De principatibus – der Principe Machiavellis und Ciceros De Officiis

von Christoph Wurm – Dieser Artikel erschien zuerst in Forum Classicum, Zeitschrift für die Fächer Latein und Griechisch an Schulen und Universitäten, Heft 1/2018, S. 13 – 19.

Dass De principatibus1 Weltliteratur werden würde, hat sich Niccolò Machiavelli (1469 – 1527) gewiss nie träumen lassen. Die 1513 verfasste Schrift, deren Titel der Verleger in Il Principe änderte, wurde erst fünf Jahre nach seinem Tod gedruckt; 1560 erschien in Basel die erste lateinische Übersetzung. Wie kontrovers seine Gedanken waren, war Machiavelli beim Abfassen der Schrift dagegen sehr wohl bewusst. Und sie sind es geblieben: Seit ihrem Erscheinen haben sie einen Dauerstreit ausgelöst, bis heute. ,Machiavellismus’ wurde zu einem Synonym für skrupellose Machtpolitik.

Machiavelli verfasste die Schrift wie auch seinen Liviuskommentar Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio2 in einer Zeit unfreiwilliger politischer Abstinenz. Er hatte die glänzende Herrschaft Lorenzo de’ Medicis, den Sturz seiner Dynastie, dann Herrschaft und Untergang Savonarolas erlebt. 1498 war er, neunundzwanzigjährig, in den höheren florentinischen Staatsdienst eingetreten und Vorsteher der Kanzlei der Zehn geworden, der Behörde, die Heerwesen und Außenpolitik lenkte. Fünfzehn Jahre hatte er die Geschäfte geführt, teils im inneren Dienst, teils mit auswärtigen Missionen betraut, auf denen er mit den Mächtigen seiner Zeit zusammentraf.

1512 verlor er mit dem Sturz der Republik und der Rückkehr der Medici sein Amt, wurde als angeblicher Verschwörer eingekerkert und gefoltert, aber schließlich im Rahmen einer Generalamnestie entlassen. Er wurde aus Florenz verbannt und zog sich auf sein Landgut südlich der Stadt zurück, wo er nach getaner Tagesarbeit die Klassiker las und den Principe schrieb. Machiavelli widmet sein Buch wie einen konventionellen Fürstenspiegel dem Enkel Lorenzos des Prächtigen, Lorenzo di Piero de’ Medici (1492 – 1519), der von 1513 bis zu seinem Tod Florenz beherrschte.

Nicht ohne Grund hatte Machiavelli den Titel De principatibus gewählt. Das Buch enthält zunächst eine Differenzierung der Arten, an die Macht zu gelangen (Kapitel 1 – 11), dann eine Analyse des Heerwesens seiner Zeit (Kapitel 12 – 14), dann eine Verhaltenslehre für Herrscher (Kapitel 15 – 24). Es folgen eine Reflexion über die Macht der fortuna in der menschlichen Geschichte (Kapitel 25) und, zum Abschluss, ein Aufruf zur politischen Einigung des zersplitterten Italiens durch einen Erlöser, einen redentore (Kapitel 26).

Warum lohnt es sich, den Principe unter altphilologischen Gesichtspunkten zu betrachten? Zunächst einmal: Das Werk ist nicht rein auf Italienisch verfasst, sondern zum Teil auf Latein. Machiavelli hat sein Werk auf Lateinisch gegliedert und jedem Kapitel jeweils eine lateinische Themenbeschreibung vorangestellt.

Das von Machiavelli verwendete Textidiom ist ein hoch latinisiertes Italienisch (deshalb gibt es Übersetzungen des Textes ins moderne Italienisch3). Er hatte Latein nicht nur seit Jahren gelesen, sondern in seinem Beruf aktiv verwendet. Häufig gebraucht er lateinische Wörter; kaum eine Seite ohne etiam, demum, funditus, in exemplis, in universali, pr(a)sertim, pr(a)eterea, ,quoddammodo’, tamen oder verbi gratia. Mehrfach wechselt Machiavelli mitten im Satz ins Lateinische, zum Beispiel: E fu di tanta virtù, etiam in privata fortuna, che chi ne scrive dice quod nihil illi deerat ad regnandum praeter regnum. (VI, 28). (Hieron von Syrakus war schon als Privatmann von solcher Tüchtigkeit, dass einer, der über ihn schreibt, sagt, dass ihm zur Königsherrschaft nichts fehlte als ein Königreich.) Das Zitat stammt aus Justin, Epit. XXIII, 4, 15.

Manche Zitate werden, ohne sie als solche zu kennzeichnen, auf Italienisch paraphrasiert. Zum Beispiel (III, 27): Frühzeitig erkannt seien die Übel des Staats leicht zu heilen; wenn aber nicht: unheilbar, vgl. Ovids Remedia Amoris 91. In XIX, 4 verwendet er die berühmte Formulierung Caesars aus dem ersten Buch von De Analogia ,fugere ut scopulum’, ,guardarsi come di uno scoglio’.

Was den Stil betrifft, so versichert Machiavelli zu Beginn des Werkes, rhetorische Finessen lägen ihm fern; ein Anspruch, dem er – selbstverständlich – nicht nachkommt. Die bewusste Schlichtheit des Wortschatzes, die wohlproportionierten Sätze, der häufige Gebrauch der verschiedenen Partizipialkonstruktionen, die rhetorische Emphase des Schlussappells an Lorenzo di Piero de’ Medici – all das orientiert sich an Cicero und Livius. Der Text ist „scevra di quella ampollosità, di quelle formule retoriche ampie e gravi che avevano garantito la fortuna die trattati medievali e umanistici sul buon governo“4 (frei von jener Schwülstigkeit, von jenen weit ausholenden und bedeutungsschweren rhetorischen Formeln, die den Erfolg der mittelalterlichen und humanistischen Traktate über die gute Herrschaft garantiert hatten).

„L’uno intende da sé, l’altro discerne quello che altri intende, el terzo non intende né sé né altri: quel primo è excellentissimo, el secondo excellente, el terzo inutile.“ (XII, 4) (Der eine [Verstand, cervello] versteht von selbst, der zweite begreift, was andere verstehen, der dritte versteht weder etwas von alleine noch mit Hilfe anderer. Der erste ist ganz hervorragend, der zweite hervorragend, der dritte nutzlos). Solche geschliffenen, oft spöttischen Sentenzen zur menschlichen Natur liefert Machiavelli häufig; sie haben Eingang in Zitatensammlungen, Verwendung als Kalendersprüche und Aufnahme in die Ratgeberliteratur gefunden.

Nicht ohne Raffinesse sind auch die lateinischen Kapitelüberschriften gewählt, so die von Kapitel XVIII. „Quomodo fides a principibus sit servanda“. Das Quomodo am Anfang, so die provokative Pointe, die erst bei der Lektüre des Kapitels selbst hervortritt, darf nicht im Sinne von ,wie’ verstanden werden, sondern ihr Sinn ist ,in welchem Maße’, ,bis zu welchem Grade’, denn in dem Kapitel befürwortet Machiavelli ausdrücklich den Wortbruch als politisches Mittel.

Die Überschrift des letzten Kapitels, in dem Machiavelli den distanzierten, bisweilen spöttischen, bisweilen sarkastischen Ton zu Gunsten eines leidenschaftlichen Appells aufgibt, lautet „Exhortatio ad capessendam Italiam in libertatemque a barbaris vindicandam“. Italiam capessere – eine Anleihe aus der Aeneis, vgl. IV, 345ff. Der ersehnte Herrscher, der redentore, soll ein neuer Aeneas sein.

Der Form nach ist der Principe ein Fürstenspiegel, daher ähnelt er in der Textkonstitution ebenfalls Ciceros De Officiis, der Schrift, die ja der umfassenden philosophischen Unterweisung seines Sohnes Marcus diente. Maximen werden

zunächst abstrakt dargelegt und dann mit Hilfe von Einzelbeispielen konkretisiert. Protagonisten dieser Exempla sind, genau wie bei Cicero, große Männer aus Gegenwart oder Vergangenheit, ihr Verhalten wird, ebenfalls wie bei Cicero, als jeweils abschreckend oder vorbildlich bezeichnet. In Ansätzen, nämlich durch Verwendung des immer wieder eingestreuten Pronomens tu, an einen dem Verfasser vorschwebenden zukünftigen principe gerichtet, erhält der Text Dialogcharakter. 

In einer Passage aus einem Brief, den Machiavelli im Dezember 1513 an seinen Freund Francesco Vettori schrieb, beschreibt er seine Arbeit an diesem Text5:

Am Abend komme ich nach Hause und betrete mein Arbeitszimmer. An der Schwelle ziehe ich meine Alltagskleidung aus, die ganz lehmig und dreckig ist [von seiner Tätigkeit auf dem Gutshof], und ziehe Kleidung an, die zu einem Königs- oder Papsthof passt. Erst wenn ich entsprechend gewandet bin, betrete ich die ehrwürdigen Höfe der Menschen der Antike, wo ich freundlich aufgenommen werde. Ich nehme dann jene Nahrung zu mir, die einzig mir gehört, und für die ich geboren bin (mi pasco di quel cibo che solum è mio, et che io nacqui per lui). Dort schäme ich mich nicht, mit jenen Menschen zu sprechen und sie nach den Beweggründen ihrer Handlungen zu fragen, und sie stehen mir aufgrund ihrer Menschlichkeit (per loro humanità) Rede und Antwort, und vier Stunden lang habe ich keinerlei Probleme, vergesse jede Sorge, fürchte die Armut nicht, schreckt der Tod mich nicht, vertiefe ich mich ganz in sie. Und da Dante sagt, dass es keine Wissenschaft gibt, ohne dass man festhält, was man verstanden hat, habe ich meine Ernte aus meinem Gespräch mit ihnen notiert und ein Werkchen (uno opuscolo) verfasst.

Zu Beginn des Principe nennt Machiavelli die Quelle, aus der er seine Einsichten geschöpft hat: die Kenntnis der Taten großer Männer (la cognizione delle actioni delli uomini grandi). Diese Kenntnis wiederum gründe sich auf die eigene langjährige Erfahrung und die kontinuierliche Beschäftigung mit der Antike (una lunga experienza delle cose moderne et una continua lectione delle antiche) (Widmung, 2).

Bei der Lektüre wird deutlich, wie sehr Machtkämpfe und Herrschaftsstrukturen im Italien Machiavellis denen der Antike ähnelten. Das erleichterte Machiavelli die Nutzung der antiken Lehren für die eigene Gegenwart. Immer wieder wird im Principe die

relative Konstanz der Lebensverhältnisse deutlich. Sie ermöglicht es ihm, mit Gewinn auf die antiken Autoren zurückzugreifen, genauso wie auch Cicero zum Teil Beispiele verwendete, die Jahrhunderte alt waren. So erläutert Machiavelli etwa im zehnten Kapitel (Thema: „quomodo omnium principatuum vires perpendi debeant“), wie sich eine Stadt effizient auf eine Belagerung vorbereiten sollte. Seine detaillierten Ratschläge hätten schon in der Antike Gültigkeit gehabt.

Der Principe ist ohne De Officiis nicht verständlich, auch wenn Machiavelli Cicero in seinem Buch nicht nennt. Machiavellis Anspruch, die Dinge so darzustellen, wie sie sind, nicht wie sie idealerweise sein sollten, liest sich wie eine direkte Antwort auf Cicero: „Ma sendo l’intenzione mia stata scrivere cosa que sia utile a chi la intende, mi è parso più conveniente andare drieto alla verità effetuale della cosa che alla immaginazione di epsa.“ (Aber da es meine Absicht gewesen ist, etwas zu schreiben, das für den, der es versteht, nützlich ist, schien es mir angebrachter, der Wahrheit und Wirkung der Sache nachzugehen als der bloß gedanklichen Vorstellung von ihr.) Es geht um den Erhalt des stato (mantenere lo stato, XVIII, 18), der eigenen Herrschaft.

Die zentrale Metaphorik Fuchs – Löwe im achtzehnten Kapitel entstammt unmittelbar De Officiis (I, 41) und wird von Machiavelli umgedeutet. Bei Cicero heißt es:

Cum autem duobus modis, id est aut vi aut fraude, fiat iniuria, fraus quasi vulpeculae, vis leonis videtur; utrumque homine alienissimum, sed fraus odio digna maiore. Totius autem iniustitiae nulla capitalior quam eorum, qui tum, cum maxime fallunt, id agunt, ut viri boni esse videantur.

Wenn aber auf zweierlei Art Unrecht geschieht, nämlich durch Gewalt oder durch Betrug, dann passt der Betrug zum Wesen des Fuchses, die Gewalt zu dem des Löwen. Beides ist des Menschen überhaupt nicht würdig, aber der Betrug ist hassenswerter. Keine von allen Formen des Unrechts ist verderblicher als die derjenigen, die, wenn sie am betrügerischsten handeln, darauf aus sind, als gute Männer zu wirken.

Auch bei Plutarch taucht die Metaphorik Löwe – Fuchs auf, und zwar in derselben Bedeutung wie bei Cicero und Machiavelli. Über Lysander bemerkt er (Lys. 7.4):

τῶν δ᾽ ἀξιούντων μὴ πολεμεῖν μετὰ δόλου τοὺς ἀφ᾽ Ἡρακλέους γεγονότας καταγελᾶν

ἐκέλευεν: ‘ὅπου γὰρ  λεοντῆ μὴ ἐφικνεῖταιπροσραπτέον ἐκεῖ τὴν ἀλωπεκῆν.’

Er forderte dazu auf, diejenigen zu verlachen, die forderten, dass die Abkömmlinge des Herakles nicht mit List Krieg führen sollten: „Wo das Löwenfell nicht hinkommt, soll man einen Flicken aus Fuchsfell dransetzen.“

Plutarch überliefert (Sull. 28.3) auch ein Carbo zugeschriebenes Wort über seinen Gegner Sulla. Er habe mit zwei Tieren in Sulla zu kämpfen, Fuchs und Löwe.

Der Fuchs aber mache ihm mehr zu schaffen:

Κάρβωνά φασιν εἰπεῖν ὡς ἀλώπεκι καὶ λέοντι πολεμῶνἐν τῇ Σύλλα ψυχῇ κατοικοῦσιν ὑπὸ τῆς ἀλώπεκος ἀνιῷτο μᾶλλον.

Machiavelli kehrt sich radikal von Cicero ab, eine für seine zeitgenössischen Leser ungeheure Provokation, denn De Officiis war das “für die Fürstenspiegel wie für republikanischen Traktate des Humanismus gleichermaßen verbindliche Hauptbuch der stoischen Ethik“6. Fuchs und Löwe muss der Herrscher sein, List und Gewalt muss er ohne Zögern einsetzen, wenn die Umstände es erfordern. „To Cicero’s objection that this will lower us to the level of beasts he unrepentantly responds that he is guilty as charged.“ (Auf Ciceros Einwand, der Einsatz von List und Gewalt erniedrige uns zu Tieren, antwortet er ohne jede Reue: schuldig im Sinne der Anklage)7.

Sendo dunque necessitato uno principe sapere bene usare la bestia, debbe di quelle pigliare la volpe et il lione: perché el lione non si difende da’ lacci, la volpe non si difende da’ lupi; bisogna adunque essere volpe a conoscere e lacci, e lione a sbigottire e lupi: coloro che stanno semplicemente in sul lione, non se ne intendono. Non può pertanto uno signore prudente, ne debbe, observare la fede quando tale observanzia gli torni contro e che sono spente le cagioni che la feciono promettere. (XVIII, 7 und 8)

Da nun ein Fürst notwendigerweise dazu in der Lage sein muss, gut von der Bestie Gebrauch zu machen, muss er von den Tieren den Fuchs und den Löwen wählen, denn der Löwe verteidigt sich nicht gegen Schlingen, der Fuchs verteidigt sich nicht gegen Wölfe. Daher muss der Fürst Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen und Wolf, um die Wölfe abzuschrecken; darauf verstehen sich die, die lediglich das Wesen des Löwen besitzen, nicht. Ein weiser Herr kann daher nicht – und soll es auch gar nicht – sein Wort halten, wenn eine solche Treue für ihn nachteilig wäre und die Gründe fortgefallen sind, die ihn zuvor dazu bewegten, sein Versprechen zu geben.

Schärfer könnte der Gegensatz zu Ciceros „fides conservanda“ (De Off. 1, 13, 39) nicht sein. Für Machiavelli ist sonnenklar, welche Seite im Wettstreit des honestum mit dem utile den Kürzen zu ziehen hat. Dem Menschen stünden zwei Arten des Kämpfens zur Verfügung, mit Gesetzen und mit Gewalt. Die erste sehr wahrhaft menschlich, die zweite tierisch – aber häufig notwendig, „pertanto ad uno principe è necessario sapere bene usare la bestia e lo uomo.“ (daher ist es für einen Herrscher nötig, sowohl das Tier als auch den Menschen gut zu nutzen zu verstehen). Das sei den antiken Herrschern in verdeckter Form (copertamente) von den Autoren gezeigt worden, die berichtet hätten, Achilles und viele andere Herrscher habe man dem Kentauren Chiron zur Erziehung anvertraut. (XVIII, 1ff.).

Ma è necessario questa natura saperla bene colorire, et essere gran simulatore e dissimultore: e sono tanto semplici gli uomini, e tanto ubbidiscono alle necessità presenti, che colui che inganna, troverrà sempre chi si lascerà ingannare. (XVIII, 11)

Es ist jedoch unumgänglich, dieses Wesen gut zu maskieren [bene colorire: hübsch einzufärben, wie ein Make-Up] und ein großer Täuscher und Heuchler zu sein. Und die Menschen sind so einfältig und richten sich so sehr nach ihren jeweiligen Bedürfnissen, dass der, der betrügt, stets einen finden wird, der sich auch betrügen lässt.

Auch in seinem anderen großen Werk, den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, kritisiert Machiavelli Ciceros Mangel an politischer Vernunft (I, LII, 12 –  16). Er bezieht sich auf Ciceros mißglückten Versuch, Octavian gegen Marcus Antonius zu instrumentalisieren: Das Ergebnis war, dass sie sich verbündeten. Nicht nur stand Cicero als Verlierer in diesem Spiel um die Macht da, sondern das Ergebnis war „al tutto la distruzione della parte degli Ottimati“ (LII, 15). Boshaft fügt Machiavelli hinzu: Das sei leicht vorherzusehen, ,facile a conietturare’, gewesen (LII, 16).

Nur mit Hilfe der virtus kann ein Herrscher den Launen der fortuna widerstehen und gloria erringen. Bei günstiger Gelegenheit (occasione) gilt es, beherzt zuzugreifen, in

Turbulenzen dagegen heißt es, die Skala der möglichen Gegenmaßnahmen zu überblicken und dann die richtigen in angemessener Dosierung auszuwählen. Was zählt, ist ihr Erfolg, moralische Skrupel sind dem principe virtuoso unbekannt.

Die Herrschertugenden liberalità und clemenza, die Seneca pries, sind auch für Machiavellis Herrscher wertvoll, aber nicht, weil sie intrinsisch gut wären, sondern weil sie nützlich sein können. Machiavelli legt allerdings Wert darauf, darzulegen, dass

sie nicht mit Verschwendung (Kapitel XVI) und Laschheit (Kapitel XVII) verwechselt werden dürfen.8 Wertschätzung, nicht Furcht sollte – so Cicero – die Grundlage von Herrschaft sein (De Officiis, II, 7 und 8); für Machiavelli dagegen ist Furcht das zuverlässigste Mittel der Machtsicherung. Die von Seneca verdammte Grausamkeit (De Clementia, I, 26) sei unvermeidlich. „A virtuoso ruler will be prepared to follow the dictates of the virtues wherever possible, but he will be chiefly distinguished by his skill at judging when it may be more appropriate to ignore them.“9

Dass der Grundansatz des Principe radikal mit primär ethischen oder idealtypischen Darstellungen bricht, bedeutet keineswegs die völlige Abkehr von De Officiis. Vor allem das sechzehnte Kapitel, De Liberalitate et parsimonia, orientiert sich an Ciceros Warnungen vor einem falschen Verständnis von Großzügigkeit im ersten Buch von

De Officiis (I, 14, 42 – 49).

Zwei Typen des Politikers (des Fürsten) nimmt Machiavelli ins Visier ätzender Kritik. Zum einen den Gewaltherrscher, dessen Blutdurst nichts mit rationaler Politik zu tun hat. Zum anderen seinen Gegenpol, den Gutmenschen, im modernen Italienisch den buonista, der sich in die Realpolitik verirrt, meint, dort seinen Idealen leben zu können, jedoch nicht deren Verwirklichung herbeiführt, sondern die Destabilisierung von Wohlstand und Sicherheit des Staates – und am Ende kopfüber in den eigenen Untergang stürzt: perché uno uomo che voglia fare in tutte le parte professione di buono, conviene che ruini infra tanti che non sono buoni“ (XV, 5) (weil ein Mensch, der in allen Bereichen für das Gute eintreten will, sich notwendigerweise selbst ruiniert unter so vielen, die nicht gut sind.)

Die Menschen – so Machiavelli – sind von Natur aus böse („per essere gl’uomini tristi“, XVII, 1110; der Plural ,tristi’ nicht von ,triste’, sondern von ,tristo’). Von dieser These von der Bosheit des Menschen führt eine gerade Linie zu David Humes (1711 – 1776) Forderung, bei der Gründung eines Staatswesens gelte es, als politische Maxime vorauszusetzen, jeder Mensch sei ein Schurke (a knave), der nur aus Eigennutz (private interest) handele.11 Der Fürst, so Machiavelli “zum Entsetzen der ganzen tugendethischen Zunft“12 muss daher „imparare a potere essere non buono“ (lernen, nicht gut sein zu können). (XV, 6)

Nicht ohne Sarkasmus schreibt Machiavelli, die Kaiser Pertinax und Severus Alexander seien „di modesta vita“ gewesen, „amatori della iustizia, inimici della crudeltè, umani, benigni“ – und hätte beide ein gewaltsames Ende erlitten (XIX, 34). Diese drastische Gegenüberstellung Realität – Idealvorstellungen erinnert an ein anderes, ebenso drastisches Wort  – das von keinem anderen als Cicero stammt. Cato, so schreibt er an Atticus, stelle im Senat Anträge, als lebe er ,in Platonis πολιτείᾳ’, nicht ,in Romuli faece’ (2, 1, 8).

In den Jahrhunderten nach seinem Erstdruck ist das Buch Gegenstand heftiger Kontroversen geworden. Das wohl bekannteste (in jedem Fall: vollmundigste) Beispiel für den Angriff auf Buch und Verfasser ist der Anti-Machiavel, den (ausgerechnet) Friedrich II. als Kronprinz verfasste: „Ich übernehme die Vertheidigung der Menschlichkeit wider diesen Unmenschen, der dieselbe vernichten will; ich setze die Vernunft und die Gerechtigkeit dem Betrug und dem Laster entgegen, und ich habe es gewagt meine Betrachtungen über Machiavells Buch von Kapitel zu Kapitel anzustellen, damit der [sic] Gegengift unmittelbar auf die Vergiftung folge.“13

Zwei Denkansätze zur Entlastung Machiavellis lassen sich unterscheiden. Einerseits die These, Machiavelli wolle mit seiner Darstellung den Feudalismus seiner Zeit geißeln, indem er ihn ad absurdum führe, ihm den Spiegel vorhaltend. Wer den Spielregeln der Feudalherren folge, das zeige das Buch, der ende als Strolch.

Dagegen sprechen zunächst Differenziertheit und Praktikabilität der Vorschläge Machiavellis. Außerdem führt er Beispiele aus der ganzen ihm bekannten Geschichte an,

angefangen von Moses, und zwar weil für ihn die Feigheit, Opportunismus, Wankelmut menschliche Grundkonstanten sind. Sie sind es, die das wenn nötig brutale Vorgehen des Fürsten nötig machen. Ein weiteres Gegenargument: Dieser Fürstenspiegel dient ja als Handlungsorientierung für den Adressaten, dem er gewidmet ist.

Zum anderen weisen ,Entlastungszeugen’ darauf hin, dass bei Machiavelli alle Maßnahmen eines guten Fürsten streng funktional und wohldosiert seien, von schierer Brutalität oder ideologisch bedingten Gewaltexzessen sei bei ihm nicht die Rede.

Voi sapete che l’offizio principale di ogni principe è guardarsi dallo essere odiato et disprezzato, fugere in effectu contemptum et odium: qualunque volta e` fa questo bene, conviene che ogni cosa proceda bene.14

Sie wissen, dass die Hauptaufgabe eines Fürsten darin besteht, sich davor zu hüten, gehasst und verachtet zu werden, Verachtung und Hass erfolgreich zu meiden. Wann immer er das gut hinbekommt, gerät auch alles andere notwendigerweise gut.

Im achten Kapitel demonstriert Machiavelli am Beispiel des blutrünstigen Agathokles von Sizilien, wie er sein Zulassen von Gewalt nicht verstanden wissen möchte. Löwe und Fuchs soll der Herrscher, wenn nötig, sein, ein Monstrum nicht.

Anmerkungen:

1    Alle Zitate aus dem Principe entstammen der zweisprachigen Ausgabe De principatibus – Le Prince, hrsg. von Jean-Louis Fournel und Jean-Claude Zancarini, italien. Text besorgt von Giorgio Inglese, Paris, 2000.

2    Alle Zitate aus den Discorsi entstammen  der Ausgabe von Giorgio Inglese, Mailand, 7. Aufl. 2010.

3    Zwei Beispiele: Il Principe – testo integrale in italiano moderno, übers. von Olga Mugnaini, Florenz, 2013, und Il Principe, Sette capitoli scelti, zweisprachige Ausgabe (Classici italiani per stranieri 5), hrsg. von Sabrina Maffei Rom, 1995.

4    Gian Mario Anselmi, Leggere Machiavelli, Bologna 2014, S. 15.

5  Der an Francesco Vettori gerichtete Brief vom 10. Dezember 1513 ist abgedruckt in der oben (vgl. Anm. 1) genannten Textausgabe, S. 526 – S. 535, hier: S. 530.

6   Wolfgang Kersting, Niccolò Machiavelli, München 2006 (1988), S. 147.

7    Quentin Skinner, „Machiavelli and the misunderstanding of princely virtù“ in:

Machiavelli on liberty and conflict, hrsg. von David C. Johnston, Nadia Urbinati und Camila Vergara Chicago, London 2017 (The University of Chicago press) (S. 139 – 160),

S. 148.

8   a.a.O., S. 143.

9   a.a.O., S. 148.

10  Vgl. dazu Christoph Wurm, „Die Römer nicht bewundern, sondern nachahmen“, in Forum Classicum 4/2011, S. 278 – 284, S. 279.

11  David Hume, Essays, Moral, Political and Literary, London 1875, S. 117f.

12  Kersting, a. a. O., S. 98

13 Antimachiavell oder Versuch einer Critik über Nic. Machiavellis Regierungskunst eines Fürsten, Hannover und Leipzig, 1762, S. 213f.

14 Zitat aus dem Brief von Machiavelli an Francesco Vettori vom 20. 12. 1514. Zitiert nach Niccolò Machiavelli, Lettere, hrsg. von Franco Gaeta, Mailand, 1961, S. 363ff., hier: S. 364.

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