Leere in Elfenbein

Ein Leser meines Blogs wies mich freundlicherweise hin auf ein mir bis dahin unbekanntes Werk, das „Handbuch der Hochstapelei in der Literaturwissenschaft“ (IGEL Verlag 2009) des emeritierten Anglistik-Professors Rolf Breuer. Ein höchst humorvoller und bereichernder Einblick in die Literaturwissenschaft der letzten Jahre.

Breuer, etwa als Experte für die englische Romantik bekannt, liefert in seinem Buch einen alphabetischen Überblick über die Techniken, mit denen man im universitären Bereich Inhaltsarmes aufwertet, um als Fachwissenschaftler dazustehen. 

In erster Linie durch ein möglichst ,komplex’ wirkendes Riesengeschwurbel, das alles Offensichtliche ,manifest’ macht, alles Wichtige ,relevant’, alles Umstrittene ,kontrovers’. Aus jedem Gespräch wird ein ,Diskurs’, und aus literarischen Gattungen werden ,Invarianzbildungsschemata’ (S.27).

Damit verbunden ist ein weiteres Ärgernis: die Auflösung des Textsinnes. Es gebe keinen objektiven Textinhalt – so die von Breuer kritisierten Geisteswissenschaftler, allen voran der legendäre Jacques Derrida – sondern nur einzelne Lesarten. Den Sinn eines Textes schaffe daher der Leser, nicht der Autor

Die Texte in ihrer individuellen Verfasstheit (also der Gegenstand der Philologie) sind daher nicht mehr so wichtig. Breuer nennt etwa einen Experten für ,Empirische Literaturwissenschaft’, der in seinem gedehnten Schrifttum an keiner Stelle Schriftsteller oder literarische Werke erwähne (S. 17).

S. J. Schmidt ist der Name des selbsternannten Experten, seine Wirkungsstätte die Universität Siegen. Für die allermeisten ,Denker’, die Breuer erwähnt, gilt: Außerhalb der Elfenbeintürme, in denen sie hocken, kennt sie kein Mensch. 

Genauso wenig wie diese edlen Pflanzstätten selber, von Siegen/Westf. bis Frankfurt an der Oder. Breuer (S. 66f.): „Studenten aller Länder, auf nach Frankfurt! Oder?“ (Dass diese Studenten, wie Breuer weiss, keine drei Bücher mehr aus eigener Lektüre kennen, versteht sich von alleine.)

Die ,literaturwissenschaftliche‘ Sichtweise ist wiederum Teil eines noch umfassenderen Anything goes, denn die Literaturwissenschaftler sehen sich ja als Teil der allgemeinen Kulturwissenschaft. Eigentlich sei alles ,soziales Konstrukt’, auch das Geschlecht, wie uns die gender studies weismachen wollen. Seit Breuers Buch 2009 erschien, mischen sich die Genderkundler, wie wir ja alle wissen, immer spürbarer in alle Lebensbereiche ein.

Bei maximaler ,Offenheit’ in alle Deutungsrichtungen und überbordender Begeisterung für Buntheit & Vielfalt sind die Literaturwissenschaftler, die ,Amateurphilosophen’ (S. 17), wie Breuer sie sarkastisch nennt, natürlich strengstens ,politisch korrekt’ (S. 60f.). In den zehn Jahren seit dem Erscheinen des Buchs hat sich diese ,Korrektheit’ immer weiter radikalisiert. Wehe dem, der Falsches meint, denn so ist das mit dem Deutungspluralismus auch wieder nicht gemeint.

Von der Annahme gesicherter biologischer Fakten, wie etwa des Einflusses der Hormone auf unser Verhalten, lässt sich die Gender-Laune nicht den Spaß verderben. Dieses Akzeptieren würde ja voraussetzen, pardon, präsupponieren, dass es so etwas wie Realität gibt, während der Poststrukturalismus uns lehrt, alles sei bloß ,Zuschreibung‘. 

„Man entzieht sich  – und das nicht heimlich, sondern offensiv – den harten Wissenschaftskriterien der Naturwissenschaften“ (S. 28), alle „Wirklichkeitsbereiche gelten als konstruiert und müssen daher dekonstruiert werden“ (S. 15, Artikel Dekonstruktion). Breuer zitiert (S. 51) aus der Vorstellung eines Buches eines R. W. Müller-Farguell (wer immer das auch sein mag):

„Die hier vorgebrachten Lektüren situieren sich im methodischen Moment, wo hermeneutisches Verstehen notwendig in Dekonstruktion umschlagen muss.“

Breuer: „Literatur- und Kulturwissenschaften mögen nicht den unmittelbaren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen der Physik oder Biologie haben. Dafür kennen sie aber auch nicht das Phänomen von Lug und Betrug, womit die Naturwissenschaften immer wieder einmal ins Gerede kommen. Nach den führenden französischen und amerikanischen Theoretikern der Literatur- und Kulturwissenschaften gibt es nämlich keine Wahrheit, keine Objektivität und keine Fakten.“ (S. 6) 

Es gilt hinzuzufügen: wohl aber Professuren, Beamtengehälter, Beihilfe- und Pensionsansprüche.