Rom und Latein in der Literatur des spanischen Goldenen Zeitalters

von Christoph Wurm – 04/2013

Im Spanischen besagt eine weitverbreitete Redensart, jemand könne Latein  (sabe latín). Wer meint, so werde jemandem sprachliche Bildung bescheinigt, sieht sich getäuscht: Die Redensart will besagen, dass eine(r)  schlau, gewitzt, gerissen, mit allen Wassern gewaschen ist. Ein Handbuch zur spanischen Idiomatik etwa liefert das Beispiel „Es wird immer schwieriger, in diesem Fluss Forellen zu fangen, die können anscheinend  Latein.“ (1) In einem Lexikon findet man das Satzbeispiel „Der kann zu viel Latein, den kannst du nicht übers Ohr hauen.“ (2).

Woher stammt diese Assoziation? Die Beschäftigung mit der spanischen Literatur des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, des Siglo de Oro, könnte eine Antwort liefern.

In dieser Epoche steigt Spanien nach Ende der Araberherrschaft  (2. Januar 1492) zur See- und Weltmacht auf, überschreitet diesen Zenit aber – nach dem Untergang der Armada 1588 – wieder. Zugleich aber beginnt die höchste Blüte  des Siglo de Oro. In seiner Kulturgeschichte L’Espagne au Siècle d’or schreibt MARCELIN DEFOURNEAUX (3):

Dans le “débat des armes et des lettres“ qu’il place dans la bouche de Don Quichotte, Cervantes se divertit à mettre en parallèle les travaux et misères qui sont le lot de l’étudiant et du soldat, pour accorder à ce dernier la palme de l’endurance et du mérite. Étudiants et soldats: les uns et les autres ont fait le Siècle d’or , mais tandis que s’incline, sur les champs de bataille d’Europe , la supériorité des armes espagnoles, l’Espagne s’impose à ses adversaires par l’ hégémonie de sa culture. Les anciens étudiants de Salamanque et d’Alcalá relaient, pour la gloire de leur patrie, les soldats et les capitaines des tercios.

„Im Streit der Waffen und der Wissenschaft, den er Don Quijote in den Mund legt,

unterhält Cervantes sich damit, die Mühen und Nöte des Studenten denen des Soldaten gegenüberzustellen, um dann schließlich diesem letzteren die Siegespalme der Ausdauer und des Verdienstes zuzusprechen. Studenten und Soldaten – die einen wie die anderen haben das Siglo de Oro geschaffen, aber während die Überlegenheit der spanischen Waffen auf Europas Schlachtfeldern schwindet, überwindet Spanien seine Widersacher durch die Vormachtstellung seiner Kultur. Die Absolventen von Salamanca und Alcalá de Henares lösen, zum Ruhme ihrer Heimat, die Soldaten und Hauptleute der spanische Regimenter ab.“

Im Bildungswesen sind Latein und Griechisch allgegenwärtig. Schüler lernen die Sprachen

im Privatunterricht, in städtischen Schulen oder in Klosterschulen. Besonderer Nachdruck liegt dabei auf der Kunst, lateinische und spanische Verse zu verfassen , ein Umstand – so der Romanist LUDWIG PFANDL – „der viel dazu beiträgt, dass die mittelmäßigen Verseschmiede zu Hunderten Lyrik und Drama ihrer Zeit verschandeln und heute die Literaturgeschichte beschweren.“ (4).

Zahlreiche Universitäten entstehen in dieser Zeit  in einem Land, das mit seiner ältesten Hochschule Salamanca bereits eine der altehrwürdigen Universitäten Europas besitzt: Omnium scientiarum princeps Salamantica docet, so ihr Hexameter-Wahlspruch.

Rivalin Salamancas ist die von Kardinal JIMÉNEZ DE CISNEROS (1436 – 1517), dem Erzbischof von Toledo und Kanzler Kastiliens, gegründete Universität Alcalá de Henares.

In einer Komödie LOPE DE RUEDAS (um 1510 – 1565) findet sich folgender Dialog zwischen dem  – passend benannten –  Narren Salamanca und dem Lehrer Quintana (5):

Salamanca: Vámonos ad comedendum ad posatam.

Quintana:    ¿Qué dizes? ¿Qué algarabía es éssa?

Salamanca: ¿Algarabía es ésta? Es gramátula, y aun de la más fina de Alcalá de Henares.

Salamanca: Gehen wir zur Herberge zum Essen (er bildet auf Latein das spanische a comer

                         a la posada nach).

Quintana:    Was sagst du? Was für ein Kauderwelsch (unverständliches Arabisch)

ist das denn?

Salamanca: Kauderwelsch? Das ist Latein, und sogar feinstes Alcalá de Henares-Latein.

Die Bildung mag auf eine kleine Elite beschränkt sein – die Masse des Volkes besteht aus Analphabeten – sie wird aber exportiert: Schon 1536 wurde in Mexiko das Kolleg Santa Cruz de Tlatelolco gegründet, eine Ausbildungsstätte, wo ausgewählte Söhne der indianischen Elite in klösterlicher Disziplin zu Verbreitern der christlichen Botschaft und der klassischen Bildung herangebildet wurden – ein Vorgang, der im Umgang der Puritaner mit den Ureinwohnern Nordamerikas undenkbar war. Die Schulausbildung war so gut, dass sie „besser Latein konnten als mancher spanische Priester.“ (6)

Alle Genres der spanischen Literatur verraten den profunden Einfluß der Antike, die Sonettdichtung genauso wie die Fronleichnamsspiele CALDERÓNS (1600 – 1681), Novellen und Romane genauso wie Theaterstücke. Bei Leserschaft und Theaterpublikum wird dabei –  wie Anspielungen und Zitate zeigen – auch Entlegenes aus antiker Mythologie und Geschichte als bekannt vorausgesetzt. So sind nach CERVANTES (1547 – 1616) die gitanos Experten in der Wissenschaft des Cacus (7). FRANCISCO DE QUEVEDO (1580 – 1645) vergleicht  eine kalorienarme Fleischbrühe ohne allzu viele Fettaugen mit dem Quellwasser, in dem sich Narcissus  spiegelte (8). Als ANDRÉS FERNÁNDEZ DE ANDRADA  (1575 – 1648) in seiner an HORAZ orientierten Epístola Moral seinen Freund Fabio dazu bewegen will, nach Sevilla zurückzukehren, fordert er ihn zur Rückkehr in den Schoß der antigua Romúlea auf (Colonia Iulia Romula Hispalis) (9).

Lateinische Zitate erscheinen ohne Erläuterung, etwa in Cervantes’ Novelle El licenciado Vidriera (Der gläserne Lizenziat) (10):

„Ich weiß sehr wohl“, fuhr er fort, „wie hoch man einen guten Dichter achten muss; denn ich erinnere mich genau jener Verse des Ovid, die da lauten:

‘Cura ducum fuerunt olim regumque poetae,

Praemiaque antiqui magna tulere chori.

Sanctaque maiestas et erat venerabile nomen

Vatibus, et largae saepe dabantur opes.‘

Um so weniger habe ich die hohe Würde der Dichter vergessen, als Platon sie die Dolmetscher der Götter nennt und Ovid von ihnen sagt

Est deus in nobis; agitante calescimus illo.

Und außerdem sagt er:

At sacri vates et divum cura vocamur.

Hier aber sind nur die guten Dichter gemeint, denn was soll man von den schlechten, den Schwätzern, weiter sagen, als dass sie die Idiotie und die Anmaßung der Welt sind?“

Um seine Wertschätzung der Dichtkunst zu illustrieren, dann aber den Gegensatz zwischen Begabung und Dilettantismus scharf hervortreten zu lassen, montiert der Sprecher hier Ovidzitate aus unterschiedlichen Quellen: Das erste Zitat entnimmt er der Ars amatoria (III,405ff.), das zweite den Fasti (VI,5), das dritte den Amores (III, 9, 17). Dazu tritt das  Platonzitat (Ion 534e), das den Ausführungen des SOKRATES über die göttliche Berufung, die θεία μοῖρα , der Dichter entstammt. Diese Cervantes-Passage sagt nicht nur etwas über die Bildung des Protagonisten und des Verfassers der Novelle aus, sondern auch über die Sprachkenntnisse der Leserschaft, von der Cervantes erwartete, dass sie weder Übersetzung noch Erläuterung benötigte.

Der humanistische Wissenschaftler, Dichter und Denker genießt höchste Anerkennung. Wenn etwa  Calderón in seinem Stück Das Schisma Englands (La cisma de Inglaterra) den  moralischen Sturz HEINRICHS VIII. veranschaulichen will, geschieht das vor allem dadurch, dass wir ihn zu Beginn des Stückes  noch als geschulten Humanisten und Theologen erleben, der den Glauben gegen den Protestantismus verteidigt und den Titel eines defensor fidei erringt: corruptio optimi pessima. Cipriano, der Held von Calderóns El Mágico Prodigioso, einem Vorläufer von GOETHES Faust, hat sich zu Beginn des Stückes in die Wildnis zurückgezogen, um ungestört über eine theologische Aussage des älteren PLINIUS über das Wesen des Göttlichen (Hist. Nat., II, 7) nachzudenken.

Ein berühmtes Lob Roms findet sich in LOPE DE VEGAS (1562 – 1635) Stück El arrogante español, das dort spielt (11):

¡No me acabo de admirar!

¡Qué bravas torres y templos!

¡Qué soberbios edificios!

¡Qué de ruinas, indicios

de los pasados ejemplos!

¡Qué bravo espacio que toma

entre esos montes su asiento!

Mas, ¿cómo alabarla intento?

¿No basta decir que es Roma?

„Ich kann nicht aufhören zu staunen. Welch’ kühne Türme und Tempel! Welch’ stolze Gebäude! Was für Ruinen, Hinweise auf die Taten der Vergangenheit! Welch’ kühner Raum, der sich zwischen diesen Hügeln ausdehnt! Aber was versuche ich, diese Stadt zu loben?

Reicht nicht zu sagen: es ist Rom?“

Ihr Galan Filiberto antwortet:

Esta fue, Beatriz hermosa,

del mundo la gran cabeza,

que  sólo tu gran belleza

la iguala en el ser famosa.

Esta fue la antigua madre 

De Césares y Escipiones ,

hija de aquellos varones

que a Marte tienen por padre. (…)

„Diese Stadt, deren Ruhm nur der deiner herrlichen Schönheit gleichkommt, war das großartige Haupt der Welt. Diese Stadt war im Altertum die Mutter von Cäsaren und Scipionen, Tochter jener Männer, deren Vater Mars ist. (…)“

Obwohl die Mädchenerziehung im allgemeinen vernachlässigt wurde, gab es doch gebildete Frauen. Manche von ihnen beschäftigten sich intensiv mit Literatur und Philosophie und veranstalteten im eigenen Heim literarische Zirkel. In seiner Komödie No hay burlas con el amor (Man spaßt nicht mit der Liebe) karikiert Calderón die gebildete Frau in der Gestalt der überkandidelten und spröden Beatriz. Sie nennt ihr Dienstmädchen   fámula, schützt ihre Hände nicht mit Handschuhen, sondern mit  χειροθῆκαι, betrachtet sich nicht im Spiegel, sondern in einem  Zaubermittel aus Glas, will nicht, dass ihr ein Vertreter des männlichen Geschlechtes appropinquiert. Sie offenbart ihre literarischen Vorlieben im Gespräch mit ihrer gewitzten Zofe Inés (12):

Doña Beatriz: 

                            ¡Cuánto lidio 

con la ignorancia que hay!

Hola, Inés.

Inés: 

                     Señora.

Doña Beatriz:

                                   Tray

de mi biblioteca a Ovidio:

no el Metamorfosis, no,

ni el Arte Amandi pedí;

el Remedio Amoris, sí,

que es el que investigo yo.

Inés:

Pues ¿cómo he de conocer 

Libro (si es que eso has pedido),

si aun el cartel no he sabido

de una comedia leer?

Doña Beatriz:

Oscura, idiota y lega,

¿no  te medra cada día

la concomitancia mía? 

Beatriz: Ach, welchen Strauß gilt es doch mit der Ignoranz auszufechten! Inés!

Inés:       Señora?

Beatriz: Bring’ den Ovid aus meiner Bibliothek; nicht die Metamorphosen, auch nicht die Liebeskunst, sondern die Remedia Amoris, denn das ist es, was ich zur Zeit erforsche.

Inés: Wie soll ich denn ein Buch erkennen – wenn es ein Buch ist, worum du mich bittest! – wenn ich in meinem Leben noch nie auch nur einen Theaterzettel gelesen habe?

Beatriz: Dumpfsinnige, Idiotin, Ignorantin, bildet dich denn nicht die tägliche Konkomitanz mit mir?

Mit der Zunahme der spanischen Macht, dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg Spaniens zur Herrin der Meere, mischen sich Parallelisierungen und Überbietungsvergleiche zwischen Roma und Hispania in die Huldigungen an das antike caput orbis terrarum. Den Spaniern ist

klar geworden, dass es sich bei der Tat des KOLUMBUS (um 1451 – 1506) um ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung handelt. Kein Geringerer als Don Quijote erklärt seinem Knappen die Bedeutung der Jagd nach Ruhm anhand einer erfundenen Anekdote über KARL V. (1500 – 1558) im römischen Pantheon (13):

„Der Kaiser wollte jenen berühmten Rundtempel besichtigen, der in der Antike Tempel Aller Götter hieß und jetzt, mit besserem Namen, die Kirche Aller Heiligen heißt. Es handelt sich um das vollständigste Gebäude, das von denen, die während der heidnischen Zeit errichtet wurden, geblieben ist, und es ist dasjenige, das am meisten den Ruhm der Erhabenheit und der Großzügigkeit seiner Erbauer bewahrt.

Es hat die Form einer halben Apfelsine, ist äußerst groß, und sehr hell, ohne dass aus einer anderen Richtung Licht einträte als aus einem einzigen Fenster, besser gesagt einer runden Öffnung, die ganz oben ist. Von ihr aus betrachtete der Kaiser das Gebäude, und an seiner Seite war ein römischer Ritter und erklärte ihm die Vorzüge und Feinheiten jenes gewaltigen Baus, jener merkwürdigen Architektur. Nachdem sie die Öffnung verlassen hatten, sagte er zum Kaiser: „Tausendmal kam mir, Heilige Majestät, das Verlangen, Eure Majestät zu umarmen und mich zusammen mit Ihnen nach unten zu stürzen, um mir so ewigen Nachruhm zu verschaffen.“

„Ich danke Euch“ lautete die Antwort des Kaisers, dass Ihr eine so schlimme Absicht nicht in die Tat umgesetzt habt. Von nun an werde ich euch keine Gelegenheit mehr bieten, einen Beweis Eurer Loyalität abzulegen, und so befehle ich Euch, nie wieder mit mir zu sprechen noch da zu sein, wo ich auch sein mag.“ Und nach diesen Worten machte er ihm ein großes Ehrengeschenk.

Was ich sagen will, Sancho, ist, dass das Bestreben, sich Ruhm zu verschaffen, eine starke Antriebskraft ist. Wer denn, meinst du, stürzte Horatius Cocles, mit allen Waffen versehen,  von der Brücke hinab in die Tiefe des Tibers? Wer verbrannte Arm und Hand des Mucius Scaevola? Wer trieb Curtius an, sich in den glühenden Spalt zu stürzen, der sich mitten in Rom auftat? Wer befahl Caesar den Übergang über den Rubikon, allen gegenteiligen Vorzeichen zum Trotz? Und, um neuere Beispiele zu liefern, wer ließ die Schiffe anbohren und erreichte so, dass die tapferen Spanier strandeten und isoliert waren, die unter der Führung des hochgesitteten Cortés (el cortesísmo Cortés) in der Neuen Welt weilten?

Alle diese und andere Taten sind, waren und werden Taten des Ruhmes sein, den die Sterblichen begehren, als Lohn und Anteil an der Unsterblichkeit, den ihre berühmten Taten verdienen.“

Don Quijote beweist hier, dass er nicht nur ein Leser verstaubter Ritterromane, sondern auch des LIVIUS (Buch II und Buch VII) ist. Die Fragenkette am Ende des Auszugs beruht inhaltlich auf Livius, rhetorisch ist diese Passage aus CICEROS De legibus  (14) ihr Vorbild:

Neque enim esse mens divina sine ratione potest, nec ratio divina non hanc vim in rectis pravisque sanciendis habere; nec quia nusquam erat scriptum, ut contra omnis hostium copias in ponte unus adsisteret a tergoque pontem interscindi iuberet, idcirco minus Coclitem illum rem gessisse tantam fortitudinis lege atque imperio putabimus, nec si regnante L. Tarquinio nulla erat Romae scripta lex de stupris, idcirco non contra illam legem sempiternam Sex. Tarquinius vim Lucretiae Tricipitini filiae attulit. (…)

In einem Atemzug mit den Helden des republikanischen Rom werden hier Kaiser Karl V.   und der Eroberer Mexikos, HERNÁN CORTÉS (1485 – 1547), genannt – der, wie es in einer neueren (2001) französischen Biographie heißt, den Vergleich mit CAESAR geradezu herausfordert (15).

Zahlreiche andere Stellen dokumentieren den imperialen Anspruch Spaniens. So

heißt es bei JUAN DE LA CUEVA (um 1543 – um 1610), der römische Baetis , der Guadalquivir mit seinen Silberflotten, sei zum berühmtesten Fluss der Erde geworden (16). In einer seiner Novellen schreibt Cervantes, Venedig sei eine Stadt, der keine andere auf dieser Erde gleichkäme – wäre nicht Kolumbus auf die Welt gekommen. Er fährt fort:

„Dank sei dem Himmel und dem großen Hernando Cortés, der das große Mexiko (gemeint ist hier die Aztekenhauptstadt Tenochtitlán) eroberte; denn so fand doch das große Venedig wenigstens etwas, was sich ihm entgegensetzen lässt. Diese beiden berühmten Städte  gleichen sich in den Straßen, die alle aus Kanälen bestehen – die europäische ist die Bewunderung der Alten Welt, die in Amerika das Staunen der Neuen.“ (17)

Was die sprachgeschichtliche Relation zwischen dem Lateinischen und dem Spanischen betrifft, so besitzt das Siglo de Oro ein richtiges Verständnis der Tatsache, dass das Spanische sich aus dem Vulgärlatein entwickelt hat und Einflüsse anderer Sprachen – der keltiberischen Ursprachen, des Gotischen und des Arabischen – damit verglichen von untergeordneter Bedeutung sind. So behandelt etwa JUAN DE VALDÉS (um 1490 – 1541) den Ursprung des Spanischen und der anderen auf der Iberischen Halbinsel gesprochenen Sprachen in seinem Diálogo de la lengua.

Wo eine Sprache ein solches Statussymbol ist, liegt Missbrauch nahe. Wichtigtuer, Halsabschneider aller Art, Kurpfuscher, Quacksalber, falsche Heilige bemächtigten sich ihrer, um ihre Ziele zu verfolgen, ein ständig wiederkehrendes literarisches Motiv. Im

ersten europäischen Schelmenroman, dem von einem Unbekannten verfassten Lazarillo de Tormes (Klein-Lazarus vom Tormes, dem Fluss, an dem Salamanca liegt) beschreibt der Protagonist einen seiner Herren, einen Ablasskrämer. Dieser macht sich mit Geschenken die Geistlichen geneigt, damit sie ihre Schäfchen zum Ablasskauf ermuntern (18):

„Kamen die Geistlichen nun, um ihm zu danken, pflegte er herauszufinden, was sie taugten. Wenn sie sagten, sie könnten Latein verstehen, sprach er selber nicht auf Latein, um keinen Schnitzer zu machen, sondern bediente sich eines geschliffenen, eleganten Spanisch (romance)  – es tropfte ihm nur so von der Zunge. Und wenn klar war, dass es sich um reverendos handelte –  also um Geistliche mit Geld statt Geist, die ihre Position durch reverendas (Empfehlungsbrief von Freunden) erlangt hatten –  dann pflegte er unter ihnen zur Höchstform aufzulaufen. Er verwandelte sich in einen wahren Heiligen Thomas von Aquin. Geschlagene zwei Stunden redete er – zumindest schien das Latein zu sein, auch wenn es gar nicht so war.“

In Cervantes` Novelle Rinconete y Cortadillo sprechen zwei Ganoven aus Sevilla über einen ‚Berufskollegen’  (19):

„,Auch’, berichtete der Alte weiter, traf ich in einer Herberge in der Färberstraße den

Juden, als Pfarrer verkleidet, der dort abgestiegen ist, weil er gehört hat, dass zwei peruleros (reiche Männer, die in Amerika ihr Glück gemacht haben) im selben Haus wohnen. Er will versuchen, sie zu einem Spielchen einzuladen. Wenn es anfangs auch um einen geringen Einsatz gehen sollte, so ließe er sich später hochtreiben.’ (…)  ,Auch dieser Jude’, gab ihm Monipodio zur Antwort, ist ein großartiger Dieb. (…) Hat der Spitzbube doch die Priesterweihe so wenig wie der Großtürke – und Latein kann er soviel wie meine Mutter!’“

Dasselbe Motiv erfreut auch das spanische Theaterpublikum, nämlich wenn ein Verliebter mit einer – etwa vom Vater oder den Brüdern – streng bewachten Dulcinea Nachrichten austauschen und in Verbindung bleiben will. Ein Freund geht dann im Hause der Geliebten ein und aus, als lateinisch sprechender Doktor getarnt. Das Grundmuster findet sich schon in MACHIAVELLIS (1469 – 1527) Komödie Mandragola, (Die Alraune) wo Ligurio seinem Gefährten Callimaco, einem jungen Florentiner Edelmann, rät, sich als behandelnder Arzt Zugang zur schönen Ehefrau des Kaufmanns Nicia zu verschaffen (20):

Io voglio che tu faccia a mio modo, e questo è che tu dica di avere studiato in medicina, e che abbi fatto a Parigi qualche sperienzia: lui è per crederlo facilmente per la semplicità sua, e per essere tu litterato e poterli dire qualche cosa in gramatica. 

„Ich will, dass du folgendes tust: Sag ihm, dass du Medizin studiert hast und eine Praxis in Paris hattest. Darauf muss er hereinfallen, wegen seiner Einfalt und weil du gebildet bist und ein paar Worte auf Latein sagen kannst.“

Callimaco gibt ein paar lateinische Sentenzen von sich, und der zu hörnende Ehemann ruft verzückt aus:

Costui è il più degno uomo che si possa trovare!

„Das ist der würdigste Mensch, den man finden kann!“

Damit kann das betrügerische Spiel beginnen. Dieselbe Strategie erfreut auch das

spanische Theaterpublikum, etwa in den Komödien Lope de Vegas. In El acero de Madrid (Das Eisenwasser von Madrid) schlägt Beltrán seinem Herrn Lisardo vor (21):

Ponedme a mí, si queréis,

un hábito doctoral,

que yo sé que no haré mal

lo que los dos pretendéis.

Un poco sé de latín

De los récipes, y haré,

con esto poco que sé,

que tenga salud. 

„Legt mir, wenn Ihr wollt, die Tracht eines Arztes an, denn ich weiß, dass ich gut das hinbekommen kann, wonach ihr beiden Verliebten strebt. Ein bisschen Latein kenne ich aus Arztrezepten, und mit dem wenigen, was ich weiß, mache ich deine Angebetete gesund.“

Auch Beltrán hat dann mit dieser Strategie vollen Erfolg.

In Lope de Vegas El Caballero de Olmedo (Der Ritter von Olmedo) werden zwei Mittelsleute zwischen dem Protagonisten und seiner Dame eingesetzt: sein Diener Tello und die Kupplerin Fabia. Die Dame, Doña Inés, behauptet in ein Kloster eintreten zu wollen; ihr Vater gestattet daher der als Ordensschwester getarnten Kupplerin, seine Tochter religiös zu unterweisen. Tello soll ihr Latein beibringen. Als der Vater Tello fragt, wo er studiert habe, antwortet er unter dem Gelächter des Publikums „In La Coruña!“ Wann immer der Vater nun die Unterhaltungen zwischen Inés und Tello stört, täuschen die beiden ihre Nachhilfestunde vor (22).

Tello: Tu padre. Haz que lees, y yo      

             haré que latín te enseño.

             Dominus…

Dona Inés:             Dominus…

Tello:                                              Diga.

Dona Inés: ¿Cómo más?

Tello                                      Dominus meus.

Doña Inés: Dominus meus.

Tello:                                           Ansí,

            poco a poco irá leyendo.

Tello: Achtung, dein Vater! Tu so, also ob du liest, und ich werde so tun, als brächte ich dir

Latein bei.

Dominus

Inés:  Dominus

Tello: Sagen Sie’s!

Inés:   Was sonst?

Tello: Dominus meus.

Inés:   Dominus meus.

Tello: So werden Sie nach und nach lesen lernen.

Alle diese Beispiele belegen, dass, wer als gebildet gelten wollte, vor der Wahl stand, Latein zu lernen – oder mit Geschick Lateinkenntnisse vorzutäuschen.

(1)    A. Buitrago, Diccionario de dichos y frases hechas, Madrid, 10. Aufl. 2004, s.v.

saber/entender latín; Steigerung: saber latín y griego.  

(2)     Diccionario Planeta de la lengua española usual, 5. Aufl. Barcelona 1992.

(3)     Paris 1996, S. 187.

(4)     Spanische Kultur und Sitte des 16. Und 17. Jahrhunderts – Eine Einführung in die

Blütezeit der spanischen Literatur und Kunst, Kempten 1924, S. 111.

(5)     Los Engañados (Die Betrogenen), 9.Szene. Text nach der Ausgabe von F. González

Ollé, Madrid, 1973, S. 61f.

(6)    W. Reinhard, Missionare, Humanisten, Indianer im 16. Jahrhundert.

Eichstätter Hochschulreden 89, Regensburg 1993, S. 7; vgl. auch S. 16.

(7)     In der Novelle La gitanilla (Das Zigeunermädchen). Vgl. die Ausgabe der Novelas

Ejemplares von H. Sieber, Bd. I, Madrid 2oo7 (1980), S. 61.

(8)     In seinem Schelmenroman El Buscón (Der schlaue Dieb), Kap. III ; vgl. die von F. Abad

Nebot eingeleit. Ausgabe Madrid 2001, S. 48.

(9)     Hrsg. von D. Alonso, Barcelona 1993, S. 75, vv. 31 – 33.

(10)   Übersetzt nach der Ausgabe von H. Sieber (vgl. 7), Novelas ejemplares II, Madrid 2004

(1980), S. 58. Das Ovidzitat in angeglichener Orthographie; der erste Vers ist bei

Cervantes verunstaltet.

(11)    I, vv. 418 – 445. Zitiert nach der Ausgabe von F. Doménech, Madrid 2007, S. 93f.

(12)    I, 6 Zitiert nach der Ausgabe in der Colección Austral (keine Angabe des

Herausgebers), Madrid, 1962, S. 27f.

(13)    II, 8.Übersetzt nach der Ausgabe von M. de Riquer, Barcelona 1968, S. 592f.

(14)    II,IV,10,Text nach der Ausgabe Cicéron – Traite des lois (Belles Lettres), hrsg. und

übers. von G. de Plinval, Paris 1968 (Orthographie angeglichen).

(15)    B. Bennassar, Cortés – Le conquérant de l’impossible, Paris 2001, S. 21.

(16)    In El Infamador, IV,20, vv. 11 –12. Hrsg. von Anthony J. Grubbs, Newark 2008, S. 102.

(17)    In El licenciado Vidriera, s.o. (10), S. 50f.

(18)    Kapitel V. Übersetzt nach der Ausgabe von C. Castro, Madrid 1974 (1964), S. 91f.

(19)    S.o. (7), S. 238f.

(20)    Text nach der Ausgabe The comedies of Machiavelli, hrsg. von D. Sices und J. B.

Atkinson, Indianapolis/Cambridge 2007 (1985), I,3., S. 176f. und II,2, S. 186.

(21)    I. Akt, vv. 216 – 223; Text nach  der Ausgabe von S. Arata, Madrid 2000, S. 102.

(22)    II. Akt., Vv. 1516ff.; Text nach der Ausgabe von Francisco Rico, Madrid 2006 (1981).

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