G-Menschen und U-Wörter

,Gutmensch’ – so lautete das ,Unwort’ des Jahres 2015. Gesellschaftlich förderliches, menschlich bewundernswertes, moralisch exemplarisches Verhalten werde – so die Jury der entrüsteten ProfessorInnen, die den Bann verhängte – durch dieses Wort in den Dreck gezogen. Das G-Wort behauptete sich jedoch auch als U-Wort, so als wäre nichts geschehen.

Nur ein Jahr später startete daher der nächste Versuch der Sprachsäuberung, diesmal auf umgekehrte Weise: Statt es zu ächten, versuchte man nun, das Wort ,umzudrehen’, es mit einem positiven Inhalt zu füllen. Die Kampagne ‚Zusammen gut’ stand unter der Schirmherrschaft des Kölner Erzbischofs Woelki. In einem Video sprühte er mit grüner Farbe #gutmensch auf den Boden, einer jener couragierten Akte, die einem jeden Kirchenmann den erstrebten Medienapplaus sichern.

Auch dieses Mal überlebte der ehrfurchtlose Terminus, ja der buonista, wie die Italiener ihn nennen, erfreut sich robuster Gesundheit, im Alltagsgespräch wie in den sozialen Medien. Unsere Sprach-und Meinungsbetreuer sollten also erneut bei George Orwell nachschlagen, ob es nicht eine andere Möglichkeit gibt, ihm den Garaus zu machen.

Der Grund für die Beliebtheit des Wortes liegt auf der Hand: Es bezeichnet einen Menschentypus, der anderen dermaßen auf die Nerven geht, dass sie dankbar die Möglichkeit ergreifen, ihn kurz und treffend zu benennen.

Anzutreffen ist dieser Typ vor allem in Politik und Medien; wer in der realen Welt nach ihm sucht, sollte gerade nicht an den Orten herrlich bunter Vielfalt nach ihm Ausschau halten, etwa bei Lidl in Berlin Neukölln oder bei Aldi im Dortmunder Norden, sondern im Bio-Markt etwas komfortablerer Wohngegenden. Um das Wort zu beseitigen, müsste man die Sache abschaffen. Abgeordnete müssten ihre Plätze räumen, Klaus Kleber den Bildschirm, Bischöfin Käßmann die Kanzel.

Woher stammt dieser Menschentypus? Wer versucht, die geistesgeschichtlichen Hintergründe auszuloten, wird unweigerlich auf den Namen Rousseau stoßen.

Jean Jacques Rousseau (1712 – 1778) war Erfinder und Prototyp des Gutmenschen. Er, ein unermüdlicher Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, war es, der unter dem Schlachtruf ,Retour à la nature’ die Knechtung des Menschen durch ,die Gesellschaft’ kritisierte. Der Fortschritt habe den Menschen verdorben, der von Natur aus gut sei, ein geborener Gutmensch also.

In einem idealen Staat würde der Einzelne selbstlos alles für die Gemeinschaft geben. Die volonté générale, der allgemeine Wille der Bürger, wäre auf das Beste gerichtet. Der Bürger – das ist für Rousseau nicht der bourgeois, der feiste Besitzbürger (der CDU-Stadtrat, der FDP wählende Zahnarzt oder Apotheker), sondern der idealistische citoyen. Sollte sich in Rousseaus Staat jemand der volonté générale nicht beugen, gelte es eben, ihn zur Moral zu zwingen, ganz einfach. Man sieht: er war der Vordenker aller Grünen-Parteitage.

Rousseau, legendär humorlos, beteiligte sich an jeder Debatte, sorgte für Gesprächsstoff in allen Salons, war zu jedem moralischen ,Aufschrei’ bereit. Sein Werk Émile galt der idealen Kindeserziehung, ohne falsche Zwänge, beim Wandern durch die Natur. Die Zeit, sich um seine Familie zu kümmern, fand der Philanthrop allerdings nicht: Seine eigenen Kinder gab er im Waisenhaus ab, sah sie nie wieder und konnte so mit Muße, ohne Kinderlärm, über die Weltnöte nachsinnen.

Robert Spaemann hat dazu geschrieben1: Dass Rousseau die Erziehung seiner eigenen fünf Kinder „erst gar nicht versuchte, sondern sie allesamt im Findelhaus abgab, wollte er später nicht vorgehalten bekommen. Er hielt es vorbeugend andern vor. Es wäre für ihn mühselig gewesen, die Kinder durchzubringen, und als Émiles hätte er sie natürlich nicht aufziehen können. Unter der Voraussetzung seiner Maxime ,Alles oder nichts’ blieb also nur: nichts. Die Schuld traf diejenigen, die nicht ,alles’ möglich machten, also ,die Gesellschaft’. Niemand hat diese moderne Attitüde so exemplarisch vorgelebt wie Rousseau.“

 

1Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne, Stuttgart 2008, S. 116