralshüterin (Gralshütenden?) deutscher Prosa, rundum integriert, keinesfalls: diskriminiert. Hier der Beleg (Bild.de von gestern): „Syrerin Mayaz (16) hat eine Ausbildungsstelle und droht abgeschoben zu werden.“

Traduttore, traditore – Traduire, c’est trahir -Der Übersetzer: ein Verräter

Aus Pascals Pensées:

Die Menschen sind notwendigerweise so verrückt, dass ein nicht-Verrückter nur auf andere Weise verrückt wäre.

Wahr auf dieser Seite der Pyrenäen, falsch auf der anderen.

Wer die Eitelkeit der Welt nicht sieht, ist selber eitel.

Die Nase der Kleopatra: Wäre sie kürzer gewesen, das ganze Antlitz der Erde hätte sich gewandelt.

Vielfalt, die nicht auf Einheit zurückgeht, ist Wirrwarr; Einheit, die sich nicht auf Vielfalt gründet, Tyrannei.

Der Mensch ist weder Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass, wer den Engel spielen will, zum Tier wird.

Nie tut man das Böse so vollständig und mit so heiterer Gelassenheit, wie wenn man es mit gutem Gewissen tut.

Zwei Exzesse: die Vernunft ausschalten; nichts als die Vernunft zulassen. (1)

Les hommes sont si nécessairement fous que ce serait être fou par un autre tour de folie de n’être pas fou. (414-112)

Vérité en-decà des Pyrénées, erreur au-delà. (294-609)

Qui ne voit pas la vanité du monde est bien vain lui-même. (164-36)

Le nez de Cléopâtre: s’il eût été plus court, toute la face de la terre aurait changé. (162-413)

La multitude qui ne se réduit pas à l’unité est confusion; l’unité qui ne dépend pas de la multitude est tyrannie. (871-604)

L’homme n’est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l’ange fait la bête. (358-678)

Jamais on ne fait le mal si pleinement et si gaiement que quand on le fait par conscience. (895-813)

Deux excès: exclure la raison, n’admettre que la raison. (253-183)

An Pascal-Zitaten, in alle Sprachen übersetzt, ist im Internet kein Mangel. Einzelzitate, aber auch ganze Sammlungen von Auszügen aus den Pensées sind leicht zu finden.

Als ich ein paar solcher Stellen auswählte und übersetzte, ging es mir primär nicht um die Weitergabe von philosophischen Einsichten Pascals – obwohl ich das mit diesen Zitaten aus den Pensées gerne tue – sondern um eine philologische Frage: Wie genau ist es zu erklären, dass die Übersetzungen (mehr oder weniger)  wirkungsvoll sein mögen, wenn sie für sich stehen, beim Vergleich mit den französischen Originalen aber sofort schwerfällig und unelegant wirken?

Pascals schlichter Wortschatz, seine Antithesen, Paradoxa und überraschende Beispiele sind unschwer wiederzugeben. Kein Vergleich etwa mit Problemen, die sich dem in den Weg stellen, der sich daran macht, Philosophisches aus dem klassischen Griechisch zu übersetzen.

Ebenso seine semantischen und syntaktischen Stilfiguren, etwa: Vielfalt Einheit Wirrwarr Einheit VielfaltTyrannei. Was genau aber ist es, was die Originalzitate so unnachahmlich und einprägsam macht?

Die Hauptursache, denke ich, liegt in der Wortlänge. Der französische Wortschatz stellte Pascal eine Vielzahl wesentlich kürzerer Wörter zur Verfügung, als sie der deutsche Übersetzer hat. Im ersten Zitat etwa entspricht dem winzigen Einsilber fou, der die ganze Bedeutungslast trägt, das deutsche ,verrückt‘, das die Übersetzung klobiger macht als das Original.

Außerdem ist der Satzrhythmus schwer nachahmbar, ebenso natürlich die Klanggestalt, die Pascal stets wirkungsvoll einzusetzen versteht. So verwendet er für seine Antithesen gerne Wörter mit derselben Silbenzahl, was die Gegenüberstellung scharf hervortreten lässt: en-decà versus au-delà, ange versus bête.

Meine Zitate aus den Pensées sind auf Deutsch alle länger als die Originale, wirken in der Gegenüberstellung wie aufgedunsen.

Dabei ist maximale Kürze bei maximalem Inhalt das Grundkriterium für das Gelingen aller Sentenzen, Sprichwörter, Bonmots. Darauf zielen alle Epitheta, die man im Deutschen für solche sprachlichen Äußerungen verwendet, zum Beispiel ,glänzend formuliert‘, ,geschliffen‘, ,zugespitzt‘ ,pointiert‘, ,(aus-)gefeilt‘. Keinesfalls zufällig ist, dass solche Wörter, die den gelungenen Stil rühmen, meist Perfekt-Partizipien sind, also Verbformen, die den Abschluss einer Handlung bezeichnen, hier den des Arbeitens, des Feilens an der Formulierung. Eleganz, so heißt es ja, ist die Kunst des Weglassens.

Der Nachteil des Vergleichs mit dem Original gilt selbstverständlich auch für französische Übersetzungen, vor allem für Texte aus solchen Sprachen, die sich noch kürzer fassen: Latein, Englisch, Spanisch, wo es die französischen Wiedergaben sind, die oft recht unvorteilhaft in die Breite gehen.

Ein Hauptproblem der Wiedergabe deutscher Texte im Französischen besteht darin, dass dabei nicht nur Klanggestalt und Rhythmus, sondern auch kernige Schlichtheit und Tiefe (=Herleitbarkeit aus Elementarwörtern) des germanischen Wortmaterials verloren gehen, wenn aus Grund raison, aus Handlung action, aus Gefühl émotion, aus Bewunderung admiration, aus verrückt fou wird. Im Englischen, wo romanische und germanische Elemente im Wortschatz Seite an Seite gebraucht werden, tritt dieser Unterschied ebenfalls hervor: jeder Gast freut sich über a hearty welcome mehr als über a cordial reception.

Zurück zu Pascal. Zurecht lernen französische Schüler (2):

„Auch seine erbittertsten Verleumder, die seine apologetische Haltung ablehnen, würdigten eminente stilistische Qualitäten Pascals: die Präzision seines Wortgebrauchs – unverzichtbare Bedingung für die Klarheit des Denkens – die Ablehnung von Übertreibungen und Exzessen, den Sinn für die Formel.“

„Même ses plus farouches détracteurs, qui contestent sa démarche apologétique, reconnaissent à Pascal d’éminentes qualités de style: la précision du mot, condition indispensable à la clarté de la pensée, le refus des outrances et des excès, le sens de la formule.“

(1) Zitiert und übersetzt nach der Ausgabe von D. Descotes (Flammarion) Paris 1976.

(2) Alain Couprie, Pensées. Grandeur et misère de l’homme. Blaise Pascal, (Profil BAC, Hatier) Paris 2008, S. 6.

Tag&Abend

                              Cal pas dire de mal del jorn que non siá passat.

                     (Il ne faut pas médire du jour, avant qu’il ne soit passé.)

                             Man soll den Tag nicht vor dem Abend schmähen.

                                                Okzitanisches Sprichwort.

Jean-Baptiste Hiriart-Urruty, Ah,ça c’est bien dit! 1001 proverbes du Pays basque, d’Occitanie, de Catalogne … et d’ailleurs. 2019, S. 67.

Zitat des Tages: nervende Psychotherapeuten

„Fünf Dinge, die jetzt als Psychotherapeut nerven“ – Schlagzeile aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Juni 2020. Der Artikel stammt von einem Jan Kalbitzer, offenkundig kein deutscher ,native speaker‘. Man sieht: Die Beherrschung elementarer Syntax-Regeln des Deutschen ist keine Eingangsvoraussetzung bei der (früher mal renommierten, heutzutage vor allem: sterbenslangweiligen) FAZ.