Der Gesellschaftsvertrag – Jean-Jacques Rousseau als Leser des Titus Livius

von Christoph Wurm – Der Artikel erschien zuerst in FORVM CLASSICVM. Zeitschrift für die Fächer Latein und Griechisch an Schulen und Universitäten. Heft 4/2018, S. 246-251.

Es bedarf sicherlich der Begründung, die Lektüre eines nicht in der Antike, sondern 1762, und nicht auf Latein, sondern auf Französisch erschienenen Werkes denjenigen Lateinlehrerinnen und Lateinlehrern ans Herz zu legen, die es noch nicht kennen. Diese Begründung soll der vorliegende Aufsatz liefern.

Die Einleitung zu der von mir benutzten Ausgabe von JEAN-JACQUES ROUSSEAUS (1712 – 1778) Du Contrat Social1 beginnt mit einem bemerkenswerten Satz. „Die berühmtesten Bücher sind nicht die bekanntesten. Der ,Gesellschaftsvertrag’ bestätigt diese Regel von Grund auf („vérifie la règle jusqu’ à l’épure.“).“ Einige der Grundlinien dürften jedoch aus dem Geschichts-, Politik- oder Sozialkundeunterricht vertraut sein. 

Das Thema des Contrat Social sind die Quellen und Formen staatlicher Autorität. Der Mensch, frei geboren, ist unfrei, liegt überall in Ketten (I,1,42). Daher gilt es, über das wahre Wesen des Staates und das adäquate Verhältnis zwischen Bürger und Staat nachzudenken. Unsere Pflichten als Staatsbürger, so Rousseau, entspringen einem Gesellschaftsvertrag: Der Mensch, der aus dem Naturzustand heraustritt, begibt sich, ohne Zwang, in den Schutz der Gemeinschaft und wird Nutznießer dieses Zusammenschlusses. 

Die Analyse der Beziehung zwischen Staat und Bürgern gießt Rousseau, wie vor ihm schon THOMAS HOBBES und JOHN LOCKE, in die Erzählung vom Vertragsschluss. Sie ist nicht etwa als Wiedergabe eines historischen Ereignisses gemeint, sondern bloßes rhetorisches Mittel.

In vertraglicher Übereinkunft vereinigen sich die Einzelnen zu einem Staatswesen mit einem gemeinsamen Ich (,moi commun’) und einem gemeinsamen Willen (,volonté générale’) (I,6,53). Dieser Gemeinwille ist kein bloßer Mehrheitswille, sondern hat das Gemeinwohl (,l’utilité publique’, II,3,64) zum Gegenstand, ein echter Gemeinwille ist daher immer gerecht. (II,3,64).

Von den Bürgern setzt Rousseau voraus, dass ihre Einzelwillen qualitativ in dieselbe Richtung gehen und nur Gradunterschiede aufweisen. Keine Parteien mit Partikularinteressen dürften entstehen, dann werde durch eine gegenseitige Aufhebung des Plus und Minus aus der Summe der egoistischen Einzelwillen der Gesamtwille 

(II,3,64). Das Volk ist der Souverän, und seine Souveränität besteht in der Gesetzgebung. Die Exekutivfunktion kann es an eine Regierung delegieren, wobei Rousseau keiner Staatsform den Vorrang gibt. Unserem Begriff der Demokratie entspricht in seinem Sprachgebrauch der der ,Wahlaristokratie’ (,Aristocratie élective’, III,5,104). Rousseau akzeptiert die repräsentative Demokratie, allerdings soll das Volk sich nicht nach Wahl der Regierung zurückziehen, sondern sowohl regelmäßig als auch bei besonderem Bedarf zu Versammlungen (,assemblées’) zusammenkommen (III,13,126).

,Demokratie’ dagegen ist bei Rousseau direkte Demokratie. Ein System, in dem jeder Bürger über jede öffentliche Frage mitentscheidet, ist, so Rousseau, allerdings in der Praxis außerhalb sehr kleiner Staaten schwer zu realisieren. „Gäbe es ein Volk von Göttern, würde es sich demokratisch regieren; für Menschen ist eine so vollkommene Regierung nichts.“ (III,4,103).

Ein Weiser, so Rousseau, „ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Mann im Staat“ (II,7,76), solle dem Gemeinwesen Gesetze geben. ‚Geben‘ bedeutet hier allerdings ,vorschlagen’, denn nur der Souverän kann sie beschließen; weder gewaltsam, noch durch Appelle an die Vernunft könnte der Gesetzgeber sie dem Souverän aufdrängen.2 Der Gesetzgeber selber ist neutral und übt kein Amt aus: „Als Lykurg seinem Vaterland Gesetze gab, legte er als erstes die Königswürde nieder.“ Diese Gesetze sollten nicht den Anspruch universaler Gültigkeit erheben, sondern den jeweiligen Völkern und ihrer jeweiligen Lage angepasst sein. Neben die Gesetze tritt ein Zensor zur Überwachung der Sitten. Auch er ist nicht autark: „Das Amt des Zensors ist keineswegs der Schiedsrichter der Meinung des Volkes, sondern ihr Verkünder, und sobald er von ihr abweicht, sind seine Entscheidungen null und nichtig.“ (IV,7,163).

Wer nun die Kernaussagen des Buches näher studiert, wird bemerken, aus welcher Quelle sie stammen:

„Si donc on écarte du pacte social ce qui n’est pas de son essence, on trouvera qu’il se réduit aux termes suivants. Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale; et nous recevons en corps chaque membre comme partie indivisible du tout. (I,6,53)

„Wenn man daher vom Gesellschaftsvertrag das wegnimmt, was nicht zu seinem Wesen gehört, dann wird man finden, dass er auf folgende Regeln hinausläuft: Jeder von uns vergemeinschaftet seine Person und seine ganze Macht (Kraft), indem er sie unter die oberste Lenkung durch den Allgemeinen Willen stellt; und wir nehmen jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen in den Körper auf.

(Kursivdruck im Zitat)

Es ist die Fabel vom ,Bauch und den Gliedern’ (Livius, ab urbe cond. II,32,9ff.), die Menenius Agrippa den Plebejern anlässlich ihrer ,secessio’ erzählte, um sie zur Rückkehr nach Rom zu bewegen, zur Verteidigung der ,concordia civium’ (a.u.c. II,32,7).

,Corps’/,Corpus’ und ,membre’/,membrum’, das sind dieselben Vokabeln, die Livius ihm in der Rede über die ,corporis seditio’ in den Mund legt. Deutsche Übersetzungen der Stelle verschleiern häufig diesen Bezug zu der Fabel, indem sie ,corps’ mit ,Körperschaft’ oder ,Gemeinschaft’ und ,membre’ mit ,Mitglied’ wiedergeben. Dass Rousseau ,corps’ – als Metapher – im konkreten Sinne von ,Körper’ verwendet, geht eindeutig aus der Parallelisierung des politischen (,corps politique’) und des menschlichen Körpers (,corps de l’homme’) in III,11,123 hervor. 

So lässt Livius Menenius Agrippa vor die Plebejer treten: „Is intromissus in castra prisco illo dicendi et horrido modo nihil aliud quam hoc narrasse fertur: tempore, quo in homine non, ut nunc, omnia in unum consentiant, sed singulis membris suum cuique consilium, suus sermo fuerit, indignatas reliquas partes sua cura, sua labore ac ministerio ventri omnia quaeri, ventrem in medio quietum nihil aliud quam datis voluptatibus frui.“ (a.u.c. II,32,9f.)

Wie Rousseau die Entwicklung vom Urzustand des Menschen in natürlicher Freiheit bis zum Abschluss des Gesellschaftsvertrags ,erzählt’ (I,6,51ff.), so gießt auch (der livianische) Menenius den Gegensatz zwischen uneiniger und geeinter Bürgerschaft in eine narrative Form, nämlich diese alte Fabel des Äsop. 

Die anderen Körperteile konspirieren gegen den Bauch, den sie zu Unrecht des Schmarotzertums bezichtigen, verlieren dabei aber das Wohl des Ganzen aus dem Blick. Die Folge, das Siechen des ganzen Körpers, lehrt sie dann schmerzhaft die lebensnotwendige Bedeutung der Eintracht. 

Indem Menenius ,discordia civium’ und ,concordia civium’ gegenüberstellt, wirbt er für ein gemeinsam getragenes Staatswesen, und genau deshalb weicht die Pointe seiner Version von der des Aesop, und auch der Jean de Lafontaines, ab. Denn beide Autoren legitimieren das Königtum, Menenius dagegen, ganz im Sinne Rousseaus, die res publica: hier ist keine Rede davon, gemeinsam einem Potentaten zuzuarbeiten, und das

Ergebnis ist die Schaffung des Volkstribunats.

Das ,omnes in unum consentire’ ist nichts anderes als die Rousseau’sche ,volonté générale’. Der eine Mensch (le moi commun), der eine Körper (le corps politique) ist der Staat, die ,singula membra’ (=,chaque membre’) sind die nun durch ein untrennbares (,indivisible’) Band verbundenen Bürger (I,6,53). Der Streit, das σχίσμα ἐν τῷ σώματι  (Paulus 1 Kor. 12,25), ist der Eintracht gewichen. Die Antithese zwischen der bloßen Summe der egoistischen Einzelwillen, der ,volonté de tous’, und dem Gemeinwillen, der ,volonté générale’, könnte kaum präziser veranschaulicht werden als durch diese Fabel. 

In einem anderen Werk3 hat Rousseau die Allegorie liebevoll ausgefeilt und im Detail gedeutet: 

„Die souveräne Macht stellt den Kopf dar; die Gesetze und die Sitten sind das Hirn, Ursprung der Nerven und Sitz der Erkenntnis, des Willens und der Sinne; die Richter und Staatsbeamten sind seine Organe; der Handel, das Gewerbe und die Landwirtschaft sind der Mund und der Magen, die für den gemeinsamen Lebensunterhalt sorgen; die öffentlichen Finanzen sind das Blut, das eine weise Ökonomie durch den ganzen Körper sendet, um Nahrung und Lebenskraft zu verteilen und so die Funktionen des Herzens ausübt; die Staatsbürger sind der Körper und die Glieder, die dafür sorgen, dass die Maschine sich bewegt, am Leben bleibt und arbeitet, und die man an keinem Teil verletzen kann, ohne dass sich dadurch das Schmerzempfinden sofort dem Gehirn mitteilte.“

(Kursivdruck im Zitat)

Das Motto, das Rousseau dem Contrat Social vorangestellt hat, „foederis aequas dicamus leges“, entstammt der Aeneis (IX, 321 f.). Es sind Worte des Latinus, der sein Volk zum Bündnis mit den Teukrern auffordert. Das Zitat bezieht Rousseau auf den Gesellschaftsvertrag, der alle unter dieselben Gesetze stellt, und das adhortative ,dicamus’ sprechen die Bürger im Moment des Vertragsabschlusses.

Das Rom der frühen Republik, dessen Geist uns Livius mit der Fabel des Menenius Agrippa vermitteln will, ist die Blaupause für Rousseaus Konzeption des idealen Staates, so wie schon der von Rousseau bewunderte MACHIAVELLI sich auf Livius berief und ihm ein eigenes Werk widmete, die Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio4; 

Rousseau war mit dieser Livius-Interpretation vertraut.5

Die Frage, wie zuverlässig die livianischen Berichte von den Anfängen Roms im einzelnen waren, war für beide Autoren dabei von geringem Interesse; Rousseau wirft sie auf (IV,4,146), geht ihr aber dann nicht weiter nach, und zwar zu Recht: der Contrat Social ist kein Geschichtswerk. Rom ist der wichtigste Bezugspunkt in diesem Werk. Zum Vergleich: Frankreich etwa kommt in dem ganzen Buch kaum vor. Rousseau weiß, dass Verfassung und Wirklichkeit Roms zwei verschiedene Dinge waren. Aber Rom, das nach der Vertreibung der Tarquinier wie ein Phönix wiederauferstand (II,8,79f.), kam dem Ideal am nächsten. 

Kein Staat existiere ewig. Der ,politische Körper’ sei sterblich wie der menschliche: „Wenn Sparta und Rom untergingen, welcher Staat dürfte da hoffen, ewig zu dauern? (…) Auch der bestverfasste Staat wird enden, aber später als ein anderer, wenn nicht ein unvorhergesehenes Unglück seinen Untergang vorzeitig herbeiführt.“ (III,11,123).

Über die römische virtus schreibt er: „So haben einst die Hebräer und in jüngerer Vergangenheit die Araber als Hauptanliegen die Religion gesehen, die Athener die Literatur, Karthago und Tiryns den Handel, Rhodos die Seefahrt, Sparta den Krieg und Rom die virtus (,la vertu’).“ (II,11,88) Man sieht: Auch hier hat Rousseau seinen Livius gut gelesen! Er nennt Sparta und Rom superlativisch die ,am besten verfassten Regierungen’ (III,11,123), die Römer das ,freieste und mächtigste Volk der Erde’ (IV,4,147), in einem anderen, der Republik Genf gewidmeten Werk das ,Vorbild aller freien Völker’6.

Den Römern sei eine Vorliebe für das Landleben von Romulus, dem weisen Gründer, ,le sage institueur’, hinterlassen worden, „der die ländliche und militärische Arbeit mit der Freiheit verband und die Künste, das Handwerk, die Intrigen, den Reichtum und die Sklaverei sozusagen in die Stadt verwies.“ (IV,4,148). Servius Tullius habe das römische Volk hervorragend gegliedert. Seine Gliederung der tribus habe eine klare Trennung

zwischen Stadt und Land bewirkt. Alles, was in Rom Rang und Namen hatte, habe auf dem Land, fernab vom Treiben der Stadt, gewohnt und den Boden bestellt. Man habe sich deshalb daran gewöhnt, die Stützen der Republik (,les soutiens de la République’, IV,4,148) nur dort zu suchen. Das Land sei die Pflanzstätte (,la pépinière’, IV,4,149) der Besten gewesen. Abwertung des urbanen Lebens und der Zivilisation, Lobpreis des einfachen, ursprünglichen Leben auf dem Lande: Hier wird deutlich, wie pessimistisch Rousseau die Geschichte sah. Er wandte sich damit gegen VOLTAIRE und die Enzyklopädisten, die vom materiellen auch den moralischen Fortschritt erwarteten. 

Rousseau ist für seine Ablehnung der Sklaverei gelobt worden, seine Staatsidee aber wurde als tendenziell gefährlich kritisiert, vor allem, weil er ein energisches Vorgehen gegen jeden fordert, der sich der ,volonté générale’ widersetzt. „Wer auch immer der

,volonté générale’ den Gehorsam verweigert, soll vom ganzen ,Körper’ („par tout le corps“) dazu gezwungen werden, was nichts anderes heißt, als dass man ihn dazu zwingen wird, frei zu sein: „qu’on le forcera d’être libre“ (I,VII,56). Dieses Paradoxon bedeutet: ihn dazu zwingen, der ,volonté générale’ entsprechend zu handeln – denn eine andere, ,natürliche’, Freiheit gibt es nicht mehr.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass er den Bereich der gesellschaftlichen Bündnisse und Parteien und damit jede gesellschaftliche Diskussion für schädlich hält. (Die Rolle der modernen Medien konnte Rousseau nicht vorhersehen.) Wie bildet sich der Bürger so eine Meinung, wie kommt die ,volonté générale’ genau zustande? Er liefert „keine Konstruktionsregeln für die Umwandlung der bestehenden Verhältnisse oder die Einrichtung der Republik“7. 

Und doch ist sein Anliegen, die Schaffung einer Bürgergesellschaft, genuin demokratisch. So beschwört er in einer der schönsten Passagen des Werks (III, 14,127f.) die Freiheit des ,civis Romanus’. Jede Regierungsgewalt ende, sobald das Volk selber, also der wahre Souverän, sich versammle. Wo der Repräsentierte ist, gibt es keine Repräsentanten mehr: „parce qu’ où se trouve le Représenté, il n’y a plus de Représentant“. Ihre Bedeutung verblasst angesichts der Majestät des δῆμος. Die Konsuln seien bei den Comitien nur noch die Vorsitzenden des Volkes gewesen (,les Présidents du Peuple’), die Tribune nichts als Sprecher, und der Senat überhaupt nichts („n’était rien du tout“). Wenn es Störungen der Comitien gegeben habe, dann deshalb, weil dem Souverän nicht der ihm zustehende Respekt gezollt wurde. Die Relation zwischen Wählern und Mandatsträgern ist hier in bestem demokratischen Geist veranschaulicht, so wie er sich heute noch in England widerspiegelt, wenn nach verlorener Wahl am nächsten Tag der Möbelwagen in Downing Street vorfährt. 

Vielleicht täte es uns Deutschen, unsern Staatslenkern allen voran, gut, Rousseaus erfrischende Worte als Mahnung zu lesen. Etwa gegen die üblich gewordene Wählerschelte, die konstante Weigerung belasteter Politiker, zurückzutreten, oder die schon seit Jahren ad nauseam üblichen volkspädagogischen Imperative des Typs „Politiker(in) X fordert die Deutschen zu mehr Y auf.“ Auch werfen seine Ausführungen zum corps politique, so wie die Fabel des Menenius, die Frage nach gerechter Verteilung von Pflichten und Rechten auf. Was genau beinhaltet etwa die in den letzten Jahren propagierte „soziale Gerechtigkeit“? 

Rousseau beruft sich stolz auf seine Geburt in einer ,freien Stadt’, Genf (I, Vorb.,41). Er ist es, der als erster eindrucksvoll den selbstbewussten Staatsbürger beschrieben hat, den citoyen  – im Unterschied zum Besitzbürger, dem bourgeois –, der sich als Teil eines freiheitlichen Gemeinwesens versteht und bereit ist, seinen Teil beizutragen: ein Ethos, das in jeder Demokratie Not tut, auch hier und heute. 

Rousseaus Rückgriff auf die Ideale der römischen res publica zeigt, dass sie bis in die Neuzeit wirkmächtig waren, sogar Sprengkraft besaßen, da sie ins gedankliche Waffenarsenal der Französischen Revolution eingingen (die Rousseau selber nicht mehr erlebte). SAINT-JUST forderte, die Revolutionäre müssten Römer sein, „que les hommes révolutionnaires soient des Romains“.8 In den Münzprägungen9, der Literatur und der bildenden Kunst jener Jahre ist Rom allgegenwärtig. Gespräche über Romulus, Tarquinius, Lucretia – die Heldin eines Theaterstücks Rousseaus –, Brutus wurden mit einer Leidenschaft geführt, als wären es Zeitgenossen.10

„Ich finde, wir sollten uns an die Antike anlehnen und die dazwischenliegenden Jahrhunderte vergessen. Die Neuzeit wird unweigerlich vom Erbe des Plutarch und des Livius geprägt sein!“ Diese Worte legt HENRI TROYAT in seinem Roman über 

JACQUES-LOUIS DAVID dem Protagonisten in den Mund.11 

Der Einfluss des Livius ist gar nicht zu überschätzen, auch im Bereich der Kunst. So stellte 1785 Jacques-Louis David in Paris ein Gemälde aus, das wie der Contrat Social ein Bündnis für das Gemeinwohl darstellt, den Schwur der Horatier. Das Bild zeigt die Drillinge vor ihrem Kampf gegen die Curiatier im Konflikt zwischen Rom und Alba (vgl. Livius, a.u.c. I, 24-26). Die Schilderung des Livius, so wie das Gemälde Davids, „das ihre Lehre wie in einem Brennglas auffing, enthielt im Grunde alles, was wenig später die Revolutionäre auf der Suche nach dem neuen Bürger in der Antike fanden: Das hohe Lied vom patriotischen, brüderlichen und zum Märtyrertum bereiten citoyen, der entschlossen war, der Zukunft eines republikanischen Frankreichs alles zu opfern. So klang bereits der am 20. Juni 1789 geleistete Schwur der Nationalversammlung, sich nicht zu trennen, bis die Verfassung des Königsreichs festgelegt sei, wie ein Echo des Schwurs der Horatier.“12 

Der Contrat Social lehrt: Die Erzählungen des Livius, an der Textoberfläche von trügerischer Schlichtheit, bieten reichlich Stoff für Nachdenken und Diskussion. Exemplarisch werfen sie relevante Fragen auf: nach dem Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat, nach seinen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten, nach dem Verhältnis „ihr da oben – wir da unten“, nach wahrer Demokratie, nach der besten Staatsform. Es wäre begrüßenswert, wenn das im Lateinunterricht an Beispielen deutlich würde. Manche dieser Texte sind ja schon Gegenstand des Anfangsunterrichts.

Anmerkungen:

1     Alle Zitate aus dem Contrat Social entstammen der Ausgabe von Bernard Bernardi, Paris 2012 (2001). Die Zahlen in Klammern beziehen sich jeweils auf eins der vier ,Bücher’, dann

folgt das Kapitel, dann die Seite. Das Zitat S. 5.

2     Vgl. Bernard Gagnebin, „Die Rolle des Gesetzgebers“ in Reinhard Brandt, Karlfriedrich Herb (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Klassiker Auslegen Bd. 20, Berlin, 2. Überarb. Aufl. 2012., S. 137 – 152; hier: S. 141.

3     Discours sur l’économie politique (1755), in Œuvres complètes, Edition de la Pléiade, Paris 1964, hrsg. von Bernard Gagnebin et al., Bd. III, S. 44.

4     Vgl. meinen Aufsatz „Die Römer nicht bewundern, sondern nachahmen – Machiavelli als Leser des Titus Livius“ in Forum Classicum, 4/2011, S. 278 – S. 284.

5    Vgl. Valentina Arena, The Roman Republic of Jean-Jacques Rousseau, History of Political Thought, 37 (1), S. 8 – 11. Hier zitiert nach discovery.ucl.ac.uk., aufgerufen am 21. 7. 2018, S. 7.

6   Im Discours sur l’origine et les fondaments de l’inégalité parmi les hommes (1755). Zitiert

nach Discorso sull’origine della disuguaglianza (zweisprachig franz. – italien.), Mailand 2017,

S. 60.

7   Karlfriedrich Herb, „Verweigerte Moderne. Das Problem der Repräsentation“ in

Reinhard Brandt, Karlfriedrich Herb (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, siehe oben, Anm. 2; S. 169 – 190; hier: S. 182.

8   Zitat nach Werner Dahlheim, Die Antike, Paderborn; München; Wien; Zürich 1994, S. 

694.

9    Vgl. meinen Aufsatz “Die neuen französischen Herkulesmünzen“ in Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes, Landesverband NRW, Heft 3/2014, S. 4f.

10   Vgl. etwa Karl Christ, Caesar. Annäherungen an einen Diktator, München 1994, S. 121f.

zu Rousseaus leidenschaftlichem Caesarhass und seiner Idealisierung Catos und Brutus’.

11  Der Schwur der Horatier, München 1993; dt. Ausg. von La femme de David (1990), S. 13.

12  Dahlheim, a.a.O., S. 691.

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