Vom Bosporus zur Paderstadt – der Panegyrikus des Corippus

von Christoph Wurm – Dieser Aufsatz wurde erstmalig veröffentlicht im Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbands, Landesverband Nordrhein-Westfalen, Heft 3/2016, S. 22 –
33.

Wer war Corippus? Flavius Cresconius Corippus (Gorippus?)1 war ein spätantiker Autor, geboren um 500 n. Chr. im damals von Vandalen beherrschten Nordafrika; er gilt als der letzte aus Afrika stammende lateinische Dichter. Die von Coripp hochgelobte2 Vandalenherrschaft wurde schließlich durch ständige Berberüberfälle zerrüttet. Da landete 533 der fähigste Feldherr Ostroms, der junge Belisar, an der tunesischen Küste. Er bereitete in kürzester Zeit den Vandalen zwei vernichtende Niederlagen3 .

Kaum hatte Belisar jedoch Afrika den Rücken gekehrt, um in Konstantinopel mit einem Triumphzug geehrt zu werden – dem letzten der römischen Geschichte –,  da entbrannten die Kämpfe aufs Neue.

Über Jahre hinweg sorgten die Berber wieder für Schrecken, bis sie 548 von dem kaiserlichen General Johannes Troglita überwunden wurden. Das Land jedoch war infolge der Kriege weitgehend entvölkert. Den Feldherrn machte Coripp kurz danach zum Helden seines opus magnum, eines Epos von etwa 5000 Hexametern in acht Büchern, der Johannis.

Dass Coripp eine umfassende Bildung in lateinischer Rhetorik und Theologie genoss belegen seine Werke. Ob er Griechisch konnte, ist unklar. Der uns in der Madrider Handschrift seines zweiten Werks überlieferte Hinweis gramaticus [sic] ist dehnbar, eine exakte Berufsbestimmung lässt er nicht zu. Über seine weiteren Lebensumstände ist nichts Weiteres bekannt. Er könnte Besitz auf dem Land (Ioh., Praef., 25) gehabt haben, den er in den Wirren verlor, denn in seinem zweiten Werk, dem Panegyrikus auf den Kaiser Justinus II., nennt er sich nudatus propriis (Praef., 43). Nach dem 14. November 565 war er jedenfalls in Konstantinopel, anscheinend aufgrund des Erfolges von Abfassung und öffentlichem Vortrag der Johannis vor den proceres von Karthago (Ioh., Praef., 1).

In Konstantinopel schrieb er seinen Panegyrikus auf den neuen Kaiser, den Neffen Justinians. ,Byzantinischen’ Lobpreis häuft er – in der Hoffnung auf Dichterlohn – auf dessen Thronbesteigung (565) und den Antritt des ,Konsulats’ (566), damals nur noch eines Ehrenamtes für Kaiser im ersten Herrschaftsjahr.

Mit seinem Werk verband Coripp ein kurzes Gedicht an Anastasios, den höchsten Reichsbeamten, in einer Person Quaestor Sacri Palatii (Leiter des Justizwesens) und Magister Officiorum (Leiter des Palastwesens). Ihm legt er die Bitte um kaiserliche Unterstützung ans Herz.

Nimmt man Coripp wörtlich, so war er damals ein alter Mann, denn in der Praefatio des Panegyrikus spricht er (hyperbolisch?) von sich als fessus senius (Praef. 37), im Anastasius-Gedicht (Anast. 48) von seiner fessa senecta. Er hatte ein Amt unter Anastasius inne (Anast., 46ff.). Er befand sich, wie er schreibt, in ungünstigen Lebensverhältnissen und bittet seinen Vorgesetzten (Anast., 42 – 48) sowie Justin (Praef., 41 – 48) und die Kaiserin Sophia (Iust., 3,147 – 149) um Hilfe. In dem Gesuch an Justin (Praef., 1, 43 – 46) spricht er alliterierend von seinen Leiden. Er greift die Worte des Hauptmanns von Kapharnaum auf4:

Nudatus propriis et plurima vulnera passus

ad medicum veni, precibus pia pectora pulsans,

ad medicum verbo pestem qui summovet uno

et sine composito medicamine vulnera curat.

Meiner Besitztümer beraubt und als einer, der unter vielen Wunden gelitten hat,

bin ich zum Arzt gekommen und bedränge ihm mit meinen Bitten die fromme Brust.

Zum Arzt bin ich gekommen, der mit einem einzigen Wort die Seuche beseitigt und, ohne auch nur ein Medikament zuzubereiten, die Wunden heilt.

Dass er den Antritt des Konsulats miterlebte, ist das Letzte was wir über ihn wissen: „Flavius Cresconius Corippus cesse désormais d’exister pour nous“5.

Die ersten drei Bücher, die den Tod Justinians I und die ersten acht Tage von Justins Regierung seit seiner Thronbesteigung am 14. November 565 behandeln, scheint der Dichter in den folgenden Monaten geschrieben zu haben. Das vierte Buch ist nicht vollständig erhalten oder unfertig geblieben. Es dürfte später entstanden sein und schildert den mit viel Pomp veranstalteten Antritt des Konsulats durch Justinus am Neujahrstag 566.

Das Werk enthält unzählige Anleihen aus der Aeneis und den Georgica sowie aus Claudian und Ovid. Es hat zwar eine geradlinig chronologische Grundstruktur, der Autor unterbricht sie aber durch Erläuterungen, Zwischenkommentare und, vor allem im ersten Buch, durch Exkurse.

So bettet er gegen Ende des ersten Buchs einen Exkurs über den Circus und die vier Circusfarben ein, als er schildert, wie sich die Meldung vom Tode Justinians und der Nachfolgerwahl in der Stadt verbreitet. Fama, eine Ausgestaltung der fama volans Vergils, treibt die Menschenmassen zum Hippodrom:

1, 298ff.:

Laeta per augustam pennis plaudentibus urbem

Fama volans Somnum populos inopina gravantem

increpat impellitque fores et limina pulsat

multiplicatque suas felix praenuntia linguas.

Somnus ea veniente fugit secumque cadentem

traxit Segnitiem totaque excessit ab urbe.

Imminet illa favens et crebro pollice pulsat

tardantes populos et “surgite, surgite!“ clamat.

Froh fliegt mir rauschendem Gefieder Fama durch die Kaiserstadt, sie schilt unversehens den Schlaf, der die Menschen beschwert, sie klopft an die Türen und stampft auf die Schwellen und verkündet, ein Glücksbote, ihre Botschaft mit vielen Zungen. Sobald sie auftaucht, flieht Somnus, der Schlaf, er schleift Segnities, die zu Boden stürzende Trägheit, mit sich fort und flieht aus der ganzen Stadt. Und Fama sitzt den beiden im Nacken, drückt mit ihrem Daumen immer wieder die säumigen Menschen und ruft „Steht auf, steht auf!“ (…)

Kurze, parataktische Sätze unterstreichen die Raschheit, mit der sich das Gerücht von der Thronnachfolge verbreitet. Es fliegt schnell wie ein Vogel und verschafft sich Gehör wie ein ungeduldiger Bote: zwei miteinander verwobene Metaphorisierungen, die sich beide nicht mit der unsrigen vom ,Lauffeuer’ decken. Das Bedrohliche, das Vergils ausführliche Schilderung der Fama im vierten Buch der Aeneis (173 ff.) kennzeichnet, fehlt völlig, ebenso ist von Trauer über Justinians Tod keine Rede.

1, 314ff.:

Solis honore novi grati spectacula circi

antiqui sanxere patres, qui quattuor esse

solis equos quadam rerum ratione putabant,

tempora continui signantes quattuor anni,

in quorum speciem signis numerisque modisque

aurigas totidem, totidem posuere colores,

et fecere duas studia in contraria partes,

ut sunt aestivis brumalia frigora flammis.

Zu Ehren der Wintersonnenwende richteten unsere Vorväter die Rennen im beliebten Circus ein, da sie aufgrund einer gewissen Berechnung glaubten, es gebe vier, den Jahreszeiten entsprechende Pferde der Sonne. Nach deren Vorbild legten sie durch Zeichen, Anzahl und Erkennungsmusik ebenso viele Wagengespanne und Farben fest. Sie schufen zwei miteinander wetteifernde Lager, einander entgegengesetzt so wie Winterkälte und Sommerhitze es sind.  (…)

Die Schärfe des Gegensatzes zwischen den beiden Lagern tritt hervor, sie ging über das rein Sportliche weit hinaus6. Den vier Sonnenrossen (Pyrois, Eous, Aethon und Phlegon, Ovid, Met. 2, 153f.) entsprechen die vier δῆμοι (μέρη), die Zirkusparteien mit ihren verschiedenen Farben. Die Roten waren zu einer Unterabteilung der Blauen geworden, die Weißen hatten sich den Grünen angeschlossen. Coripp ordnet die Farben chiastisch: grün – rot – blau – weiß (1, 322ff.):

Nam viridis vernis campus ceu concolor herbis,

pinguis oliva comis, luxu nemus omne virescit.

Russeus aestatis rubra sic veste refulgens

ut nonnulla rubent ardenti poma colore,

autumni venetŭs ferrugine dives et ostro

maturas uvas, maturas signat olivas.

Aequiperans candore nives hiemisque pruinam,

albicolor viridi socio coniungitur una.

Denn das Grün ist wie das Land, das die Farbe der Frühlingspflanzen trägt. Sein Begleiter ist die pralle Olive, der ganze Hain prangt üppig. Das Rot gehört zum Sommer, es blitzt so im rotem Sommerkleid wie manche Obstarten von heller Farbe rot glänzen. Das vom Rost des Herbstes und von Purpur satte Blau ist Zeichen der reifen Trauben, der reifen Oliven. Weiß, strahlend wie Schnee und Winterfrost, verbündet sich mit Grün, seinem Partner.

Nun beschreibt er den Circus:

1, 330ff.:

Ipse ingens circus, plenus ceu circulus anni,

clauditur in teretem longis anfractibus orbem,

amplectens geminas aequo discrimine metas

et spatium mediae, qua se via pandit, harenae.

Was die riesige Rennbahn betrifft, so ist sie, wie der vollständige Jahreslauf, kreisförmig umrundet. Langen Kurven ergeben eine längliche Wölbung, die zwei voneinander gleichweit entfernte Zielpunkte umfasst sowie die Sandfläche in der Mitte, da, wo sich die Bahn erstreckt.

An diesem Punkt folgt Mythologisches zum Ursprung der Wagenrennen (1,334):

Quid Trochilum referam primas iunxisse quadrigas

et currus armasse novos Pelopemque secundum

in soceri venisse necem. Praestantior alter

inventus gener est, plus sponsae iunctus [instinctus] amore.

Was soll ich daran erinnern, dass Trochilos die ersten Viergespanne miteinander verband und neuartige Wagen ausrüstete, und daran, dass ihm Pelops nachfolgte, um seinen Schwiegervater zu töten? Es stellte sich heraus, dass sein Schwiegersohn ihm überlegen war, besser befestigt aufgrund [angetrieben von] der Liebe der Braut/zur Braut.

Trochilοs war der Wagenlenker des Pelops und Erfinder des Rennwagens. Pelops besiegte den verbrecherischen Oinomaοs (Οἰνόμαος) im Wagenrennen durch Manipulation an dessen Achse. Pelops gewann so den Siegespreis, dessen Tochter Hippodameia.

Dann die theologische Deutung (1,338ff.):

Hunc veterum primi ritum non rite colebant,

esse deum solem recta non mente putantes.

Sed factor solis, postquam sub sole videri

se voluit formamque deus de virgine sumpsit

humani generis, tunc munere solis adempto

principibus delatus honor munusque Latinis

et iucunda novae circensia gaudia Romae.

Diesen alten Kult (ritus) betrieben, obwohl das unangemessen war (non rite), unsere Urahnen, da sie der verkehrten (non recta) Überzeugung waren, die Sonne sei ein Gott. Aber der Schöpfer der Sonne (factor solis) wollte sich unter der Sonne (sub sole) zeigen und nahm, von der Jungfrau geborener Gott, menschliche Gestalt an. Danach nahm er das der Sonne gemachte Geschenk fort und übergab das ehrenvolle Geschenk den latinischen Fürsten und die angenehmen Freuden der Rennen dem Neuen Rom.

Am Anfang von Vers 1, 345 setzt dann das Adverb Huc die Schilderung des Menschenauflaufs im Circus fort. Der Hippodrom war, wie in Athen die Ἀγορά und in Rom das Forum, „die eigentliche Äußerungsstätte der politischen Bestrebungen des Volkes“7. Kunstvolle Verschachtelung auf engstem Raum sorgt für ein Maximum an Abwechslungsreichtum und Farbe.

Insgesamt enthält das Werk fünf längere Exkurse: eine Beschreibung des Palastgemachs

(domus interior), wo Justin sich aufhält (1, 97 – 114), als der Senat ihn um das Besteigen des Throns bittet, die der Trauerkleidung der Kaiserin Sophia (1, 272 – 293), die oben

wiedergegebenen Ausführungen zum Circus (1, 314 – 344) sowie die Beschreibung des Audienzsaaals, in dem ein Empfang für eine Gesandtschaft der Avaren stattfindet (3, 191 – 209). Das Epos ist daher paradoxerweise als „poème de la description“8 bezeichnet worden.

Die „Kaskaden panegyrischer Begeisterung“sind vor allem im neunzehnten Jahrhundert auf eisige Ablehnung gestoßen. Das Gedicht, so geißelt es ein Nachschlagewerk10, enthalte „eine Menge der niedrigsten Schmeicheleien“, es zeige „den entarteten Geist und den gesunkenen Charakter seines Zeitalters, so wie in der schwülstigen und gesuchten Sprache den Verfall der Literatur“.

Mag der Panegyrikus in den heutigen Handüchern zur Spätantike in der Regel mit zwei meist frostigen Sätzen abgetan werden – in den Jahrhunderten nach seiner Abfassung wurde ihm eine bemerkenswerte Rezeption zuteil. Quer durch die damalige Welt wanderte er ins Herz der Iberischen Halbinsel, zu den Westgoten. In einer stilisierten Rede des Königs Rekkeswinth in der Hauptstadt Toledo und in der Julian von Toledo (gest. 690, zwei Jahrzehnte vor dem Einfall der Araber) zugeschriebenen Grammatik finden sich Spuren11. Von Spanien aus dürfte er ins Karolingerreich gelangt sein. Das Epos De Karolo rege et de Leone papa, früher zumeist Paderborner Epos genannt12, enthält zahlreiche Spuren des Gedichtes auf Justin. In diesem Werk liefert in 536 Hexametern ein unbekannter Dichter ein Porträt Karls des Großen, das in der Begegnung zwischen ihm und Papst Leo III. 799 in Paderborn gipfelt.

Ein in sich geschlossenes Kleinepos – oder Teil eines größeren Werkes, das in Karls Kaiserkrönung durch den nach Paderborn geflohenen Leo III. mündete? „Das erhaltene Textstück ruht (…) nicht nur in sich. Es deutet vom Inhalt vielmehr darauf hin, daß es Teil eines größeren Ganzen war; wozu sonst z.B. die Schilderung der imponierenden Bautätigkeit in Aachen, das ausführliche Verweilen bei der großen Jagd, wenn es nur um die Schilderung der Ankunft des Papstes in Paderborn ginge?“13

Stichhaltig ist diese Argumentation nicht, denn sie vermengt zwei Gedanken miteinander. Sie setzt stillschweigend voraus, dass das eigentliche Thema eines eigenständigen Kleinepos das Zusammentreffen zwischen Karl und Papst Leo III. in Paderborn gewesen wäre. Es ist aber denkbar, dass das Treffen nur als Gipfel einer umfassenderen Würdigung von Person und Leistungen Karls des Großen gemeint ist, dann erhalten die Schilderung der Aachener Bautätigkeit und die Jagdszene ihr jeweils eigenes Gewicht. Was das „ausführliche Verweilen bei der großen Jagd“ betrifft, so ist diese Formulierung irreführend, denn der Jagdaufzug dient dem Dichter primär als erzählerisches Vehikel, um die königliche Familie der Reihe nach vorzustellen.

Überzeugendere Argumente gegen die These vom eigenständigen Kleinepos hat Dieter Schaller angeführt.14 Seine vergleichende Detailanalyse des Gedichtanfangs zeigt, dass kein anderes Epos ein solches Proömium hat:

Rursus in ambiguos gravis ammonet anchora calles

vela dare, incertis classem concredere ventis;

languida quae geminas superarunt membra procellas,

ad nova bella iubet lassos reparare lacertos (…)

Wieder mahnt der schwere Anker, die Segel zu setzen und ungewisse Wege zu befahren, die Flotte unsicheren Winden auszusetzen. Er gebietet den Ermüdeten, die bereits zweimal Stürme bestanden, die matten Glieder zu neuen Kämpfen bereiten.

Es liegt wesentlich näher, ihn als Einleitung eines Einzelbuchs zu verstehen. Rursus, das erste Wort des Textes, zum dritten Mal, dürfte dann den liber tertius einleiten, die überstandenen geminae procellae wären die Mühen bei der Abfassung der beiden ersten Bücher.

Eindeutig hat der unbekannte Dichter nicht nur Venantius Fortunatus’ Vita des Hl. Martin, sondern auch Coripp als Modell herangezogen. Das zeigen zahlreiche sprachliche Parallelen und auch die ähnliche Struktur: Ihr Grundprinzip ist wie bei Coripp der Abwechslungsreichtum.

Schaller vertritt die These, dass der Dichter Coripps Gliederung in vier Bücher nachahmte, von denen uns nur das dritte vorliege. So wie das Werk des Coripp in der Schilderung des kaiserlichen Konsulatsantritts gipfelt, habe das vierte Buch des Karlsepos die Kaiserkrönung Karls am Weihnachtstag 800 behandelt.

Nicht in Paderborn, also „im bücherlosen Sachsenland, fernab der Hofbibliothek“, sei das mit Hunderten von Versen der verschiedensten Dichter gespickte Werk verfasst worden, sondern in Aachen. Die nicht auszuschließende Annahme, der Dichter habe eine mnemotechnische Glanzleistung vollbracht, bereite mehr Schwierigkeiten als die Vorstellung, dass er eine wohlausgestattete Bibliothek konsultierte15.

Coripp, nicht Vergil, bot das Modell einer „poetischen Legitimation des gottgewollten christlichen Kaisertums“16. Karl steht neben dem Papst, summus Leo pastor in orbe (504). Er – nicht der unerwähnte byzantinische Kaiser – ist Europae venerandus apex, pater optimus (93), Europae pharus (12), caput orbis (92).

In nichts steht der Karlsdichter in seiner Panegyrik dem ,Byzantinismus’ des Coripp  nach. Kühn ist seine Idee, Karl dadurch als Förderer von Kunst und Bildung zu feiern, dass er ihn selber, einen Mann von zweifelhafter Literalität, in gewaltsamer Metonymie auf den Thronsessel der Gelehrsamkeit erhebt. Kühner ist die Entfaltung dieses Motivs: Cato, Cicero, Homer übertreffe Karl, so kündet der Dichter metahyperbolisch (72ff.):

Inclita nam superat praeclari dicta Catonis,

vincit et eloquii magnum dulcedine Marcum,

atque suis dictis facundus cedit Homerus,

et priscos superat dialectica in arte magistros.

Denn er übertrifft die berühmten Sprüche des hervorragenden Cato, er besiegt durch

die Süße seiner Redekunst auch den großen Cicero, vor seinen Worten verblasst der

beredte Homer, und die alten Meister übertrifft er in der Kunst der Dialektik.

Ein Beispiel für Coripps Einfluss: Im Anschluss an 2, 148ff. beschreibt der Karlsepiker den von Karls Herrschaft ausgehenden Glanz als den einer zweiten, nicht verdunkelbaren Sonne (14ff.): „Iste suam aeterno conservat sidere lucem“ (21).

Ein weiteres, komplizierteres Beispiel: Im vierten Buch Coripps (28 – 33) gibt ein Bienenvergleich die Betriebsamkeit der Arbeiter beim Bau einer großen Tribüne für die bevorstehenden Zeremonien wieder. Vorbild ist Vergils entstehendes Karthago (Aen. 1, 421ff). 4, 27ff.:

Densa per antiquas discurrunt agmina silvas

more apium, quas ver tepidum nova condere castra

et munire favos ceris iuvet. Aethere capto

densa per herbosos errant examina campos,

floribus insidunt variis roremque madentem

ore legunt ornatque umeros cerasque liquentes

conficiunt dulcesque lares in pumice figunt.

Incumbunt operi gratisque laboribus instant.

Dichte Scharen [von Holzfällern] durchstreifen die alten Wälder wie Bienen, die der warme Frühling antreibt, neue Lager anzulegen und die Waben mit Honig zu befestigen.

Die dichten Scharen erfüllen die Luft, schwärmen durch die pflanzenreichen Felder, lassen sich auf verschiedenen Blumen nieder, nehmen mit dem Mund den triefenden Tau auf, beladen ihre Schultern, stellen flüssiges Wachs her und bauen ihren süßen Stock in Bimsstein. Sie machen sich ans Werk, unterziehen sich willkommenen Mühen.

Der Verfasser des Karlsepos (101 – 136) bedient sich seinerseits bei derselben Vergilstelle, und zwar für die Schilderung der Bauarbeiten in Aachen, der „ventura Roma“ (98).  Indem er „hic portus alii effodiunt“ (Aen., 1, 427) nachahmt, verhilft er Aachen sogar zu einem veritablen Hafen: „Effodiunt portus …“ (104)!

Er warf dabei aber auch einen Seitenblick auf Coripp17. Beide benutzen in diesem Zusammenhang eine andere Aeneisstelle ((6, 707 – 709), an der Vergil ein kurzes Bienengleichnis verwendet, jedoch nicht für Bauarbeiten, beide verwenden ore legunt aus den Georgica (4,201).

Der Panegyrikus auf Justin und das Karlsepos – zwei miteinander verwandte Zeugen höfischer Kultur in Spätantike und Frühmittelalter.

Anmerkungen:

In seinem Kommentar zum achten Buch der Johannis tritt Peter Riedlberger für die    Namensform Gorippus ein. Er warnt mit guten Gründen vor vorschnellen Gewissheiten im Hinblick auf die Biographie des Dichters. Peter Riedlberger, Philologischer, Historischer und Liturgischer Kommentar zum 8. Buch der Johannis des Goripp, 2013, S. 28ff. 

Johannis, 3,67f. : „Nam tempore prisco pax erat in cunctis Libyae tutissima terris“; 3, 195f.: „Tempore

Vandalici perierunt gaudia regni nostra“.

Genaueres bei Georg Ostrogorsky, Geschichte des byzantinischen Staates, München, 1963, S. 45f.

Alle Zitate aus dem Panegyrikus (= Iust.) entstammen der Textausgabe von Serge Antès Corippe – Éloge de l`empereur Justin II, Paris, Les Belles Lettres, 2002, S.XVI. Alle  Zitate aus dem Karlsepos entstammen der Ausgabe De Karolo rege et Leone papa von Wilhelm Hentze (Hrsg.), Paderborn 1999. Die Ausgabe enthält eine vollständige Farbreproduktion der Handschrift.

Die Schreibweise der lateinischen Zitate aus beiden Texten habe ich der üblichen Orthographie angeglichen.

Antès in der Einleitung zu seiner zweisprachigen Ausgabe, a.a.O., S. XVI. 

  

Vgl. die Darstellung bei Ostrogorsky, a.a.O., S. 42.

7 a.a.O.

Antès, a.a.O., S. LVII der Einleitung.

9 Dieter Schaller, „Frühkarolingische Corippus-Rezeption“ in: Ders., Studien zur lateinischen Dichtung des Frühmittelalters, Stuttgart 1995, S. 346 – 360; hier:

S. 359.

10 Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, hrsg. von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Leipzig (Brockhaus) 1829, s.v. Cresconius, S. 133.

11 Schaller, a.a.O., S. 348.

12 Franz Brunhölzl im Vorwort zu seiner der Ausgabe des Karlsepos (s.o., Anm.4) beigefügten Übersetzung: „[E]in Titel ist nicht überliefert, hat möglicherweise ursprünglich gar nicht existiert.“ (S.5, Anm.). 

13 Alois Wolf, Heldensage und Epos: zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1995, S. 20. Dagegen Franz Brunhölzl: „Das Gedicht Karolus Magnus et Leo papa ist  n i c h t  Fragment, auch nicht Teil eines Epos von mehreren Büchern, sondern ein in sich abgeschlossenes Werk, dem zwei ähnliche Gedichte desselben Autors vorangegangen waren.“ (a.a.O.). 

Auch Stefan Weinfurter, der Verfasser der Erfolgsbiographie Karl der Große – Der heilige Barbar, München (Piper) 2013, bleibt bei der Bezeichnung Paderborner Epos und datiert es auf 799, S.269, Anm. 1.

14 „Das Aachener Epos für Karl den Kaiser“, a.a.O., vgl. Anm. 9 (Studien …), S. 129 – 163.

15 Schaller, a.a.O., S. 151f.

16 Schaller, „Corippus-Rezeption“, a.a.O., vgl.9, S. 359.

17 Dieser Vergleich orientiert sich an Schaller, a.a.O., S. 355. Aen. 6, 708 = Coripp 4,31 = Karlsepos 131. Vergil und Coripp: floribus insidunt variis, das  Karlsepos: floribus insidunt aliae; ore legunt: Georg., 4,201 = Coripp 4,32 = Karlsepos 129. 

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