Ein Platz an der Sonne? – Die Civitas solis des Tommaso Campanella

von Christoph Wurm – Forum Classicum 01/2013

Dass TOMMASO CAMPANELLAS (1568 – 1639) Civitas solis (1) meist in einem Atemzug mit THOMAS MORES (1478 – 1535) Utopia (2) genannt und auch selbst als Utopie bezeichnet wird, ist problematisch, denn CAMPANELLA wollte keine Doublette der Utopia schreiben, sondern sich von ihr abgrenzen.

Dazu kommt, dass im allgemeinen Sprachgebrauch der Begriff Utopie den Aspekt des nicht Realisierbaren, Weltfremden einschließt. CAMPANELLA aber war kein bloßer Polittheoretiker, sondern nahm als junger Mann, an der Wende zum Jahre 1600, als einer der Rädelsführer an einem Volksaufstand gegen die spanische Herrschaft in Kalabrien teil. Seine Civitas solis ist keineswegs als bloßes Gedankenspiel gedacht.

Der kalabrische Schustersohn,  Philosoph und Dominikaner verbrachte, der Ketzerei und der Verschwörung gegen Spanien bezichtigt, einen großen Teil seines Lebens (zuletzt 27 Jahre bis 1629) im Gefängnis, wo er über vierzig zum Teil verlorene philosophische und politische Schriften verfasste. Den Rest seines Lebens verlebte er in Paris.

Während MORES Werk zunächst auf Latein erschien (1516) und erst viel später (1551/1556) von RALPH ROBINSON (1520 – 1577) in kernig altertümliches Englisch übertragen wurde, verfasste CAMPANELLA seine Civitas solis zunächst auf Italienisch und übertrug sie später selber ins Lateinische.

Er schrieb die italienische Urversion 1602; danach zirkulierte das Buch in Manuskriptform. Auf Gesuch eines deutschen Bewunderers, der CAMPANELLA im Gefängnis in Neapel besuchte, TOBIAS ADAMI, übersetzte der Autor sein Buch ins Lateinische (1613); ADAMI war der Überzeugung, auf Latein werde das Buch eine größere Leserschaft erreichen. Zehn Jahre später erschien das wie ein Kassiber aus dem Kerker geschmuggelte Werk zum ersten Mal in Frankfurt im Druck. 1637 wurde es in Paris unter der Aufsicht des Verfassers nachgedruckt, als kleiner Teil einer umfangreichen Philosophia realis.

MORE attackiert in seiner Utopia zunächst gesellschaftliche Mißstände Englands. In einem zweiten Teil schildert dann der Portugiese Raphael Hythlodeus, auf einer seiner Seereisen mit AMERIGO VESPUCCI auf die fiktive Insel Utopia verschlagen, in Antwerpen seinen Gesprächspartnern – MORE und seinem Freund, dem Stadtschreiber  PETRUS AEGIDIUS – begeistert das auf der Insel bestehende Staatswesen.

MORE kombiniert also die traditionelle Form des philosophischen Dialogs mit der des im XVI. Jahrhundert beliebten Reiseberichtes aus der Neuen Welt. In diesen Berichten wurden den europäischen Lesern Verblüffendes über die Sitten anderer Völker mitgeteilt, etwa von dem in der Utopia erwähnten AMERIGO VESPUCCI. In einem Artikel für diese Zeitschrift weist JOACHIM KLOWSKI auf  Parallelen zwischen VESPUCCIS  Berichten über den Mundus Novus und MORES Utopia hin (3). Aber auch in umgekehrter Richtung verschwammen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit: Noch zu Lebzeiten MORES versuchten spanische Missionare in Mexiko, Gemeinschaften nach dem Vorbild der Utopia zu organisieren (4).

Utopia ist eine demokratische Föderation unter der Leitung eines gewählten Herrschers, die in 54 Stadtstaaten gegliedert ist. Es herrscht völlige religiöse Toleranz. Den Frauen wird volle Gleichstellung mit den Männern gewährt, sie werden auch zum Kriegsdienst herangezogen. Privateigentum gibt es nicht.

Jedem Bürger steht der Genuss der Erträge der gemeinsamen Arbeit und der wissenschaftlichen Erkenntnisse offen. Die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen, die einförmige Kleidung zeigt keine ständischen Unterschiede. Die Ehe trägt streng monogamischen Charakter, im Gegensatz zu PLATONS Staat ist die Familie Keimzelle der Gesellschaft; Ehebruch wird mit Zwangsarbeit bestraft, bei Wiederholung mit dem Tode.

Der Staat hat nach dem Plan des Gesetzgebers Utopos die Aufgabe der Güterverteilung. Es gibt weder kaufmännischen Zwischenhandel noch Geld. Das Gold wird so verachtet, dass man dort Nachttöpfe, „matellas passim ac sordidissima quaeque vasa“, daraus herstellt (S. 388). Die Bestandsstatistik der staatlichen Warenlager sorgt für einen geregelten Ausgleich unter den 54 Bundesstaaten. Überschuss verkauft die Staatsführung in Nachbarländer. Der Verdienst wird zurückgelegt, damit – ein keineswegs ‚utopischer’, sondern höchst pragmatischer Grundsatz – die Utopier im Kriegsfall zunächst Söldner für sich kämpfen lassen können; die Bürger greifen nur im Notfall selbst zur Waffe.

Das Fehlen sozialer Unterschiede bewirkt allgemeine Eintracht. „Similitude causeth concorde“, so lautet die Randnotiz zu dieser Stelle in der Übersetzung ROBINSONS (S. 83).

Der Titel Utopia ist ein typisch englisches Wortspiel, ein pun, mit den beiden im Englischen gleich ausgesprochenen Wörtern οὐ und εὖ: Nicht-Land (in seinen Briefen benutzt MORE auch die lateinische Übersetzung Nusquama) und Gut-Land, Nowhere Land und Good Land.

Die Utopia ist der erste Niederschlag der Staatsauffassung PLATONS innerhalb des englischen Humanismus, vor allen Dingen in der ausgeprägten Wertlehre. Der irdische Staat wird restlos bejaht, und in ihm soll die Idee der Gerechtigkeit verwirklicht werden, die PLATON (im vierten Buch der Politeia) als die wichtigste der vier Kardinaltugenden gilt. Während jedoch sein Interesse fast ausschließlich Verfassungsfragen gilt, räumt MORE der Erörterung konkreter sozialer und wirtschaftlicher Probleme breiten Raum ein (5).

Während MORE seine Darstellung Utopias nicht nur in einen ausführlich gestalteten erzählerischen Rahmen einfügt, sondern zunächst einen echten Dialog zwischen den Gesprächsteilnehmern seinen Verlauf nehmen lässt, entkleidet CAMPANELLA seine Darstellung der Civitas solis dieser Komponenten. Alle satirische Elemente, mit denen der LUKIAN-Übersetzer MORE sein Werk würzt, fehlen bei CAMPANELLA.

Der Sprecher, ein genuesischer Admiral (im italienischen Original einer der Seeleute des Kolumbus), stellt den Idealstaat großenteils in monologischer Form vor, selten von kurzen Einwürfen seines Gesprächspartners, des Großmeisters des Hospitaliterordens (im Original ist er ein Ritter desselben Ordens), unterbrochen.

Und doch ist diese Kommunikationssituation nicht bloße Dekoration. Dass der Autor nicht unmittelbar spricht, sondern einen zurückgekehrten Seemann, einen Mann der Tat, keinen Philosophen, über Land und Leute berichten lässt,  ermöglicht es dem Verfasser, sich an dem einen oder anderen heiklen, die Sittenlehre berührenden Punkt zurückzuziehen, um nicht für die entsprechenden Regelungen seines Idealstaats unmittelbar einstehen zu müssen. Wenn der Hospitaliter gelegentliche Einwände gegen die Lebensweise der ‚Solarier’ vorbringt, betont daher der Seemann: „Ego disputationi inservire non novi“ (S. 137)  oder „Isthaec ipse vix novi.“ (S. 147).

CAMPANELLA knüpft unmittelbar an MORES Utopia an: Er situiert seine Civitas solis auf Taprobana, das Land, in das auch Hythlodeus auf seinen Irrfahrten verschlagen wurde  (6). Sonnenstadt heißt sie nach dem Kult der Sonne, die nicht um ihrer selbst willen verehrt wird, sondern als Bild Gottes.

In beiden Gesellschaften gibt es kein Privateigentum, ist materieller Besitz bedeutungslos. Beide Systeme fordern von allen Bürgern, dass sie arbeiten, jede Faulenzerei wird abgelehnt. Sie  versorgen ihre Bürger mit einem Höchstmaß an Sozialleistungen und medizinischer Betreuung. In beiden Gesellschaften steht die Gleichheit der Bürger über allem anderen.

Die Civitas solis ist im Gegensatz zu Utopia ein bis ins kleinste Detail durchreglementierter totalitärer Staat. Die Ordnung beruht auf einer strengen Gliederung der Bürger nach dem Grade ihres Wissens; der Staat wird geleitet von dem priesterlichen Herrscher Sol und seinen drei Ministern: Macht, Weisheit und Liebe. Alles, selbst die Fortpflanzung der Solarier, ist staatlich geregelt.

Drei Felder sind es vor allem, auf denen CAMPANELLAS Sonnenstadt sich von Utopia unterscheidet: die Ehe-und Bevölkerungspolitik, die Erziehung und die Technik.

Während MORES Ehepolitik traditionell ist: Monogamie und gesetzlicher Schutz der Ehe, plädiert CAMPANELLA in der Nachfolge von PLATON für die Abschaffung der Familie und den Allgemeinbesitz an Frauen sowie für eine an eugenischen Prinzipien orientierte Selektion zeugungsberechtigter Paare.

Wie bisher nur die Nutztiere, so soll nach seiner Auffassung künftig auch der gemeinnützige Mensch gezüchtet werden. Dieser Gedanke, den CAMPANELLA aus PLATOS Politeia übernommen hat, ist lange Zeit nur belächelt worden. Vor dem Hintergrund von Vererbungslehre, Gentechnologie, Befruchtungstechniken und dem sukzessiven Wegfall aller Tabus auf diesem Gebiet besteht dazu mittlerweile kein Anlaß mehr. (7)

Wie MORE fordert CAMPANELLA die Schulpflicht für alle, liefert jedoch ein weitaus detailliertes Bild des Unterrichts. Mit seinen Vorstellungen sollte er Einfluss auf COMENIUS ausüben (8). Die Kinder der Solarier lernen durch Anschauung, nämlich anhand von bildlichen Darstellungen, die an den sieben Stadtmauern angebracht sind. Die Erziehung, die Jungen und Mädchen gleichermaßen zuteil wird, ist möglichst umfassend. Sie soll praktische Anschauung in den Handwerken und Naturwissenschaften umfassen.

Bilder zur Instruktion, nicht zu Werbezwecken, an den Stadtmauern anzubringen erschien manchem auch in späterer Zeit als erwägenswert:

Im Frühjahr 1918 unterbreitet Lenin dem Volkskommissar für Volksbildung, Lunatscharski, einen Gedanken, der ihn schon lange bewegt: ,Wie Sie wissen, spricht Campanella in seinem Sonnenstaat davon, daß auf die Mauern seiner phantastischen Stadt Fresken gemalt werden zu dem Zweck, der Jugend als naturwissenschaftliches und historisches Anschauungsmaterial zu dienen, das staatsbürgerliche Bewußtsein zu wecken – kurz: zur Bildung und Erziehung der neuen Generation beizutragen. Ich glaube, daß das keineswegs naiv ist und gerade jetzt von uns  mit gewissen Modifizierungen übernommen und realisiert werden sollte (…). Ich möchte das, was mir vorschwebt als Monumentalpropaganda bezeichnen.’ (9)

Handwerk und Naturwissenschaften werden von den Solariern hochgeschätzt: Wie ein roter Faden zieht sich durch das Werk die Bewunderung CAMPANELLAS für Naturwissenschaft und Technik. CAMPANELLA  unterstreicht den hohen Nutzen der Technik, die eine bessere Nutzung der Äcker, eine schnellere und bequemere Seefahrt ermöglicht und Überlegenheit der Waffentechnologie gewährleistet

MORES Utopia stellt die Realität Englands kritisch dar, CAMPANELLA redet fast nur von seiner Idealgesellschaft. Insofern entspricht paradoxerweise eher CAMPANELLAS Werk als die Utopia der Alltagsverwendung des Begriff der ‚Utopie’.

MORE stellt seine eigene, pragmatische Haltung der des theoretisierenden Philosophen gegenüber. Ein Mann, der jeden Tag als hoher Verwaltungsbeamter – er war zur Zeit der Abfassung der Utopia undersheriff von London – reale Entscheidungen trifft, tritt der Lebensführung des ‚freischaffenden’ Philosophen Hythlodeus entgegen, der jede konkrete politische Verantwortung ablehnt.

In der Vorrede (S. 345 f.) weist MORE auf seine hohe Arbeitsbelastung hin, die ihm für die Abfassung der Utopia kaum Zeit gelassen habe. Er hält dem Hythlodeus entgegen, man dürfe das Staatsschiff im Sturm nicht im Stich lassen, ein deutliches Echo derselben Metaphorik – in vergleichbarem Bedeutungszusammenhang – bei CICERO (10). MORE:

Si radicitus eulli non possint opiniones prauae, nec receptis vsu viciis mederi queas, ex animi tui sententia, non ideo tamen deserenda respublica est, & in tempestate nauis destituenda, quoniam ventos inhibere non possis, at neque insuetus & insolens sermo incalcandus, quem scias apud diuersa persuasos pondus non habiturum: sed obliquo ductu conandum est atque adnitendum tibi, vti pro tua virili omnia tractes commode, & quod in bonum nequis vertere, efficias saltem, vt sit quam minime malum.“ (S. 369)

Sein Einstehen für die eigenen Überzeugungen bis zum Tode, der Hinrichtung  auf Befehl HEINRICHS VIII. 1535, brachte MORE in ganze Europa Bewunderung ein, sogar von protestantischer Seite.  (11)

CAMPANELLA radikalisiert die Vorstellungen, die Raphael Hythlodeus vertritt:

Er reduziert die Arbeitszeit noch weiter, von sechs auf vier Stunden, und weitet die Gütergemeinschaft auch auf die Ehefrauen aus.

Wie bei MORE gewährt die kurze Arbeitszeit den Einwohner genug Zeit zu Muße und zu geistiger Beschäftigung. CAMPANELLAS Schilderung legt den Vergleich mit KARL MARX (1818 – 1838) nahe. Nachdem CAMPANELLA den Müßiggang in Neapel angeprangert hat, fährt er fort (S. 147):

Ast in Civitate solis dum cunctis distribuuntur ministeria, et opera; vix quatuor in die horas singulis laborare contingit, reliquum licet tempus consumatur in addiscendo iucunde, disputando, legendo, narrando, scribendo, deambulando, exercendo ingenium, et corpus et cum gaudio. Nec permittitur ludus illis, qui fit sedendo, neque talorum, neque alearum, neque scacchorum, aut similium, &c. Ludunt pila, folliculo, trocho, lucta, iaculatione pali, sagittae, archibusio, &c. 

Ein Echo dieser Worte findet sich bei KARL MARX (1818 – 1883). Als 28-Jähriger

prophezeit er in seiner Deutschen Ideologie, die kommunistische Gesellschaft werde es jedem einzelnen ermöglichen „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben , nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ (12)

CAMPANELLA beschreibt – im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Schilderung des Tagesablaufs der Solarier –  die grundlegende Prämisse des Kommunismus (S. 147):

Afferunt insuper paupertatem asperam efficere homines, viles, astutos, dolosos, fures, insidiosos, exules, mendaces, testes falsos, &c. Divitias vero insolentes, superbos, ignorantes, proditores, praesumentes quod nesciunt, fallaces, iactabundos, sine affectione, contumeliosos, &c. At communitatem efficere omnes simul divites quia omnia habent, pauperes, quoniam nihil possident; ac simul rebus non serviunt, sed res ipsis, et in hoc valde laudant religiosos Christianitatis: maxime autem vitam apostolorum.

Nicht nur außenpolitisch, sondern auch im Inneren werden Spione eingesetzt, deren Aufgabe der Schutz der ‚Staatssicherheit’ ist: „sunt exploratores [im italienischen Text: „son spie“, S. 66] rempubl. admonentes quaecunque audierint“ (S.148) und denen keine Aktivitäten der Bürger (der Insassen?) der Sonnenstadt entgehen.

MORE lässt Hythlodeus scharf die Zustände im England seiner Zeit kritisieren, vor allem die Verhängung zu harter Strafen, die ungleiche Verteilung von Arbeit und Reichtum sowie die Enteignung von Farmland zur Schafszucht.

Die von ihm porträtierte (S.376) Stadt Amaurotum (nach ἀμαυρός, dunkel, neblig), die bedeutendste Utopias, ist geographisch ein Spiegelbild Londons, von ihren Sitten her  Londons Gegenteil.

MORUS’ Utopia ist nicht mehr eine chiliastische, sondern eine rationalistische soziale Utopie und befand sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der damaligen Zeit durchaus in Übereinstimmung. Sie wurde weder von MORUS noch von vielen seiner Zeitgenossen als Utopie im Sinne des modernen Utopie-Begriffs gewertet. MORUS selbst hat dies deutlich zum Ausdruck gebracht, indem er abschließend bemerkt: „Doch gestehe ich ohne weiteres, daß ich sehr vieles von der Verfassung der Utopier in unseren Staat eingeführt sehen möchte. Allerdings muß ich das wohl mehr wünschen, als ich es erhoffen dürfte.“ (13)

So das Philosophische Wörterbuch, ein repräsentatives Standardwerk der DDR-Philosophie. Unterschlagen wird, worauf sich das Wörtchen Doch am Satzanfang des MORE-Zitats zurückbezieht: Am Ende der Utopia überrascht MORE den Leser mit einen zentralen Angriff auf die von Hythlodeus hochgepriesene Gesellschaftsordnung.

Seine Kritik: Die Verabsolutierung der Gemeinschaft und das Fehlen von Privateigentum führe zu einem Verlust an individueller Leistung und individueller Würde:

Haec vbi Raphael recensuit, quanquam haud pauca mihi succurrebant, quae in eius populi moribus legibusque perquam absurde videbantur instituta non solum de belli gerendi ratione & rebus diuinis: ac religione, aliisque insuper eorum institutis sed in eo quoque ipso maxime: quod maximum totius fundamentum est vita scilicet, victuque communi, sine vllo pecuniae commercio, qua vna re funditus euertitur omnis nobilitas, magnificentia: splendor, maiestas, vera vt publica est opinio decora atque ornamenta reipublicae (…).

MORE greift nun zu einem narrativen Kunstgriff: Da sein Gesprächspartner vom Erzählen ermüdet gewesen sei, habe er, MORE, trotz seiner Ablehnung mancher Züge der Utopia auf eine weitere Diskussion verzichtet, sei aber überzeugt „permulta esse in Vtopiensium republica, quae in nostris ciuitatibus optarim verius, quam sperarim“. (S. 423 f.)

MORE will die gedankenlose Akzeptierung gesellschaftlicher und politischer Missstände seiner Zeit dadurch erschüttern, dass er ein radikal anderes Gesellschaftsmodell zur Diskussion stellt. Er ist sich darüber im Klaren, dass das Gedankengebäude, das er von einem Philosophen vertreten lässt, der jede Tätigkeit in der politischen Praxis für sich zurückweist, viel Fragwürdiges und kaum Realisierbares enthält. Dem Leser „ist die endgültige Standortfindung aufgetragen.“ (14)

Like Plato, More often leaves his readers to guess how far the arrangements he describes are serious political proposals and how far they merely present a mocking mirror to reveal the distortions of real-life societies. (15)

„Wie Platon überlässt More es häufig seinen Lesern zu erraten, in wieweit die Regelungen, die er beschreibt, als ernsthafte politische Vorschläge gemeint sind, und inwieweit sie lediglich den real existierenden Gesellschaften und ihren Verirrungen einen satirischen Spiegel vorhalten.“

In seiner Vorrede schreibt MORE (S. 347):

plurimi literas nesciunt: multi contemnunt (…) Hic tam tetricus est vt non admittat iocos hic tam insulsus ut non ferat sales, tam simi quidam sunt, vt nasum [metonymisch für Spott] omnem, velut aquam ab rabido morsus cane reformident, adeo mobiles alii sunt vt aliud sedentes probent, aliud stantes.

Als Einleitung zur Civitas solis ist ein derartiger Leserappell undenkbar (16). Es ist wiederholt die These vertreten worden, der eigentliche Schwerpunkt der Utopia sei das erste, nicht das zweite Buch:

(…) the longest and most valuable part of the book is that which describes, not Utopia, but England. The brief account on Utopia itself is little more than an appended parable. In other words the book (like all its later progeny from Swift’s Gulliver to Butler’s Erewhon and Orwell’s Nineteen Eighty-Four) is mainly a picture of its own time – a criticism of the present rather than a construction of the future.“ (17).

„Der längste und wertvollste Teil des Buches ist der, der England beschreibt, nicht Utopia. Der kurze Bericht über Utopia selbst ist wenig mehr als eine angefügte Parabel.

In andern Worten: Das Buch (wie alle seine Nachkommen, von Swifts Gulliver zu Butlers Erewhon und Orwells 1984) ist hauptsächlich ein Bild der eigenen Zeit – eher eine Kritik an der Gegenwart als eine Konstruktion der Zukunft.“

Der Name Hythlodeus (englisch: Hythlodaye) ist wie Utopia doppeldeutig: ὕθλος, Geschwätz, Flausen, Possen (lateinisch nugae), könnte mit δάιος, feindlich, mit einem Derivat von δαῆναι, lehren, oder mit δαίειν,  austeilen, zusammengefügt sein. Oder steht

aye (für –e– in –deus) gar nicht für den Diphthong -αι-, sondern für –ει-? Dann böte sich zum Beispiel δεινός, tüchtig, an. Ist Hythlodeus also Feind des Geschwätzes oder Meister im Schwätzen? Und warum gibt MORE ihm den Vornamen Raphael („Gott heilt“)?

CAMPANELLA dagegen, der Visionär hinter Kerkermauern, identifiziert sich eindeutig mit dem Staatsmodell der Civitas solis, das er als rationales Ideal den Missständen seiner Zeit – auf die er unmittelbar nur am Rande eingeht – entgegenstellt.

Er errichtet seinen sozialistischen Zukunftsstaat, ohne irgendein Hindernis bei der Verwirklichung in Betracht zu ziehen. Seine hymnische Schilderung der Solarier – gesündere, zufriedenere, glücklichere, technologisch weit fortgeschrittene Menschen – führt in direkter Linie zur Verherrlichung des Neuen Menschen durch die kommunistischen Theoretiker. So schwärmt etwa LEO TROTZKI (1879 – 1940):

Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen. (18)

Eine stolze Vision – man vergleiche sie mit der kaiserlichen Bescheidenheit des MARC AUREL (121 – 180), wie sie uns aus der Aufforderung in den Selbstbetrachtungen (IX, 29,5) entgegentritt:

μὴ τὴν Πλάτωνος πολιτείαν ἔλπιζε˙ ἀλλὰ ἀρκοῦ, εἰ τὸ βραχύτατον πρόεισι.  

Hoffe nicht auf Platons Staat, sondern gib Dich damit zufrieden, wenn es mit dem Kleinsten vorangehen wird.

Im Rahmen der Panegyrik westlicher Linksintellektueller auf den Sowjetkommunismus verbreitete sich in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine spezifische Variante des utopischen Reiseberichts. Auf Einladung der sowjetischen Propaganda reisten westliche Sympathisanten nach Moskau, wurden dort fürstlich bewirtet und verfassten nach ihrer Rückkehr Berichte, in denen sie den Stalinismus glorifizierten.

Für die westlichen Anhänger des Kommunismus waren die Verbrechen des Sowjetkommunismus kein Grund zur Kritik. Sie wurden auch nicht ignoriert, sondern galten ihnen als heilsame Maßnahmen zur Gesundung der russischen Gesellschaft.

Keine Regungen politischer Urteilskraft oder des Gewissens hielten GEORGE BERNARD SHAW (1856 – 1950), STEFAN ZWEIG (1881 – 1942), LION FEUCHTWANGER (1884 – 1958) oder STEFAN HEYM (1913 – 2001) und andere Russlandreisende davon ab, Geheimdienstterror, Zwangskollektivierung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Schauprozesse zu rechtfertigen.

Der „mutigste und liebste Mensch der Welt“ – so die huldigende Anrede aus einem Telegramm ELSE LASKER-SCHÜLERS (1869 – 1945) –, neuer Augustus (so LION FEUCHTWANGER) – solche und ähnliche Bezeichnungen galten JOSEF STALIN (1878 – 1953) (19):

War Lenin der Cäsar der Sowjet-Union gewesen, so wurde Stalin zu ihrem Augustus, ihrem ,Mehrer’ in jeder Hinsicht. Stalins Bau wuchs und wuchs. Aber Stalin mußte sehen, daß es immer noch Leute gab, die an dieses sichtbare, greifbare Werk nicht glauben wollten, die den Thesen Trotzkis mehr glaubten als dem Augenschein. 

Noch im selben Jahrhundert erkoren sich linke  – auch sozialdemokratische – Reisende in Sachen sozialistischer Utopie ein neues Ziel, diesmal mit angenehmerem Klima. Als neuer Sonnenstaat galt ihnen nun die größte Karibikinsel, auf der der Máximo Líder und Comandante Supremo (1926 –      )     seine Diktatur errichtet hatte.

CAMPANELLAS Idealstaat  weicht durch die fundamentale Bedeutung des Religiösen von den Vorstellungen seiner sozialistischen Jünger ab. Der Mensch ist keineswegs bloßes animal laborans, ein Wesen, das die eigene Erlösung schaffen kann: Gedanken, die in der frühbolschewistischen Revolutionsgeschichte bis ins Fantastische gesteigert wurden (20).

Der Herrscher der Civitas, der Sol, ist Metaphysicus, Oberpriester, die leitenden Beamten sind zugleich Priester. Die Solarier verehren im Bild der Sonne Gott, ein schroffer Gegensatz zur Verfolgung des Christentums im Sowjetkommunismus – auch sie von linken Literaten ausdrücklich gebilligt.

So fügt etwa WALTER BENJAMIN (1892 – 1940), als er 1927 aus Moskau nach Berlin zurückgekehrt ist, seinem Moskauer Tagebuch unter anderem folgende Notiz hinzu (21):

Moskau ist so gut wie befreit vom Glockengeläute, das eine so unwiderstehliche Traurigkeit in den Großstädten zu verbreiten pflegt. Auch das ist etwas, was man erst nach der Rückkehr erkennen und lieben lernt.

CAMPANELLA war überzeugt von der Realisierbarkeit einer Welt-Theokratie unter Leitung des Papstes, deren Arm die spanische Monarchie sein sollte (S.167f.) (22); das Leben im Paradies aber ist – so die Überzeugung der Solarier – Lohn des guten Lebens, und zwar nach dem Tod:

Proculdubio credunt immortalitatem animarum hasque post mortem associari angelis probis, aut pravis, prout illis, aut his in actibus praesentis vitae similiores reddiderunt. Omnia enim sibi similia petere. De locis poenarum et praemiorum parum a nobis discrepant. (S. 165)

Anmerkungen:

(1)      Alle Zitate aus dem italienischen Text nach der Ausgabe La Città del sole: Dialogo

Poetico – The City of  the Sun. A Poetical Dialogue, übers. und hrsg. von Daniel J.

Donno, University of  California Press, Berkeley, Los Angeles 1981

Alle Zitate aus dem lateinischen Text nach der Ausgabe Utopia, Nova Atlantis &

Civitas Solis, Lexington 2011

(2)      Alle Zitate aus dem lateinischen Originaltext und aus der Übersetzung Robinsons

entstammen, auch in Interpunktion und Schreibweise, der zweisprachigen

Ausgabe The Utopia of Sir Thomas More, Ralph Robinson’s translation with

Roper’s life of More and some of the letters, hrsg. von George Sampson, London

1910. Der lateinische Text ist der des ersten Druckes 1516.

Eine lateinisch-deutsche Ausgabe ist in Reclams Universalbibliothek erschienen,

die Übersetzung stammt von Gerhard Ritter (1964, Neuauflage 2012).

(3)     „Zur didaktischen Begründung der Lektüre von Thomas Morus’ Utopia“, in Forum

Classicum 1/2008, S. 7 – 10; vgl. vor allem Klowskis Fußnote 7

(4)      Vgl. Matthew Restall, Seven Myths of the Spanish Conquest, Oxford 2003, S.104f.

(5)      Vgl. Paul Meissner, England im Zeitalter von Humanismus, Renaissance und

Reformation, Heidelberg 1952, S. 86ff.

(6)      Es ist unklar, ob Ceylon oder Sumatra gemeint ist, vgl. Daniel J. Donno, Vorwort zu

seiner Ausgabe, a.a.O.: vgl. (2), S. 129

(7)      Johann Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, Tübingen, 2006, S. 99

(8)      Daniel J. Donno, a.a.O., S. 18

(9)      Reinhard Hoßfeld: Tommaso Campanella (Stichwort) in: Erhart Lange/Dietrich

Alexander (Hrsg.) Philosophenlexikon, Berlin 1987, S. 141

(10)    Vgl. vor allem De re publica Buch I, 1, 2, 4, 6

(11)   Vgl. etwa die positive Würdigung durch Jonathan Swift in Gulliver’s Travels, Teil

III, Kap. 6

(12)   Karl Marx, Die Deutsche Ideologie in: Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried

Landshut, Stuttgart 1952, S. 361

(13)   Georg Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 13. Auflage,

Berlin 1985, S. 1131, s.v. Sozialismus und Kommunismus, utopischer

(14)   Werner Koppenfels, Bild und Metamorphose, Paradigmen einer europäischen

Komparatistik, Darmstadt 1991, S. 162

(15)   Anthony Kenny, Thomas More (Past masters), Oxford 1992 (1983), S. 20

(16)   Koppenfels, a.a.O., S. 162f.

(17)   George Sampson, The Concise Cambridge History of English Literature,

Cambridge, dritte, von R.C. Churchill überarbeitete Auflage, 1972, S. 99

(18)   Leo Trotzki, Literatur und Revolution, Berlin 1968 (1924), S. 214 f., zitiert

nach Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch, Frankfurt 1997 (Suhrkamp

Taschenbuch), S. 150

(19)   Lasker-Schüler zitiert nach Sigrid Bauschinger, Else Lasker-Schüler,

Göttingen 2004, S. 441. Feuchtwanger- Zitat aus Lion Feuchtwanger, Moskau 1937,

Ein Reisebericht für meine Freunde, Berlin (Aufbau-Verlag), 2. Aufl. 1993, S. 81

(20)   Küenzlen, a.a.O., S. 151

(21)   Moskauer Tagebuch, Frankfurt am Main 1980 (Edition Suhrkamp), S. 163f.

(22)   Vgl. Daniel J. Donno, a.a.O., S. 15

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