Erhoben, nicht erhaben

Im Langenscheidt-Lexikon Französisch-Deutsch stieß ich auf ein Wort, das meine Neugier weckte: le pédard, ,schlechter (rücksichtsloser) Radfahrer‘, umgangssprachlich. 

Das Wort ist in unseren Tagen nicht mehr relevant, der ,Larousse Classique‘ enthält es daher nicht. Der Band ist eines der Bücher, die ich stets griffbereit halte, Wörterbuch und Lexikon in einem, ,dictionnaire encyclopédique‘.

Ein Blick ins Internet, in Wiktionary, klärt die Dinge. Das Wort, eine abgekürzte Form von vélocipédard, ist erstmals 1892 bezeugt und heutzutage unüblich (,desuet‘).

Vélocipédiste wurde zu vélocipédard verunstaltet, das wiederum auf pédard gestutzt wurde (während der vordere Teil, vélo, ja noch heute das übliche französische Wort für Fahrrad ist).

Nicht nur den noch heute üblichen Tiefrad-Rocker müssen wir uns vorstellen, sondern, schlimmer noch, auch den auf seinem Hochrad thronenden.

In jenen Jahren existierte bereits das Tiefrad, also die moderne Form des Fahrrads, aber das Hochrad war ebenfalls noch verbreitet.

Diejenigen pédards also, die aus überhöhter Position wie Adler (oder: Geier) auf ihre Mitmenschen herabschauten, sich für erhaben, da erhoben, haltend, dürften ein besonders unangenehmer Typus gewesen sein.

Mir kam in den Sinn, dass manche Fahrradläden in Spanien den Namen Caballo de acero, ,Stahlross‘, tragen; vom harmlosen deutschen ,Drahtesel‘ keine Rede.

Abbildung aus: Larousse Classique, s. v. bicyclette. 1818 – 1855 – 1865 – 1957 (das Jahr der Erstauflage des Lexikons). Darunter ein aktuelles Fahrrad, viel zu schön pour des pédards.

Wiktionary liefert ein aufschlussreiches Zitat zu pédard aus dem Jahre 1897, ein paar Jahre vor der ersten Tour de France (1903):

„Das Wort pédard, das gegen Ende dieses Jahrhunderts in unserem Pariser Vokabular üblich geworden ist, (…) ist eine Abänderung von vélocipédiste „faite avec un sens de dénigrement“, also um den Bezeichneten ,anzuschwärzen‘, zu tadeln.

Der Verfasser empört sich: „Un pédard est un cycliste qui ne se respecte pas, un cycliste dénaturé et sans moeurs. Le pédard est au cycliste ce qu’est le ‚collignon‘ maradeur au cocher, le carabin au médecin, le pirate au corsaire.“

„Ein pédard ist ein Radfahrer, der sich nicht zu benehmen weiss, der verkommen (dénaturé) und sittenlos ist. Der pédard verhält sich zum Radfahrer wie der rücksichtslose collignon zum Kutscher, der carabin (medizinische Stümper) zum Arzt, der Pirat zum Freibeuter.“

Meyers Lexikon 1926:

In der deutschen Zeitschrift ,Die Umschau‘ vom 9. Mai 1909 geißelt der anonyme Verfasser des schönbetitelten Artikels Zweirad und Naturgenuss die Rücksichtslosigkeit, die „solche Unholde wie Rasende mitten durch das Strassengewühl treibt“.

Über den Ursprung des Wortes collignon klärt Wiktionary uns ebenfalls auf. Jacques Collignon war ein Kutscher, der am 22. 9. 1855 einen Fahrgast erschoss, der sich bei der Präfektur beschwert hatte, da Collignon den Tarif überschritten hatte.

Noch im selben Jahr beendete nach landesüblichem Brauch das Rauschen der Guillotine sein Dasein; sein Kopf rollte, sein Name aber lebte fort – solange Kutschenräder durch Paris rollten.

Dass im Gegensatz zur deutschen Alltagssprache sorgfältig zwischen ,Pirat‘ (böse) und ,Korsar‘ (gut) differenziert wird, ist angesichts der französischen Freibeuter-Tradition kein Zufall.

Man denke nur an den großen Robert Surcouf aus Saint-Malo, „corsaire français“ (Larousse classique), im XVIII. Jahrhundert der Schrecken der englischen Handelsschiffe im Indischen Ozean, Karl May-Lesern als ,der Kaperkapitän‘ aus Die Rose von Kairwan (Halbblut) bekannt.

Pédard hat, so erfahren wir aus Wiktionary, noch eine zweite Bedeutung, auch sie unerfreulich: der Amateurfahrer, der bei Profirennen die anderen durch sein unvorsichtiges Verhalten behindert.

Auch hier eine spanische Assoziation: der capitalista, ein Amateur, der, obwohl es gesetzlich verboten ist, in die Stierkampfarena springt. Er glaubt anmaßend, sich als der bessere torero beweisen zu müssen, und gefährdet damit das eigene Leben und das der Zuschauer.

Thomas Grimm, Cyclistes & pédards, Le Petit Journal, 13/10/1897, S. 1.