Hero und Leander

von Christoph Wurm – Dieser Aufsatz wurde erstmalig veröffentlicht im Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbands, Landesverband Nordrhein-Westfalen, Heft 1/2015, S. 4 – 10.

Wer ohne literaturwissenschaftliche Vorbildung die Plagiatsdiskussionen der letzten Jahre verfolgt hat, könnte davon ausgehen, dass eine klare Trennlinie zwischen Original und Kopie, zwischen Leistung und Nachahmung zu ziehen ist. Kaum ein Text dürfte einen Laien daher mehr überraschen als Musaios’ Hero und Leander. Ein

großenteils aus den Werken anderer Autoren kompiliertes Gedicht, das trotzdem dichterische Kreativität nachweist: Ganz offensichtlich ist die scheinbar so eindeutige moderne Polarität Plagiat – Original untauglich, um Musaios gerecht zu werden.

Auch in anderer Hinsicht lohnt sich die Beschäftigung mit diesem Gedicht, über seine individuellen Vorzüge hinaus, denn seine Rezeption ist ein Musterbeispiel für Subjektivität und Fragwürdigkeit literarischer Geschmacks- und Werturteile.

Die Geschichte von Hero und Leander ist bis in unsere Tage hinein immer wieder neu erzählt worden. Die frühesten Überlieferungsspuren finden sich Jahrhunderte vor Musaios. In der griechischen Literatur lesen wir die erste gesicherte Erwähnung der Geschichte, die ursprünglich eine lokale Volkssage gewesen sein dürfte, in zwei Epigrammen von Antipatros von Thessalonike (A.P. 7, 666 und 9, 215)1, der um Christi Geburt unter Augustus in Rom lehrte. Vergil liefert eine Kurzfassung, ohne die Namen der Liebenden, den Schauplatz oder die Lampe zu erwähnen. Er setzt also offensichtlich die Einzelheiten der Geschichte von dem iuvenis, der in den Fluten ein Opfer der Grausamkeit Amors wird, als dem Leser bekannt voraus (Georg. 3, 258 – 263). Ein

anderer Dichter lieferte eine andere Kurzzusammenfassung, ein Distichon: Goethe, in den Römischen Elegien (III, 13f.):

Hero erblickte Leandern am lauten Fest, und behende

stürzte der Liebende sich heiß in die nächtliche Flut.

Eine erste detaillierte uns überlieferte Beschäftigung mit der Geschichte findet sich bei Ovid (Heroides, Briefpaar 18 und 19). Auch andernorts, etwa in den – ganz nahe beim Schauplatz der Erzählung verfassten – Tristia bezieht sich Ovid auf die Erzählung, und zwar, als er das gefrorene Schwarze Meer beschreibt:

Si tibi tale fretum quondam, Leandre, fuisset,

non foret angustae mors tua crimen aquae.  (III, 10)

Wäre das Meer einst von dir so vorgefunden worden, Leander,

würde die Meerenge nicht der Schuld an deinem Todes bezichtigt.

Die bedeutendste und beste Fassung dieser Erzählung stammt von einem Unbekannten. Das 343 Hexameter umfassende Kleinepos Τὰ καθ᾽ Ἡρὼ καὶ Λέανδρον verfasste der spätantike γραμματικός Musaios.2

Wer war Musaios? Den Namen des vorhomerischen Sängers trug er entweder von Geburt an oder hatte ihn sich als Dichternamen zugelegt. Unsere Informationen über ihn sind spärlich. Das Epyllion ist stark von Nonnos (5. Jh. n. Chr.) beeinflusst und wirkte auf Kolluthos (5. bis 6. Jh. n. Chr.). Das Gedicht ist also vor 500 anzusetzen. Zwei Briefe des Prokopios von Gaza (etwa 465 bis 528), Nr. 48 und Nr. 60, haben wahrscheinlich Musaios zum Adressaten.3

Die Handlung: Hero, nach dem Willen ihrer Eltern Aphroditepriesterin in Sestos am Nordufer des Hellesponts, lernt auf einem Fest Leander aus Abydos von der anderen, asiatischen Seite der Meerenge kennen. Die beiden verlieben sich, eine Heirat scheidet aus. Leander durchschwimmt nun nächtlich die Meerenge, um sich mit ihr, die alleine in einem Turm wohnt, zu vereinen. Als die Öllampe, die Hero als Wegweiser für ihren Liebhaber aufgestellt hat, in einer Sturmnacht erlischt, verirrt er sich und ertrinkt. Am nächsten Morgen entdeckt sie seine Leiche und stürzt sich vor Gram ins Meer.

In der Antike war die Strecke Sestos – Abydos die engste Stelle des Hellespont, (heutzutage ist sie es aufgrund von Küstenerosion nicht mehr4). Am 3. Mai

1810 durchquerte ein moderner Leander die Meerenge: Lord Byron. Er schwamm von Sestos aus und benötigte 70 Minuten. „The immediate distance is not above a mile, but the current renders it hazardous; – so much that I doubt whether Leander’s conjugal affection must not have been a little chilled in his passage to Paradise.“5

Die Erzählung des Musaios ist gradlinig chronologisch und schnörkellos: „sans digression, sans hors-d’œuvre, sans longueur“6. Alles, was sich nicht auf die beiden Liebenden bezieht, bleibt unerwähnt. Auch die Götter treten – mit Ausnahme Eros’ – weitestgehend in den Hintergrund.

Aber noch einen weiteren ,Protagonisten’ hat die Geschichte: die Lampe (λύχνος), die Hochzeitsfackel, die Leben und Liebe spendet und schließlich entzieht.

Schon in rein quantitativer Hinsicht spielt sie eine fundamentale Rolle für das ganze Werk, da sie von Anfang an immer wieder erwähnt wird. Besonders tritt das hervor, wenn man Musaios’ Epyllion mit anderen Gestaltungen derselben Erzählung vergleicht, etwa der Ballade Friedrich Schillers. Die Lampe ist das zentrale, alles beherrschende Symbol. Sie steht für Liebe und Leben der beiden Liebhaber.

Zunächst ist alles auf ihre Begegnung und auf das Liebeswerben Leanders zugeschnitten. Dann, nach dem Wintereinbruch und den mit ihn verbundenen Risiken des Hinüberschwimmens, folgt die Schilderung der dramatischen Ereignisse, eine Struktur, die auf moderne Kritik gestoßen ist, obwohl sie künstlerisch und narrativ überzeugt. Die Liebe löst die Kettenreaktion aus, die mit ihrem Tod endet.

„Nun hat man Kritik daran geübt, daß sich im zweiten Teil des Gedichtes (etwa von 232 an) Ereignis an Ereignis reihe, während der vordere Teil des Werkes bei einem Minimum an Handlung fast ganz auf Zuständliches gerichtet sei (…). Für den antiken Dichter ist das Drama der Seelen, sind Werbung und Zuneigung, sind Gefühl und Rede ebenso Handlung wie ein mehr äußerliches Geschehen.“7 (S. 258).

Musaios setzt, wie bereits Vergil, bei seinen Lesern die Kenntnis der Geschichte voraus.

Nicht auf der äußeren Handlung, sondern auf dem Seelischen liegt der Hauptakzent.

Deshalb scheut er sich auch nicht, bereits am Anfang, zum Abschluss des Musenanrufs,  in homerisierender Diktion den traurigen Ausgang vorwegzunehmen:

ἀλλ ἄγε μοι μέλποντι μίαν συνάειδε τελευτὴν

λύχνου σβεννυμένοιο καὶ ὀλλυμένοιο Λεάνδρου. (V.14f.)

Komm aber (,Muse,) und begehe feierlich mit mir, während ich es besinge, das eine gemeinsame Ende der erlöschenden Lampe und des sterbenden Leander.

Weit geht er über die aemulatio, etwa im Sinne des Verhältnisses Vergils zu Homer, hinaus und bedient sich der Technik des cento, jedoch ohne spielerische oder parodisierende Absicht.

Er arbeitet wie ein Mosaikkünstler, der ein fremdes Mosaik auflöst,  die Steinchen einzeln oder im Verbund entnimmt und sie kühn zu einer ganz anderen Komposition zusammenfügt. Oder, sprachwissenschaftlich gesehen: Während heutzutage Dichter in der Regel das Vokabular der allgemeinen Sprache, im Ausnahmefall eigene Wortschöpfungen verwenden, benutzt Musaios – als γραμματικός ­

– Wortschöpfungen, Wendungen und Motive anderer Autoren und schafft – als ποιητής – aus dem Fremden Eigenes, und zwar für Leser, die in der Lage sind, beides zu goutieren.

Neben zahlreichen heidnischen und christlichen Autoren ist es vor allem Nonnos, den Musaios für sein Werk verwendet, bei dem er zahlreiche Wendungen und Verse borgt. Ihm schweben aber auch zwei Szenen aus der klassischen griechischen Literatur vor, auf die er sich bezieht: die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa und die der Liebenden in Platons Phaidros.

So spricht in 268f. Hero Leander mit Worten an, mit denen Odysseus seine eigenes Los beschreibt, einmal gegenüber Kalypso, das andere Mal gegenüber Nausikaa:

(…) μάλα πολλ` ἔπαθον καὶ πολλ` ἐμόγησα

κύμασι καὶ πολέμῳ· (…) (Od. 5, 223f.)

Sehr viel habe ich erlitten und viele Mühen erduldet auf den Wellen und im Krieg.

(…) ὡς καὶ ἐγὼ νῦν

σόν τε ῥόον σά τε γούναθ’ ἱκάνω πολλὰ μογήσας. (Od. 5, 449f.)

… wie auch ich jetzt zu deiner Strömung und zu deinen Knien komme, nachdem ich viele Mühen ertragen habe.

Hero (V. 268F.):

Νυμφίε, πολλὰ μογήσας, ἃ μὴ πάθε νυμφίος ἄλλος,

νύμφιε, πολλὰ μογήσας (…)“

Mein Gemahl, der du so viele Mühen ertragen hast wie kein anderer Gemahl,

Mein Gemahl, der du viele Mühen ertragen hast.

In V. 135ff. sind eine Passage aus der Odyssee (VI, 149f.) mit einer aus dem Lukasevangelium kunstvoll miteinander verwoben:

Κύπρι φίλη μετὰ Κύπριν, Ἀθηναίη μετ᾽ Ἀθήνην –

οὐ γὰρ ἐπιχτονίῃσιν ἴσην καλέω σε γυναιξίν,

ἀλλά σε θυγατέρεσσιν Διὸς Κρονίωνος ἐίσκω,

ὄλβιος, ὅς σε φύτευσε, καὶ ὀλβίη, ἣ τέκε μήτηρ,

γαστήρ, ἥ σε λόχευσε, μακαρτάτη· Ἀλλὰ  λιτάων

ἡμετέρων ἐπάκουε, πόθου δ᾽ οἴκτειρον ἀνάγκην (…)“

Liebe zweite Kypris, zweite Athene, denn ich setze dich nicht Frauen gleich, die auf Erden wandeln, sondern Töchtern des Zeus, des Sohn Kronos’ vergleiche ich dich.

Selig, der dich zeugte, und selig die Mutter, die dich gebar, äußerst glücklich der Schoß, der dich beherbergte. Erhöre mein Flehen, erbarme dich meines Verlangens, das mich beherrscht.

Zwar hat das Gedicht über Jahrhunderte hinweg die Dichter inspiriert, aber ein so stilisiertes, artifizielles Gebilde behagt nicht jedem Leser, zumal es einer traditionell wenig geschätzten Epoche antiker Literatur entstammt, die, so Manfred Fuhrmann „immer noch im Schatten einstiger Ausgrenzungen“ steht, „wohl nach wie vor die am wenigsten bekannte Episode der europäischen Geschichte“.Im 19. Jahrhundert war seine dichterische Qualität in Deutschland umstritten. Von Goethe geliebt9, von dem Gräzisten Franz Passow hoch gerühmt10, stieß das Gedicht auch auf scharfe Ablehnung.

Dass solche Geschmacksurteile und Verdammungen in großem Umfange in die Fachliteratur eingedrungen sind, ist schwerer nachvollziehbar. Das Gedicht erfreue sich – so Wilamowitz – „seltsamerweise“ „immer noch eines gewissen Renommees“. „Der unverwüstliche Stoff, der immer wieder die Dichter reizt, ist ganz ohne Gefühl und Erfindsamkeit abgehandelt. Weder des Meeres noch der Liebe Wellen rauschen darin, sondern nur die Hexameter rollen ihren monotonen Gang, einerlei ob sie Sehnsucht oder Sturm schildern wollen.“11

Von einem Autoren der Provenienz des poeta doctus Musaios einen frischeren, ursprünglicheren Erzählstil zu erwarten ist unangemessen, genauso wie es im Bereich der Kunst verfehlt wäre, ein Gemälde von Jacques-Louis David nach den Kriterien des Naturalismus zu beurteilen. Der Vergleich ist nicht zufällig gewählt, sondern liegt nahe angesichts der „etwas starre[n] Anmut, die dem Gedicht eignet“12, einer Charakterisierung, die auch auf Gemälde des Klassizismus passen würde.

Es ist nicht verwunderlich, dass ein Text, in dem so viel verwendet ist, was aus anderen Sinnzusammenhängen stammt, seinerseits Lesarten nahelegt, die von der erzählerischen Oberfläche abweichen.

Die Symbolik der Lampe muss Lesern zur Zeit der Entstehung des Epyllions genau wie bei uns heute den Gedanken an den Prolog des Johannes-Evangeliums nahegelegt haben. So wie der Evangelist anfangs vom Licht (φῶς) des Logos spricht, findet sich ein Hinweis auf das Licht schon im ersten Vers der Erzählung des Musaios:

Εἰπέ, θεά, κρυφίων, ἐπιμάρτυρα λύχνον ἐρώτων

Erzähle, Göttin, von der Lampe, der Zeugin verbotener Lieben.

Während irdisches Leben und irdische Liebe erlöschen, trotzt das Licht des Logos der Finsternis: καὶ ἡ σκοτία αὐτὸ οὐ κατέλαβεν [und die Finsternis hat es nicht ergriffen/begriffen] (Joh., 1,5).

Der Ablauf der Erzählung ist allegorisch, im Sinne der neoplatonischen Tradition, gedeutet worden. Die Phasen der Erzählung hätten tiefere Bedeutung: Der erste Teil (V. 28 – 231) gelte dem Leben der Seele im Himmel vor der Geburt, Teil 2 (V. 232 – 288) dem Leben der Seele auf Erden. Es folge im letzten Teil (V. 289 – 343, Wintereinbruch bis Tod) die Erlösung der Seele von den Fesseln des Körpers.13

Der Stoff wurde in ganz Europa zunächst durch Ovids Heroiden, dann auch durch die Lektüre des Musaios verbreitet. Es erschienen Übersetzungen und Adaptionen des Gedichtes in zahlreiche europäischen Sprachen. Der Stoff drang auch in die Volkslieder ein, man denke an das deutsche Lied von den beiden Königskindern. Eine Erzählung, die Jahrhunderte zuvor als örtliche Legende am Hellespont entstanden war, kehrte in die Volkspoesie zurück.

Anmerkungen:

1    Nach Thomas Gelzer in seiner Einleitung zu der von ihm herausgegebenen, von Cedric    

    Whitman übersetzten Ausgabe Musaeus – Hero and Leander, Cambridge    

    Massachusetts (Loeb Classical Library) 2004 (1958), S. 304.

2    Alle Zitate aus Τὰ καθ᾽ Ἡρὼ καὶ Λέανδρον entstammen der Ausgabe von Pierre Orsini,

     Paris (Les Belles Lettres) 2003 (1968).

3   Gelzer, a.a.O., S. 300f.

4   Gelzer, a.a.O., S. 302.

5    Lord Byron, Selected Prose, Harmondsworth (Penguin) 1972, S. 66f.

6    Orsini in der Einleitung zu seiner unter 2 genannten Ausgabe, S. XIX.

7    Otto Schönberger, “Zum Aufbau von Musaios’ ,Hero und Leander’“ in: Rheinisches   

    Museum 121, 1978, S. 255 – 259, hier: S. 258.

8   Rom und die Spätantike – Porträt einer Epoche, Zürich 1994, S. 9.

9    Goethe am 9.5.1814: „Ich habe immer mit vielem Antheil an Hero und Leander des 

    Museus, besonders auch an Daphnis und Chloe des Longus gehangen.“ An S.S.   

    Uwarow (Concept). Zitiert nach Ernst Grumach, Goethe und die Antike: eine    

    Sammlung, Potsdam 1949, Bd. 2, S. 321.

10  Anschaulich dargestellt ist die Kontroverse einschließlich der Einschätzung durch 

     Franz Passow in Friedrich Schoell, Geschichte der griechischen Litteratur, von der 

     frühesten mythischen Zeit bis zur Einnahme Constantinopels durch die Türken. 

     (Übers. aus dem Französischen), Berlin 1830, Band 3, S. 59f. 

11   Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Die griechische Literatur des Altertums, in:

      Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, Die Kultur der Gegenwart, Teil    

      I, Abteilung VIII,  S. 287., Leipzig 1912.

12  Otto Schönberger, a.a.O., S. 259

13  Gelzer, a.a.O., S. 319

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