Nimm und lies – Der weite Weg zum guten Buch

von Christoph Wurm – Dieser Aufsatz erschien zuerst in Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologen-Verbandes NRW, Heft 2/2019, S. 45-52.

Wer mit der Geschichte des Alphabets nicht vertraut ist, könnte sich ungefähr folgendes Bild von seiner Entstehung machen. Irgendwann ,in grauer Vorzeit’ beginnt man, optische Zeichen als Gedächtnisstützen zu verwenden. Nach und werden solche Bilder zu Schriften systematisiert; Bilder- oder Silbenschriften führen schließlich zum (phonemischen) Alphabet. Die entstandenen Texte – gleichgültig, ob es sich um Notizen oder Großtexte handelt – sind mühelos lesbar für jeden, der lesen kann.

In Wirklichkeit haben sich die Dinge in Europa jedoch keineswegs so gradlinig entwickelt. Zunächst zur ,grauen’ Vorzeit: warum sie weniger farbig, wenig abenteuerlich gewesen sein soll als die unsere, ist unklar. ,Vor-Zeit’ ist die Zeit vor Christus auch nicht.

Ab dem zwanzigsten Jahrhundert vor Christus trat auf Kreta eine bis heute nicht entschlüsselte Hieroglyphenschrift auf, die bis in 15. Jh. v. Chr. gebräuchlich blieb; möglicherweise war sie aus Kleinasien importiert worden. Aus diesen Hieroglyphen entwickelte sich die sogenannte Linear-A-Schrift, die vom 17. bis ins 15. Jh. v. Chr. verwendet wurde; sie ist nur in Ansätzen entziffert. Und aus ihr wiederum ging die Linear-B-Schrift hervor, die Silbenschrift der sogenannten ,mykenischen’ Kultur Griechenlands, der ersten Hochkultur auf dem europäischen Festland.

Sie wurde 1952 von dem jungen britischen Architekten und Linguisten Michael Ventris entziffert, nach Vorarbeiten anderer Forscher. Die mykenische Kultur verwendete eine frühe Form des Griechischen. Es entstehen Schriftstücke, von denen uns manche erhalten sind, keine Großtexte, sondern Gedächtnisstützen und Listen; ob es schriftliche Dichtung gab, ist unklar. Mit dem – bis heute nicht erklärten – Niedergang dieser Hochkultur im 12. Jh. v. Chr. werden Lesen und Schreiben wieder verlernt. Erneut bilden sich die Kommunikationsformen einer mündlichen Gesellschaft heraus.

Rund 400 Jahren Schriftlosigkeit – dann entdecken im achten Jahrhundert vor Christus die Griechen die Schrift neu. Sie übernehmen im Rahmen ihre Handelsverkehrs die Schrift von den Phöniziern, verändern aber deren Konsonantenschrift zum griechischen Alphabet, das sich in den verschiedenen Regionen uneinheitlich entwickelt. Die kleinasiatisch-ionische Variante wird 403 v. Chr. unter Eukleides, dem ersten Archon nach der Vertreibung der Tyrannen, offiziell zur Staatsschrift Athens geadelt. Die übrigen griechischen Staaten folgen nach, und die ionische Schreibweise wird zum griechischen Einheitsalphabet, Mutter aller europäischen Alphabete, von α bis ω. Nicht: ὦ μέγα, diese Bezeichnung kam erst viel später auf, in byzantinischer Zeit, als die Vokalquantitäten verwildert waren.

Ursprünglich benutzten die Griechen nur Majuskeln. Im Alltag entwickelte sich frühzeitig eine geläufigere Schreibweise (Kursivschrift), aus der in byzantinischer Zeit die Minuskeln hervorgingen. Unsere lateinischen Schriftzeichen wurden wahrscheinlich durch etruskische Vermittlung bei den Griechen entlehnt. Die ältesten uns erhaltenen Spuren der lateinischen Sprache stammen aus dem 6. Jh. v. Chr., die ersten größeren Texte aus dem 3. und 2. Jh. v. Chr.

Die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der Schrift mussten im 8. Jh. erst wieder nach und nach neu entdeckt werden. „Equipped with this remarkable new invention, the Greeks could now record everything imaginable, from the owner’s name scratched on a clay jug to a book-length poem like the Iliad.“1 Das ist zwar richtig, aber der Prozess der Textualisierung benötigte mehrere Jahrzehnte. Erst Homer brachte „den eigentlichen Durchbruch der griechischen Kultur des 8. Jahrhunderts zur Textualität.“2 Seine Werke entsprachen offensichtlich dem Bedürfnis des Adels, den eigenen Werten ein dauerhaftes und ortsunabhängiges Denkmal zu setzen.

An einer Stelle der Ilias ist von der Schrift die Rede. Glaukos rühmt dem Diomedes gegenüber den Helden Bellerophontes. Der sei in mörderischer Absicht von dem König Proitos nach Kleinasien zu dessen Schwiegervater gesandt worden.

Proitos gab dem Bellerophontes ein zusammengeklapptes Täfelchen für seinen Schwiegervater mit, auf dem „todbringende Zeichen“, σήματα θυμοφθόρα, eingeritzt waren, die Instruktion nämlich, Bellerophontes aus der Welt zu schaffen; dies ist die einzige Homerstelle, wo vom Schreiben die Rede ist. „Wir würden gerne wissen, was mit ,Zeichen’ genau gemeint ist, etwa die Silbenschrift Linear-B oder schon die phönizische Alphabetschrift (…). Doch vielleicht ist auch an irgendwelche Geheimzeichen, wie sie zwischen Königshäusern üblich gewesen sein mögen, gedacht.“3

Die Verschriftlichung der homerischen Epen war „something like a thunder-clap in human history”4, so der amerikanische Gräzist und Mündlichkeitsforscher Eric A. Havelock. Wenn Homer wie üblich als der erste Dichter Europas betitelt wird, ist das nur ein Teil der Wahrheit. Er ist der Begründer der Textualität in Europa. Ilias und
Odyssee sind der Ausgangspunkt der europäischen Literatur, nicht nur der fiktionalen, sondern auch der wissenschaftlichen. Kausalketten, logisches Argumentieren in Rede und Gegenrede, bemerkenswert exakte Beobachtung und Beschreibung von Naturphänomenen, rational-methodische Vorgehensweise – etwa des Arztes ­ –, all das finden wir bei Homer.

Etwas besonders Bemerkenswertes hat Joachim Latacz in seinem großen Homer-Buch pointiert dargestellt: „Die Literalität des Abendlandes hätte einen anderen Verlauf genommen, hätten die Griechen damals [=bei der Übernahme des Alphabets von den Phöniziern] im gleichen Geist gehandelt wie später ihre etruskischen, römischen und mittelalterlichen Nachfolger: diese alle übernahmen von ihren jeweiligen Lehrmeistern zusammen mit der Schrift auch die Literatur (und eben dadurch ist die einheitliche Literatur von Homer bis zur Literatur der Gegenwart ermöglicht worden). Die Griechen als einzige entschieden damals anders. Sie lösten das Instrument von den Produkten ab und nutzten es zur Schaffung einer eigenen Literatur. Die Werke, die sie an den Anfang des auf diese Weise neubegründeten Literalitätsstrangs stellten, waren nicht Fremdimporte, sondern Schöpfungen des eigenen Geistes: Ilias und Odyssee.“5

In der römischen Kaiserzeit verbreitet sich die griechisch-römische Schriftkultur im ganzen Reich. Die Gebildeten nutzen Buchhandlungen und Bibliotheken. Keineswegs nur sie konnten schreiben, was uns etwa die Graffiti aus Pompeji zeigen, aber der prozentuale Anteil der Alphabetisierten an der jeweiligen Gesamtbevölkerung ist natürlich unmöglich exakt zu rekonstruieren. Wann immer solche Schätzungen
vorgenommen wurden, lösten sie Kontroversen aus.6

In der Antike gab es eine scharfe Schriftkritik. Ein berühmtes Beispiel ist Cäsars Hinweis auf die Haltung der Druiden zur Schrift. Im Rahmen seiner Darstellung der keltischen Sitten im sechsten Buch von De Bello Gallico (VI, 14, 3) berichtet er: Das griechische Alphabet sei bei den Galliern weit verbreitet. Die Druiden aber haben, so Caesar, auf die schriftliche Aufzeichnung ihrer Lehre, ihrer disciplina, verzichtet, um sie so als Geheimwissen zu schützen und um das Gedächtnis der Schüler nicht zu beeinträchtigen, die alles auswendig lernen (ediscere) müssen, während die Gallier „in fast allen übrigen Dingen, öffentlichen wie privaten Angelegenheiten, das griechische Alphabet benutzen. (cum in reliquis fere rebus, publicis privatisque rationibus, Graecis utantur litteris)“.

In Platons Phaidros (274b ff.) wird von Sokrates ein anderes Argument gegen die Schrift vorgebracht. Nicht nur für das Gedächtnis sei sie schädlich, sondern sie suggeriere dem Leser, Dinge verstanden zu haben, die er in Wirklichkeit gar nicht begriffen habe, was im lebendigen Dialog mit einem Lehrer vermieden werden könne. Man denkt an die Frage des Philippus an den Leser des Propheten Jesaja in der Apostelgeschichte (8, 30) Ἆρά γε γινώσκεις ἃ ἀναγινώσκεις; – „Verstehst du auch, was du liest?“

„Das Buch sagt immer dasselbe. Dies zeigt sich, wenn der Hörer oder Leser eine Frage hat zu dem, was im Buch gesagt ist: die einzige ,Antwort’ ist die Wiederholung des schon bekannten Wortlauts. Von wirklicher Kommunikation scheint das Platon so weit entfernt zu sein, daß er die Schrift in dieser Hinsicht den leblosen Figuren der Malerei gleichstellt (275 d 4 – 9).“7 Einen selbständigen Wert – so Sokrates – besitze die Schrift nicht, ihre ganze Leistung liege in der Erinnerung an das gesprochene Wort: erst erörtern, dann schreiben!
Was die Form des Buchs betrifft, so verwendete man in erster Linie die Rolle, das ,volumen’, zumeist aus dem Mark der Papyruspflanze, das in Streifen geschnitten, kreuzweise zusammengelegt, oft noch mit Leim bestrichen, zu Blättern gepresst und dann zur Rolle gefügt wurde. Wenn es etwa in modernen Bibelübersetzungen von Jesus aktualisierend heißt, dass er ein Buch ,öffnete’, las und es später wieder ,schloss’ (Lk. 4, 17 und 4, 20), so ist damit das Entrollen (ἀναπτύσσειν = volvere, revolvere) und Zusammenrollen (πτύσσειν = plicare) der Buchrolle (βιβλίον = volumen) gemeint

Schriftrolle und Kodex hatten jeweils Vor- und Nachteile. Die Rolle war in der Regel nur einseitig beschrieben, lange Rollen aber waren unhandlich, und durch ihr Gewicht erhöhte sich die Gefahr des Einreißens. Die Rolle war leicht zu handhaben, weil sie ohne ständiges Umblättern gelesen werden konnte. Umständlich war jedoch das Auf- und Entrollen beim Nachschlagen und Vergleichen von Passagen, die weiter von einander entfernt waren. Rollen konnten zu beliebiger Länge erweitert werden. Sie waren daher besonders geeignet für sich anhäufende Aufzeichnungen im Verwaltungsbereich, weshalb sie bis ins Mittelalter Verwendung fanden.8

Auch das Schreibmaterial änderte sich. Das Pergament, geglättete und geweißte Tierhaut, ersetzte den Papyrus, denn es war wesentlich robuster und leichter zu beschaffen. Man konnte es abschaben und einen anderen Text darauf schreiben. Die Papyruspflanze wuchs auch außerhalb Ägyptens, aber alles deutet darauf hin, dass das Schreibmaterial nur dort hergestellt und in alle Mittelmeerländer exportiert wurde.9
Älteste Pyramidentexte belegen, dass die Papyrusrolle bereits ein eigenes Hieroglyphenzeichen hatte.10 Die bearbeitete Tierhaut als Schreibfläche hatte ihren Namen περγαμηνόν nach dem bekanntesten Herstellungsort, Pergamon.

Pergamentrollen und Papyruskodizes waren gebräuchlich, aber die Kombination Kodex plus Pergament setzte sich schließlich durch, denn sie verhieß mehr Robustheit plus mehr Speicherkapazität.

Es kam vor, dass längere Texte auseinandergerissen wurden. So wurden etwa Evangelium und Apostelgeschichte des Lukas – bis heute! – getrennt, obwohl sie inhaltlich nach dem Willen des Verfassers eine Einheit bilden (vgl. Apg., 1,1), und der zweite Teil des Doppelwerks ist schlechter überliefert, denn sein Text „a été beaucoup moins bien protégé que celui des sacro-saints évangiles“ („wurde wesentlich weniger gut geschützt als der der sakrosankten Evangelien“).11

Bemerkenswert ist, dass die junge christliche Kirche erheblich zur Verbreitung des Kodex beiträgt; ein besonders schönes und bekanntes Beispiel ist der Sinaiticus aus dem 4. Jh. n. Chr., heute in der British Library in London.12

Dem Sieg des Lesens im modernen Sinne stand noch eine letzte Hürde entgegen. In der Antike waren anspruchsvollere Texte dazu bestimmt, laut gelesen zu werden. Die beiden Verben ἀναγι(γ)νώσκειν und ,legere’ bedeuten dementsprechend sowohl ,lesen’ als auch ,vorlesen’. Daher die ausgefeilte Lautgestalt griechischer und römischer Texte, daher der Einsatz von Assonanz, Alliteration, Lautmalerei. Philippus stellt die oben zitierte Frage, weil er, wie es an der Stelle ausdrücklich heißt, den Leser lesen hört (ἤκουσεν).

Und so erhebt Thukydides zu Beginn seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs den Anspruch, seine Darstellung solle „Besitz auf ewig“ (κτῆμα ἐς ἀεί) sein, kein
„Prunkstück für das einmalige Hören“ (ἀγώνισμα ἐς τὸ παραχρῆμα ἀκούειν) (I, 22).

Hier das Beispiel eines Satzes, aus einem Prosatext, der nur laut gelesen seine ganze Wirkung entfaltet. Livius beschreibt (XXXIX, 1) eine Sühneleistung für bedrohliche Vorzeichen vor einer Reise folgendermaßen: „Priusquam consules praetoresque in provincias profiscerentur, prodigia procurari placuit.“ Ist das noch Alliteration oder schon Kakophonie? In jedem Fall ist es für das Hören bestimmt.

Leser und Zuhörer waren zur Wahrnehmung feinste Lautnuancen in der Lage. Cicero bemerkt (Orator, 51, 173), bei nur einer zu langen oder zu kurzen Silbe erhebe sich in den Theatern Protestgeschrei, und zwar des ganzen Publikums („theatra tota exclamant“).

Lautes Lesen drosselt die Lesegeschwindigkeit maximal und beschränkt so die zu bewältigende Textmenge. Das innere Mitsprechen zugunsten des speed reading auszuschalten, und sei es durch Kaugummikauen, – das ist die erste Forderung aller Trainingsprogramme zum schnelleren und effizienteren Lesen.

In der Klosterstille des frühen Mönchstums wurde es dann üblich, jeweils situativ bedingt, entweder laut oder murmelnd oder aber: stumm zu lesen. Und wir besitzen endlich die Möglichkeit, Wälzer jedes Kalibers sowie Tetralogien, Pentalogien, Hexalogien zu bewältigen, ohne Störung der Nachbarn in U-Bahn oder Bus.

Wobei die, den weißen Knopf im Ohr, in der Regel ohne einen Wimpernschlag auf ihre Smartphones starren, auf Minimalbotschaften trivialen Inhalts und problematischer Orthographie – so wie wir alle.

Anmerkungen

1 Moses I. Finley, The World of Odysseus, Second Revised Edition, Harmondsworth 1979 (1978), S. 19

2 Homer – Der erste Dichter des Abendlandes, 2., durchgesehene Aufl., München und Zürich 1989, S. 27

3 Gustav Adolf Seeck, Homer. Eine Einführung. Stuttgart (Reclam) 2004,
S.92f.

4 Eric A. Havelock, The Alphabetization of Homer. In: E. A. Havelock/J. P. Hershbell, Communication Arts in the Ancient World, New York 1978, S. 3 – 21, hier: S. 3

5 a.a.O., S. 29

6 Alan R. Millard, Pergament und Papyrus, Tafeln und Ton. Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu. Biblische Archäologie und Zeitgeschichte Bd. 9., Giessen 2000, S. 154ff.; deutsche Ausgabe von Reading and Writing in the Time of Jesus, Sheffield 2000.

7 Thomas A. Szlezák, Platon lesen, Stuttgart-Bad Canstatt 1993, S. 63

8 Millard, a.a.O., S. 59

9 Millard, a.a.O., S. 20

10 Helmut Burkhardt, Fritz Grünzweig, Fritz Laubach, Gerhard Maier, Das große Bibellexikon, Wuppertal/Gießen, 1996 (1987), Bd. 1, S. 317, s.v. ,Buch’. „Der älteste uns heute bekannte ägyptische Papyrus ist ein Brief aus Saqqära, aus der 6. Dynastie (um 2325 – 2155 v.Chr.).“

11 Daniel Marguerat, Un admirable christanisme. Relire les Actes des apôtres, 2. Aufl., Bière, 2013, S. 10f.

12 Er ist in hervorragender technischer Aufbereitung einsehbar auf der Webseite codexsinaiticus.org

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