Latein und romanische Sprachen – Dantes De vulgari eloquentia und der Diálogo de la lengua des Juan de Valdés

von Christoph Wurm – Forum Classicum 02/2015

Unter den unzähligen – oft ähnlich betitelten – frühen Untersuchungen über das Verhältnis zwischen dem Lateinischen und den romanischen Sprachen ragen zwei besonders hervor: DANTES (1265 – 1321) De vulgari eloquentia vom Beginn des vierzehnten und JUAN DE VALDÉS’ (1490 (?) – 1541) Diálogo de la lengua aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts.1 Dantes Traktat gilt als früheste sprachwissenschaftliche Untersuchung Italiens; Valdes’ Dialog ist eine der ersten Sprachstudien Spaniens und fester Bestandteil des Kanons der spanischen Klassik.

Die Werke entstammen ganz verschiedenen Kontexten – das eine dem italienischen Spätmittelalter, das andere dem spanischen Humanismus – und behandeln eine Vielzahl sprachlicher Themen und Unterthemen. Auch das Verhältnis zwischen dem Lateinischen und den romanischen Sprachen wird aus unterschiedlichen Perspektiven dargestellt.

Gerade deshalb lohnt ein Vergleich, der Unterschiede hervorhebt und bestimmte Einzelaspekte schärfer konturiert, als das häufig in der Sekundärliteratur geschehen ist.

Es ist unklar, ob der Titel De vulgari eloquentia doctrina, meist zu De vulgari eloquentia abgekürzt, von Dante selber stammt oder ob er von fremder Hand dem ersten Satz des Traktates entnommen wurde. Geschrieben wurde das Werk, dessen Abfassung sein Verfasser im Convivio ankündigt (I, x 10), in den frühen Jahren seines Exils. Da er in De vulgari eloquentia erwähnt, dass er verbannt sei (I, vi 3), kann es nur ab 1302 verfasst worden sein. Ein Hinweis auf den zur Abfassungszeit noch lebenden Giovanni I. von Monferrato (I, xii 5), der im Februar 1305 starb, liefert den zweiten Eckpunkt.

Dantes Traktat besteht aus zwei Büchern. Zunächst untersucht er die Entstehung der menschlichen Sprache, ausgehend von Adam und Eva und dem Bau der „turris confusionis“ (I, vi 5) zu Babel. Dann behandelt er die Verteilung und Auffächerung der Sprachen über Europa – was die romanischen Sprachen betrifft, die der Yspani, Franci und Latini (I, viii 5) – und schließlich die dialektale Gliederung der italienischen Halbinsel. Eine für ganz Italien gültige Literatursprache will er finden, ein „volgare illustre“. Nachdem in Buch I diese Sprachnorm näher bestimmt wurde, handelt Buch II von den Regeln für ihre Verwendung, bricht jedoch im 14. Kapitel mitten im Satz beim Thema der Kanzone ab.

Das Verhältnis zwischen Italienisch und Latein ist für Dante ein Beispiel für einen Dualismus, der auch bei anderen Sprachen – etwa dem byzantinischen Griechisch seiner Zeit im Vergleich zum klassischen Griechisch – anzutreffen sei (I, i 3). Im einen

wie im anderen Falle sind es zwei Varianten derselben Sprache. So rühmt in der Commedia (Purg., VII 16f.) der Mantuaner Troubadour SORDELLO (13. Jh., genaue Lebensdaten unbekannt) seinen Landsmann VERGIL, durch diesen sei offenbar, was „la lingua nostra“ vermöge.

Dante unterscheidet zwischen gramatica (metonymisch für die Sprache der Gebildeten) und locutio vulgaris. Eine klare Trennlinie zieht er zwischen dem Erwerb der ersten und dem der zweiten Sprachvariante. Die Volkssprache saugen die Kinder mit der Ammenmilch ein, „sine omni regula nutricem imitantes“ (I, i 2), sie ist ihre „materna locutio“ (I, vi 2) (auch „maternum vulgare“: I, xiv 7, „patrium vulgare“: I xv, 2). Die gramatica dagegen wird erst später gelernt, und die natürliche Sprache ist edler als die künstliche Sprache, auf deren Regeln sich die Gelehrten geeinigt haben (I, i 4):

Harum [sc.: locutionum] quoque duarum nobilior est vulgaris: tum quia prima fuit humano generi usitata; tum quia totus orbis ipsa perfruitur, licet in diversas prolationes et vocabula sit divisa; tum quia naturalis est nobis, cum illa potius artificialis existat.

Das Lateinische galt Dante und seinen Zeitgenossen als „[locutio] de comuni consensu multarum gentium regulata“ (I, ix 11) – ein Esperanto, auf das sich die Gelehrten international geeinigt hatten. Wie die Unterschiede zwischen klassischem Latein und italienischer Volkssprache zu erklären waren, war unklar. Der Humanist LEONARDO BRUNI (um 1370 – 1444) etwa legt ausführlich dar, dass auch zu CICEROS Zeiten die gramatica eine Sprache der Gebildeten gewesen sei; das Volk habe bereits damals Italienisch gesprochen. So wie es dem Volk jetzt bei der lateinischen Messliturgie sei es damals den Bürgern Roms bei Politikerreden ergangen: „pistores vero et lanistae et huiusmodi turba sic intellegebant orationis verba ut nunc intelligunt Missarum solemnia.“2

Zum Vergleich ein (immer noch) den Forschungsstand widerspiegelndes Zitat: „Die Sprache der romanischen Völker von heutzutage ist tatsächlich die Sprache der Scipionen und des Cato, des Cäsar und der römischen Kaiser, mannigfach verändert durch eine Entwicklungsgeschichte von zwei Jahrtausenden, aber in ihrem Kern die getreue Hüterin und Bewahrerin zum Teil uralten lateinischen Sprachgutes“3.

Il Convivio ist nicht auf Latein, sondern auf Italienisch abgefasst – für seinen Verfasser ein „substantieller Makel“ („macula sustanziale“): Er biete seinen Lesern Gerstenbrot („[pan] di biado“) statt Weizenbrot („[pan] di frumento“: I, v 1; I, x, 1; I, xiii, 11). Das Latein ist der Volkssprache dreifach überlegen: an Schönheit, an Ausdrucksfähigkeit, und an nobiltà (I, v 14). Er will aber mit dem Kommentar seiner Canzoni nicht nur die litterati [im spezifischen Sinne von: des Lateinischen Kundige] erreichen, sondern breitere Leserkreise (Convivio, I, vii 12). Aus demselben Grunde hatte bereits Dantes Lehrer BRUNETTO LATINI (um 1220 – 1294) sein Hauptwerk, die Enzyklopädie Livre du Trésor, im Pariser Exil nicht auf Latein, sondern auf Französisch verfasst.

Dass hier die höhere nobiltà dem Lateinischen zugesprochen wird, in De vulgari eloquentia der Volkssprache, ergibt sich aus dem Thema seines Traktats: Da die  Volkssprache im Mittelpunkt der Darstellung steht, stellt Dante hier ihre spezifischen Vorzüge in den Vordergrund. Die Frage der nobilitas hängt von der gewählten Perspektive ab: Das Lateinische besitzt die Vorzüge der Perfektion und der Unveränderlichkeit, die Volkssprache den der Natürlichkeit. Als er (in I, x. 1 und 2) die Frage behandelt, welche der drei romanischen Sprachformen die überlegene sei, kommt er zwar zu keinem definitiven Urteil, ist aber geneigt, seiner Muttersprache den Vorrang vor den beiden anderen  zu geben, und zwar wegen der größeren Nähe der besten volkssprachlichen Dichter – in erster Linie meint er sich selber – zur gramatica.

Gedichte italienischer Autoren auf Provenzalisch oder Französisch waren keine Seltenheit, in französischer Prosa schrieb Dantes Mentor – wie erwähnt – seine Enzyklopädie. Dante dagegen weist jede Zurücksetzung seiner Muttersprache gegenüber den anderen romanischen Sprachen ab (vgl. auch Convivio, I, x 11f.), relativiert aber ihre nobilitas: Er sei überzeugt, es gebe viele edlere Sprachen als die eigene (I, vi. 3).

Das „volgare illustre“ (I, xvi – xix), so wie es die besten Dichter gebrauchen, ist mit keinem Dialekt identisch, sondern den Gebildeten aller Landesteile gemeinsam.

Es ist die ideale Sprachnorm und soll als die höchste Sprachstufe (cardinale) ganz Italiens (totius Italiae) Sprache des Königspalastes (aulicum) und höfisch (curiale) sein, also der höchsten politischen und kulturellen Instanz zukommen, die es allerdings in Dantes Italien nicht gibt: ein Aufruf zur nationalen Einigung.

Dantes Aussagen in De vulgari eloquentia sind in dreierlei Hinsicht verzerrt worden: [1] Sein Anliegen sei die Verdrängung des Lateinischen durch das Italienische; [2] das Lateinische erkläre er für tot; [3] paradox oder ironisch sei es daher, dass er den Traktat auf Latein verfasst habe. Ein Beispiel aus der Einleitung zu einer neueren Textausgabe4:

A natural, spoken, living language – like Italian – is, axiomatically, superior to an artificial, unspoken, dead one – like Latin. This is a moment of extraordinary significance in Italian, indeed Western cultural history; it is the Declaration of Independence of the ‘modern languages’. 

„Eine natürliche, gesprochene, lebende Sprache wie Italienisch ist offensichtlich einer künstlichen, nicht gesprochenen, toten Sprache wie Latein überlegen. Dies ist ein Augenblick von außerordentlicher Bedeutung in der Kulturgeschichte Italiens, ja des Westens; es ist die Unabhängigkeitserklärung der ,modernen Sprachen’.“

Im selben Text heißt es über den Einleitungsteil von De vulgari eloquentia5:

This mellifluous opening paragraph, whose graceful Latinity amply demonstrates its author’s qualifications as a user of language (though ironically so, given that the subject is not Latin eloquence but its ‘vulgar’ counterpart), offers an interestingly piquant blend of authorial pride and humility.

„Dieser glatt formulierte Einleitungsabschnitt, dessen anmutiger Gebrauch des Lateinischen überzeugend die Sprachgewalt des Verfassers belegt (allerdings auf ironische Weise, da das Thema ja nicht die Beredsamkeit im Lateinischen, sondern in seinem volkssprachlichen Gegenstück ist) bietet eine auf interessante Weise pikante Mischung aus Autorenstolz und Bescheidenheit.“

Dazu: [1] Es geht Dante nicht um die fundamentale Aufhebung der Diglossie der   locutiones, sondern darum, die verschiedenen italienischen Dialekte zu vereinheitlichen, für eine κοινή der Gebildeten zu plädieren und die kreativen Möglichkeiten der Volkssprache zu potenzieren, die locutio zur eloquentia zu erheben; [2] Latein ist für ihn nicht tot, die Metapher tot wird nirgends verwendet. Der Hauptakzent der Untersuchung liegt gar nicht auf dem Gegensatz Lebendigkeit – Erstarrung, sondern Dante will ja gerade eine feste Norm für das volgare finden: „Die eine Sprache, die ewige unwandelbare Welt-Sprache der Gelehrsamkeit, setzt die Maßstäbe für die andere Sprache, die Sprache der Dichtung, die aber als geliebte Sprache der Nähe der historischen Variation ausgesetzt ist und damit das, was der Dichter schafft, der Vernichtung preisgibt und ewigen Ruhm, gloria, unmöglich macht.“6 [3] Es ist für Dante selbstverständlich, seinen Traktat in der internationalen Gelehrtensprache zu verfassen.

Dante, der ansonsten bemüht ist, alle Voraussetzungen seiner Überlegungen in De vulgari eloquentia sorgfältig darzulegen, geht daher mit keinem Wort auf diese Wahl des Lateinischen ein, auf die Wahl einer der beiden Sprachvarietäten einer Diglossie, um über die andere zu schreiben. Ein vergleichbarer, für die Zeitgenossen offensichtlich selbstverständlicher Fall: Der königliche Erlass, der 1561 der Universität Salamanca das Lateinische als Unterrichtssprache vorschreibt, ist selber auf Spanisch geschrieben, denn Kastilisch war die Sprache der Verwaltung.7

Bemerkenswert ist dagegen, dass Dantes Traktat zunächst in der Volkssprache, nicht in der Gelehrtensprache, gedruckt wurde. 1529 erschien eine italienische Übersetzung durch GIAN GIORGIO TRISSINO (1478 – 1550), und erst 1577 wurde der lateinische Text gedruckt, in Paris.

Dantes Überlegungen waren unzeitgemäß. Die glänzenden Anfänge der italienischen Literatur bei Dante, BOCCACCIO (1313 – 1375) und PETRARCA (1304 – 1374) wurden nicht weitergeführt, sondern im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert schrieben die besten italienischen Autoren auf Latein. Gerade die Humanisten Boccaccio und Petrarca waren es, die alles taten, um den Glanz des Lateinischen zu erneuern. In seinem Dialogo delle Lingue (1542) legt SPERONE SPERONI (1500 – 1588) einem Humanisten einen bezeichnenden Vergleich in den Mund, der über den zwischen zwei Arten nahrhaften Brotes hinausgeht.  Das Lateinische ist der Wein, das Toskanische der Bodensatz (la feccia), ein heruntergekommenes und verdorbenes (guasta e corrotta) Latein.8

Dante nennt das Lateinische unwandelbar (inalterabilis, I, ix 11) in Raum und Zeit; im Convivio nennt er das von ihm dort hochgerühmte Latein „perpetuo e non corruttibile“ ((I, v 7); es ist die Sprache, zu der er in seiner letzten Lebenszeit – mit dem Brief an CANGRANDE I. DELLA SCALA (1291 – 1329), seinen beiden Eklogen und der Quaestio de aqua et terra – zurückkehrt.9 ,Dead’ und ,unspoken’? Dafür finden sich in der realen Welt des Mittelalters keine Anhaltspunkte. Das mittelalterliche Latein ist „une langue vivante, sans être la langue d’une communauté ethnique.“10

Dantes Überlegungen entsprechen einer Haltung, die auch in unserer Zeit im Hinblick auf die Universalsprachen Latein (damals) und Englisch (heute) vertreten wird: Es geht damals so wie heute um solche Wege, „qui permettent d’alimenter les différentes langues maternelles sans renoncer aux bénéfices d’une langue de communication universellement partagée“.11

Den dichterischen Gebrauch des volgare illustre – neben lateinischen Gedichten (II, viii 7) und solchen in Dialekten – will Dante nur mit Einschränkungen gestatten. Es sei im Unterschied zu anderen volkssprachigen Dichtungen den höchsten (dignissima) Themen vorbehalten: Wohlergehen (salus), Minne (venus), Tugend (virtus) (II, ii 7) und nur für die Canzoni (cantiones) (II, iii). Vorbilder sollen die lateinischen Dichtungen sowie Poetiken, doctrinatae poetriae, sein, von denen er nur die des Horaz, des „Magister noster Oratius“, nennt (II, iv 3f.). Der Plural zeigt, dass er noch weitere im Sinn hat, wahrscheinlich die lateinischen Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts.12 Er nennt eine lange Liste lateinischer Dichter und Prosaautoren, zu deren Nachahmung eine amica sollicitudo (II, vi 8) die Dichter herausfordere. „Man beobachtet, wie im Lauf der Darlegung das Latein sich immer weiter vordrängt.“13.

Dantes Latein lebt. Zu Unrecht ist sein Stil als unelegantes Wissenschaftlerlatein charakterisiert worden.14 Er verwendet ein höchst differenziertes Vokabular und kühne eigene Fügungen und Wortschöpfungen. So ist die Übeltäterin nequitatrix (I, vii. 2), astripeta aquila (II, iv 11) ist der zu den Sternen aufsteigende Adler. Auch Dantes Italienisch ist voll von Wortschöpfungen, die dem Lateinischen entnommen sind.15

Er koloriert die abstrakte, systematische Analyse mit Dichterzitaten, mit Kostproben der auf den Gassen Italiens gesprochenen Dialekte und mit zahlreichen Metaphern und Vergleichen aus allen Lebensbereichen (vgl. etwa II, i). Wissenschaftliche

Präzision verbindet sich mit poetischem Glanz. Das zentrale Beispiel: die in I, vi 1 erstmalig verwendete Jagdmetapher (für die Suche nach der Ursprache). Sie wird

(ab I, ix 1) wieder aufgegriffen und bis gegen Ende von Buch I (xvi) fortgeführt, für die Suche in ganz Italien nach dem vulgare illustre. Als so schwierig erweise sie sich wie die Netzjagd nach einem Panther: Sein Geruch sei allgegenwärtig, ihn im Wald – dem Wirrwarr der Dialekte – zu fassen, unmöglich:

Postquam venati saltus et pascua sumus Ytalie, nec pantheram quam sequimur adinvenimus, ut ipsam reperire possimus rationabilius investigemus de illa ut, solerti studio, redolentem ubique et necubi apparentem nostris penitus irretiamus tenticulis. (I, xvi 1).

Dantes Aktualität ist überall greifbar. Zwei Beispiele: die Bemühungen um die Wahrung der Sprachenvielfalt gegenüber der Welt- und Wissenschaftssprache Englisch sowie die spanische Debatte um die Geltungsbereiche (den jeweiligen ,Rang’) der vier Staatssprachen. Eine Parallele findet sich auch auf einem anderen Kontinent, in Indien.

So steht einer Studie mit dem Titel „Dante and the ‘Quest for Eloquence’ in India’s vernacular languages“16 ein Wort des indischen Dichters KABIR  (1440 – 1518) voran, das mitten in den Vergleich hineinführt: „Sanskrit ist wie das Wasser eines tiefen Brunnens, aber die Volkssprache ist wie ein fließender Strom.“ Die Untersuchung kommt zu folgendem Fazit für das heutige Indien:

Thus for the modern vernacular languages of India taken together, with English among them, it may be said that they are now quite obviously in free competition for literary primacy, and that the “ground rules“  for their competition are virtually identical with those recommended by Dante in his De Vulgari Eloquentia. And it may be that they will finally enjoy many centuries of such competition before a Dante emerges among them who can command the absolute approval and acceptance of all his fellow writers in the vernaculars as India’s truly national poet. India’s next equivalent of Dante will surely not write his masterpiece in English – Gandhi’s spirit would never allow it; yet it is likely that, whatever his native regional language, he is apt to know English, too, at least as well as Dante knew the supra-regional language of his day in which he wrote his treatise on eloquence in the vernacular.

„So kann man über die modernen Volkssprachen Indiens zusammengenommen, darunter Englisch, sagen, dass sie nun ganz offensichtlich miteinander um die literarische Führungsrolle wetteifern, und dass die „Grundregeln“ für ihren Wettbewerb

fast dieselben sind, wie die, die Dante in seinem De Vulgari Eloquentia empfahl. Und es mag sein, dass dieser Wettbewerb viele Jahrhunderte dauern wird, bis ein Dante aus ihrer Mitte hervortritt, der sich die uneingeschränkte Billigung und Anerkennung als Indiens Nationaldichter durch die anderen volkssprachlichen Autoren sichern kann. Indiens ungefähres Gegenstück zu Dante wird sein Meisterwerk gewiss nicht auf Englisch schreiben – das würde der Geist Ghandis nie erlauben. Aber er dürfte auch Englisch können, und zwar mindestens so gut wie Dante die überregionale Sprache seiner Zeit beherrschte, in der er seinen Traktat über die Beredsamkeit in der Volkssprache schrieb.“

Rang und Gebrauch des Lateinischen schienen im Zeitalter des Humanismus unantastbar. Erst im 16. Jahrhundert setzten sich die Volkssprachen immer stärker durch. Im Jahr der Entdeckung Amerikas erschien die erste kastilische Grammatik von ANTONIO NEBRIJA (1444 – 1522). Nebrija überwand die mittelalterliche Vorstellung, die gramatica sei eine Erfindung der Gelehrten gewesen. 1550 erschien die französische  Grammatik von LOUIS MEIGRET (um 1500 – nach 1558). Aus dieser Zeit (1535) stammt Juan de Valdés’ Lehrgespräch Diálogo de la lengua.

Juan de Valdés studierte an der Universität von Alcalá. Er schloss sich einem Kreis von Erasmisten an und veröffentlichte 1529 seinen Diálogo de doctrina cristiana, in dem er Ideen der Reformation aufgriff. Als die Inquisition ein Verfahren gegen ihn einleitete, verließ er Spanien für immer und ließ sich in Neapel nieder, wo er sich theologischen Studien und der Bibelübersetzung widmete. Der Diálogo de la lengua gilt als sein bedeutendstes Werk, das allerdings erst 1737 gedruckt wurde. Er ist wie alle seine Werke auf Spanisch verfasst.

Er führt sich selber als Teilnehmer eines fiktiven Gespräches auf einem Landgut bei Neapel ein, wo er mit zwei Italienern und einem Landsmann über das Kastilische spricht, das in jenen Jahren dabei war, seinen Siegeszug durch Europa und um die Welt anzutreten. Wieso schreibt er auf Spanisch für italienische Leser, und wieso befasst er sich überhaupt mit einem sprachlichen Thema? Sein übriges Werk ist theologischer Natur, und er sieht sich selbst als Dilettanten in sprachlichen Fragen (S.123).

Die Antwort dürfte sein, dass Valdés seinen italienischen Lesern einen Leitfaden zur Einführung in Aussprache, Wortschatz und Grammatik des Kastilischen liefern möchte, damit sie seine theologischen Schriften besser verstehen. Daher die schlichte Sprache, nicht frei von Italianismen, daher die Dialogform. Der Leitfaden richtet sich an Italiener, die genug Spanisch können, um den Diálogo als Hilfe für die Lektüre komplexerer Werke nutzen zu können. Eine spanische Grammatik für Italiener gab es nicht, entsprechende Werke erschienen erst Jahre später.17

Kastilisch, Latein, Toskanisch sind bei Valdés klar unterschiedene Sprachen. Seine Ausführungen zu ihrer Rangordnung sind  – ähnlich wie bei Dante – uneinheitlich. Das Lateinische besitzt mehr Würde als die beiden anderen Sprachen, und das Toskanische scheint, wegen seiner größeren Nähe zum Lateinischen, dem Spanischen überlegen, (S.257). Ein zweiter Blick zeige jedoch, dass viele spanische Wörter nur deformierte, (‚maskierte’)  lateinische Wörter seien („[vocablos] enmarascados“: S. 259). Die Frage der Rangfolge von Toskanisch und Kastilisch bleibt also am Ende des Dialogs offen.

Was er aber einräumt: seine Muttersprache weise anders als das Toskanische keine bedeutenden Autoren auf, Modelle für den korrekten Sprachgebrauch (S. 123). Mit einem Federstrich tut Valdés so die ganze reiche mittelalterliche Literatur Spaniens ab. Solche vorbildlichen Autoren seien Boccaccio und Petrarca. Einstweilen müssen ihm daher die zu Sprichwörtern geronnene Volkssprache sowie der Sprachgebrauch des toledanischen Hofes als Sprachnorm dienen. Brüsk lehnt Valdés die Autorität Antonio de Nebrijas ab, der als Andalusier keine Autorität für das Kastilische sei (S. 124). Das

Kastilische stamme, wie etwa Katalanisch und Portugiesisch, direkt vom Lateinischen ab (S. 139). Die Ursprache der Iberischen Halbinsel sei das Griechische gewesen, das vom Lateinischen abgelöst worden sei (S. 132 ff.). Beeinflusst worden sei das Kastilische auch vom Gotischen, dann vom Arabischen, die eigentliche Substanz („el principal fundamento“, S. 139) der Sprache aber sei das Lateinische.

Wie bei Dante – und aus demselben Grund wie bei ihm – sind die Ausführungen Valdés über den Rang der Volkssprache nicht einfach auf einen Nenner zu bringen.

Sie hängen – wie bei Dante – von der jeweiligen Wahl der Perspektive ab. Zu Anfang

des Dialogs lässt der Autor durch den Gesprächsteilnehmer Marcio die natürliche Sprache vor der Büchersprache rühmen, unter Berufung auf PIETRO BEMBO  (1470 – 1547).  Er spricht dabei nicht von der Ammenmilch wie Dante, sondern von der Muttermilch: „que mamamos en las tetas de nuestras madres“ („die wir an den Brüsten unserer Mütter saugen“: S. 122). Sie gelte es zu bereichern.

Aber: das Kastilische ist deformiertes Latein, ihm also unterlegen. Im Toskanischen gebe es mehr Wörter, die unmittelbar als lateinische zu erkennen seien, im Kastilischen dagegen entpuppten sich viele Wörter erst auf den zweiten Blick als lateinische (S. 259). Als Beleg wählt er spanische Sprichwörter. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten von Übersetzungen betont Valdés dann die Vorzüge jeder Einzelsprache. Das ist derselbe Gedanke, den schon Jahrhunderte früher BEDA VENERABILIS (672/673 – 735) – im Hinblick auf die Übersetzung aus dem Angelsächsischen ins Lateinische – formuliert hat: „neque enim possunt carmina, quamvis optime composita, ex alia in aliam linguam ad verbum sine detrimento sui decoris ac dignitatis transferri“ (Hist. Eccl. Gent. Angl. IV, 24)18. Valdés: „(…) unas cosas se dizen en una lengua bien, que en otra no se pueden dezir assí bien; y en la mesma otra ay otras que se digan mejor que en otra ninguna.“ – „Einige Dinge lassen sich in einer Sprache gut sagen, die man in einer anderen nicht so gut sagen kann; und in ebendieser anderen gibt es wiederum Dinge, die sich besser sagen lassen als in jeder anderen.“ (S. 226).

Zu Valdés’ Zeit bestand in Spanien eine andere Sprachsituation als im Italien Dantes. Es gab zwei öffentliche Sprachen, Kastilisch und Latein. Die Literatur gehörte in den Bereich des Kastilischen, ebenso Verwaltung und mündliche Predigt. Wissenschaft, gedruckte Predigt- und Erbauungsliteratur, Bildungswesen und zwischenstaatlicher Verkehr gehörten zur Sphäre des Lateinischen.19

Spanisch war längst auf dem Weg zur Weltsprache und beim Aufstieg zu den Gipfeln

seiner klassischen Literatur. Valdés erwähnt, es sei im italienischen Adel Mode, Spanisch zu lernen: „[…] en Italia assí entre damas como entre cavalleros se tiene por gentileza y galanía saber hablar castellano“– „In Italien gilt es unter Damen wie unter Herren als Zeichen von Anmut und Takt, Spanisch sprechen zu können“. (S. 119). CERVANTES

(1547 – 1616) schreibt 1617 hyperbolisch: „ … en Francia ni varón ni mujer deja de aprender la lengua castellana“ (Persiles y Sigismunda, III, 13): „In Frankreich gibt es nicht Mann noch Frau, die nicht Spanisch lernten.“.

Ein ganz anderes Sprachbewusstsein brach sich Bahn: Anderthalb Jahrhunderte nach dem Diálogo de la lengua bilanziert ein spanischer Autor, nunmehr übertreffe dasselbe Land, das eine Zeitlang in sprachlichen Dingen als grob und barbarisch („grosera y barbara en el lenguaje“) gegolten habe, die größten Werke der Antike.20

Anmerkungen:

  Alle Zitate aus De Vulgari eloquentia entstammen der Ausgabe von Vittorio Coletti, Mailand, 2011 (1991) (zweisprachig Latein – Italienisch).

Alle Zitate aus dem Diálogo de la Lengua entstammen der Ausgabe von Cristina Barbolani (Cátedra – Letras Hispánicas), Madrid 2006 (1982)

Alle Zitate aus Convivio entstammen der Ausgabe von Giorgio Inglese, Mailand 1993.

2      Leonardo Bruni zitiert nach Eugenio Coseriu, Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft, Band 1, Tübingen 2003, S. 153.

3     F. Marx in Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 23 (1909), S. 434. Zitiert nach: Friedrich Stolz, Geschichte der lateinischen Sprache, Leipzig 1910, S. 131.

4      De Vulgari Eloquentia, hrsg. und übers. von Steven Botteril (Cambridge Medieval Classics 5), Cambridge 2005 (1996), S. xviii.

5      Ebd., S. xvi.

6     Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein. München 2006, S. 86.

7     Harald Weinrich, „Das spanische Sprachbewußtsein im Siglo de Oro“, in: Wege der Sprachkultur, München (dtv) 1988, S. 155 – 180. Hier: S. 156.

  Zitiert nach der Ausgabe von Mario Pozzi (zweisprachig Französisch – Italienisch), Paris (Les Belles Lettres) 2009, S. 3. Derselbe Sprecher spielt auch auf Dantes Brotvergleich an, S. 11.

  Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen und Basel 1993 (1948) S. 357.

10  Christine Mohrmann, Le dualisme de la Latinité médiévale, in: Revue des Études Latines 29, Paris 1951, zitiert nach Joseph Pieper, Hinführung zu Thomas von Aquin, Freiburg im Breisgau 1967, S. 95.

11    Michele Prandi, „Écriture bilingue et traduction dans le passé et dans le futur des langues d’Europe“  in Figurationen 10, 1-2, Mehrsprachiges Denken, hrsg. von Marco Baschera 2009, S. 91 ff., hier: S. 92.

12    Curtius, a.a.O:, S. 359.

13    Ebd., S. 360

14   Von Wilfried Stroh in Latein ist tot, es lebe Latein, Berlin, 6. Aufl. 2007, S. 162f.

Vgl. im Gegensatz dazu das oben (Anm. 5) kommentierte englische Zitat. Stroh

nimmt nicht das Textganze in den Blick, sondern wählt eine theoretische Darlegung vom Anfang des Traktates (I, 2) und misst dieses Zitat mit pedantischer Elle am klassischen Latein.

15     Curtius, a.a.O., S. 356.

16     Von Anne und Henry Paolucci, in: Dante beyond the Commedia hrsg. von Anne Paolucci, Wilmington 2004, S. 75 – 162. Das Zitat auf S. 160.

17   Vgl. dazu die Angaben in der Einleitung von Juan M. Lope Blanch zu seiner Ausgabe des Diálogo de la lengua (Clásicos Castalia), Madrid S. 185, S. 11f.

18    Vgl. Christoph Wurm, „Die Sprachen des Beda Venerabilis“, in: Forum Classicum 4/2012, S. 290 – 296, hier: S. 295.

19     Weinrich, a.a.O., S. 155f.

20     Fray Jerónimo de San José, zitiert bei Weinrich, a.a.O., S. 169.

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