Ciceros Metaphernlehre und die Praxis des Sprachunterrichts: eine Unterrichtssequenz zu Stilfiguren

von Fabian Weimer, Christoph Wurm – Der Aufsatz erschien zuerst in Forum Classicum. Zeitschrift für die Fächer Latein und Griechisch and Schulen und Universitäten. Heft 3/2019, S. 166-173.

Überall an Schule und Universität, wo Textarbeit geleitet wird, ist die antike Stilistik
lebendiges Erbe; wer Alte Sprachen unterrichtet, sollte daher mit den Ursprüngen vertraut sein, auf terminologische Unterschiede in der Gegenwart gefasst sein und Schlüsse für den eigenen Unterricht ziehen. In die folgenden Ausführungen sind Erkenntnisse aus dem fachübergreifenden Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen anderer sprachlicher Fächer eingeflossen. Im Anschluss an die Darstellung der Metaphernlehre Ciceros soll ein konkretes Beispiel veranschaulichen, wie das Thema Stilfiguren in einer Sequenz des Oberstufenunterrichts in Latein behandelt werden kann.

Wie der anonyme Autor der Rhetorica ad Herennium behandelt Cicero die Stilfiguren, und zwar sowohl im Orator, als auch in De Oratore, dort mit Lucius Licinius Crassus als Sprachrohr. Er unterscheidet zwischen Tropen und Figuren. Herzstück seiner Darstellung der Tropen ist die Erläuterung der Unterschiede zwischen Metapher, Metonymie und Synekdoche.

Aristoteles hatte in seiner Poetik und in seiner Rhetorik diese drei Stilfiguren zwar klar abgegrenzt, sie aber alle unter dem einen Begriff der μεταφορά zusammengefasst (Poetik, 1457b), und zwar in der Reihenfolge totum pro parte, pars pro toto, Metonymie und Metapher: μεταφορὰ δέ ἐστιν ὀνόματος ἀλλοτρίου ἐπιφορὰ ἢ ἀπὸ τοῦ γένους ἐπὶ εἶδος ἢ ἀπὸ [τοῦ] εἴδους ἐπὶ τὸ γένος ἢ ἀπὸ τοῦ εἴδους ἐπὶ εἶδος ἢ κατὰ τὸ ἀνάλογον. [Die Metapher ist die Übertragung eines Wortes, das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird, und zwar entweder von der Gattung auf die Art, oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf eine andere, oder gemäß der Analogie.]

Cicero hebt sie nun auch begrifflich von einander ab. Er bezeichnet die Metapher (tralatio) als reduzierten Vergleich: „Similitudinis est ad verbum unum contracta brevitas.“(De Orat. III, 157), wie vor ihm schon Aristoteles. Dieser verwendet das Vergleichspaar ὡς δὲ λέων ἐπόρουσεν – λέων ἐπόρουσε als Beispiel [„Achilles stürzte los wie ein Löwe“ – „er stürzte los, ein Löwe“, nach Ilias XX, 164]. Aristoteles’ und Ciceros bewährte Erklärung ist auch im heutigen Sprachunterricht üblich: „An image can be expressed as a metaphor or as a simile. Example: ‘Time is a jet plane’ is a metaphor, ‘Time is like a jet plane’ is a simile (an explict comparison using like or as).“1

In allem spricht Cicero nicht aus der Außensicht des Analytikers, sondern aus der Erfahrung des Redners. Ausführlich behandelt er daher ein Thema (De Orat. III, 157 – 165), das in vielen modernen Handbüchern nur gestreift wird: die Frage danach, was denn an der Verwendung der Metapher so wirksam ist und welche Reaktionen sie beim Hörer hervorruft. Daraus gewinnt er Kriterien für den geglückten Metapherngebrauch. Die geschickt gewählte Metapher, so Cicero, kann Dinge sowohl anschaulicher als auch kürzer benennen als der eigentliche Ausdruck. Die Hörer lieben sie, wenn sie phantasievoll gewählt ist, weil sie Abwechslung in die Rede bringt, wegen ihrer Doppelbödigkeit, weil sie durch Anschaulichkeit auf die Sinne wirkt. Anstößig oder gar vulgär sollte sie nicht sein, sondern treffsicher und wohldosiert, nicht zu stark und nicht zu schwach. Dann wirkt sie, besonders, wenn sie einen Überraschungseffekt erzielt.

Sie kann auch zu Metaphernfeldern, Allegorien, erweitert werden. Zu meiden ist vor allem die dissimilitudo zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, das heißt das tertium comparationis muss den Zuhörern klar sein. Es stimmt nicht, dass „im Unterschied zum Vergleich“ „die Bezugsgröße nicht mehr genannt“2 wird; im Unterschied zum Vergleich muss sie nicht, kann aber genannt werden, denn es gibt implizite und explizite Metaphern.

Deutlich grenzt Cicero Metapher und Metonymie (μετωνυμία, inmutatio) voneinander
ab (Orat., 27, 93): „Tralata [verba] dico, ut saepe iam, quae per similitudinem ab alia re aut suavitatis aut inopiae causa transferuntur; mutata, in quibus pro verbo proprio subicitur aliud; quod idem significet sumptum ex re aliqua consequenti [eng zusammenhängend]. Er liefert ein Beispiel für die Metonymie, das er sowohl in De Oratore als auch in leicht unterschiedlicher Form im Orator verwendet (Orat. 27, 93; De Orat. III, 167): In dem Vers „Africa terribili tremit horrida terra tumultu.“ steht ,Africa’ für ,Afri’, ,tremit’ fasst das Erdbeben und das Erzittern der Menschen in eins.

Die Synekdoche wird, wie auch bei Aristoteles und in der Rhetorica ad Herennium3, nicht mit diesem Namen benannt, der von Quintilian stammt (Instit. Orat. 8, 6, 19). Cicero lässt offen, ob er sie als Stilfigur sui generis oder als Sonderform der Metonymie betrachtet; Crassus spricht in De Oratore von ,Nachbarfällen’ ,finitima’ der Metonymie. Er fächert die ,finitima’ in vier Ausprägungen auf: ex parte totum, ex toto parte, ex uno pluris, ex pluribus unum (III, 168).

Cicero geht auch auf die Katachrese (κατάχρησις, abusio) ein (De Oratore III, 168), ein Begriff, der bei ihm ,missbräuchlich’ verwendete Tropen bezeichnet, die sich eingebürgert haben. Er liefert zwei Beispiele: ,animus minutus’ statt ,animus parvus’, sowie ,oratio grandis’ für ,oratio longa’. Bei ,minutus’ dürfte der ,Missbrauch’ darin bestehen, dass ,parvus’ ein Absolutum ist, ,minutus’ dagegen relativ (das Reduzierte kann zum Beispiel immer noch riesig sein). Außerdem impliziert ,minutus’ im Unterschied zum gemeinten Sinne ,klein’ notwendigerweise eine Außeneinwirkung. Also ist ,animus minutus’ missglückt, es lässt sich weder als Metapher noch als Metonymie überzeugend einordnen.

Im zweiten Fall handelt es sich um den Ersatz der zeitlichen durch die räumliche Dimension, also ein durchaus metapherntypisches Verfahren. Hier aber ist es überflüssig, da funktionslos, denn ,grandis’ ist nicht anschaulicher als ,longa’. Man vergleiche dagegen folgendes Beispiel aus dem Neuen Testament (Matt. 6, 27; vgl. Lk. 12, 25), in dem ebenfalls mit den beiden Dimensionen gespielt wird: τίς δὲ ἐξ ὑμῶν μεριμνῶν δύναται προσθεῖναι ἐπὶ τὴν ἡλικίαν αὐτοῦ πῆχυν ἕνα; [Wer von euch kann dadurch, dass er sich Sorgen macht, der Statur seines Lebensalters eine einzige Elle hinzufügen?]. ἡλικία bedeutet sowohl ,Lebensalter’ als auch ,Körpergröße’, es handelt sich also um ein Wortspiel Jesu; für die Bedeutung ,Körpergröße’ ist ,Elle’ (ὁ πῆχυς) eigentliche Rede, für die Bedeutung ,Lebensalter’ eine Metapher für hinzugefügte Zeit. Hier wird exakt jener von Cicero geforderte rhetorische Überraschungseffekt erzielt.

Was die Schulpraxis betrifft, so sollte der Lehrer der alten Sprachen auf mehrere Probleme vorbereitet sein.

(1) Schüler oder Studenten erreicht die Lehre von den Stilfiguren heute häufig in Form von Arbeitsblättern, von denen unzählige im Netz bereitliegen, in allen Sprachen. Eine solche meist alphabetisch angeordnete Liste pflegt Tropen und Figuren durcheinander zu würfeln, für den Schüler ein buntes Bestiarium von Wortungetümen. Zum
einen verwischt die rein alphabetische Reihenfolge die fundamentale Trennlinie zwischen Stellungsfiguren und Tropen. Zum andern bleibt der logische Zusammenhang der Tropen unklar. Eine detaillierte Zergliederung der Stilfiguren in Unterformen wird erfahrungsgemäß im Unterricht in der Regel unnötig sein, da gutgewählte Beispiele genügen, es sollte jedoch klar werden, dass sich die Tropen in logischen Einzelschritten auf einer Achse der wachsenden Distanz vom eigentlich Gemeinten eintragen lassen.

Sie beginnt bei den von Cicero zuerst (De Orat. III, 153 – 154) behandelten Archaismen und Neologismen, die ja Synonyme des eigentlich Gemeinten sind und nur eines anderen ,Tons’ wegen gewählt werden. Es folgt die Synekdoche, bei der Gesagtes und Gemeintes wenigstens zum Teil noch kongruent sind, dann die Metonymie, bei der Gesagtes und Gemeintes ,nebeneinanderliegen’. Die Metapher bringt dann einen Bruch, denn sie ist durch eine weite Kluft vom eigentlich Gemeinten getrennt.4 In einer neu erschienenen,
für Schüler bestimmten Einführung in die Arbeit mit Lyrik wird diese Tatsache gelungen auf den Punkt gebracht: „Im Unterschied zu Metapher und Vergleich besteht bei Metonymie und Synekdoche keine Ähnlichkeits-, sondern eine Kontaktbeziehung zwischen zwei Gegenständen oder Sachverhalten.“5

(2) Teilweise werden Begriffe anders verwendet als im Unterricht der Alten Sprachen. Laut Duden6 hat der Begriff ,Katachrese’ im Deutschen zwei völlig verschiedene Bedeutungen „1. Verblasste Bildlichkeit, gelöschte Metapher (z.B. Bein des Tisches) 2. Vermengung von nicht zusammengehörigen Metaphern; Bildbruch (z.B. das schlägt dem Fass die Krone ins Gesicht).“ In der ersten Bedeutung bezeichnet die ,Katachrese’ also solche Metaphern, die in der Normalsprache ,missbräuchlich’ an der Stelle eigentlicher Ausdrücke stehen, wie Flaschenhals, Nagelkopf, Schlüsselbart – Schlüsselhalm, eine Definition, die auf Quintilian (Instit. Orat. 8, 6, 34) zurückgeht, nicht auf Cicero.

Die erste, die ursprüngliche Funktion der Tropen war es, so Cicero, ein Objekt schnell und anschaulich zu bezeichnen. So sagen auch wir ,Bart’ und nicht ,metallene Ausfräsungen unterschiedlicher Länge, die vom vorderen Teil des Schlüssels ausgehen’. Es gibt ja ganze Wirklichkeitsbereiche, über die man sich nur metaphorisch verständigen kann, so wie wenn jemand seine Schmerzen als ,pochend’, ,hämmernd’ oder ,stechend’ bezeichnet. Ludwig Tieck hat sich einmal – ironisch! – den Gedanken vom Missbrauch der Metapher zu eigen gemacht, indem er einem seiner Charaktere die Worte in den Mund legt: „,Der Morgen erwacht.’ Es gibt keinen Morgen. Wie kann er schlafen? Es [sic] ist ja nichts als die Stunde, in der die Sonne aufgeht. ,Verflucht! Die Sonne geht ja nicht auf’, auch das ist ja schon Unsinn und Poesie. O dürft ich nur einmal über die Sprache her und sie so recht säubern und ausfegen! O verdammt! Ausfegen! Man kann in dieser lügenden Welt es nicht lassen, Unsinn zu sprechen!“7

Zu der ursprünglichen Funktion, so Cicero, sei dann die Verwendung als Redeschmuck hinzugekommen, so wie man Kleider aus Notwendigkeit, aber auch zum Schmuck trage: „verbi translatio instituta est inopiae causa, frequentata delectationis“ (De Orat. III, 155).

Zwei weitere in der Altphilologie unübliche Begriffsverwendungen: Die Synekdoche wird definiert als Sonderform der Metonymie8; der Unterschied wird zugunsten des einen Begriffs Metonymie eingeebnet, so wie schon Cicero keinen eigenständigen Begriff für die Synekdoche verwendet. Und: In der englischsprachigen Welt findet das Wortpaar tenor für das Bezeichnete und vehicle [ˈviːəkl] für das Bezeichnende Verwendung.

(3) Es finden sich unklare oder irreführende Definitionen. Im Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English9 etwa wird die Metapher (,metaphor’) folgendermaßen definiert: „a word or phrase used in an imaginative way to describe sb/sth else, in order to show that the two things have the same qualities and to make the description more powerful“. Irreführend ist hier die Formulierung „have the same qualities“, sie klingt, als gehe es nicht um die Stilfigur Vergleich, sondern um einen faktischen Punkt-für-Punkt-Vergleich zwischen zwei einander ähnelnden Dingen.

(4) Bei der Wahl repräsentativer Einzelbeispiele wird nicht genug berücksichtigt, dass manche Beispiele ohne Kontext – teilweise auch im Kontext – mehrfach deutbar sind.
Andere sind als Paradebeispiele für eine einzelne Stilfigur ungeeignet, da sich in ihnen Kombinationen von Stilfiguren finden.

Ein Fall aus einem französischen Handbuch, Figures de style10: „L’hymen chez les Romains n’admet qu’ une Romaine./ Rome hait tous les Rois, et Bérénice est Reine.“ (Jean Racine, Bérénice, Akt I, Szene 4). [Eine gültige Ehe kann man bei den Römern nur mit einer Römerin eingehen. Rom hasst alle Könige, Berenice aber ist eine Königin.] ,Rome’ soll als repräsentatives Beispiel die Stilfigur der Synekdoche (,synecdoque’), hier des totum pro parte, illustrieren. Das Beispiel ist deshalb ungeeignet, weil es eine zweite Stilfigur voraussetzt. Liest man nämlich ,Rome’ als totum, dann versteht man es im Sinne der umfassenden Idee ,Rom’. Da ,Rom’ aber unzweifelhaft zunächst einmal Ortsangabe ist, heißt das, dass diese Angabe als pars pro toto, nämlich für die Idee ,Rom’ verwendet wird, die wiederum für eine andere pars, nämlich ,die Römer’, steht. Nimmt man es dagegen als bloße Ortsangabe, so handelt es sich um ein Metonym, so bei Cicero in De Oratore, wo Crassus das Ennius-Beispiel „Desine, Roma, tuos hostis“ liefert (III, 167).

Ein weiteres Beispiel für ein Einordnungsproblem: In einem Sachwörterbuch11 dient die
Bezeichnung eines Mannes als ,Kastanienschädel’ (E. Strittmatter) als typisches Beispiel für ein Metonym. Auch hier liegt jedoch eine Kombination vor. Das Denken, die Haltung des Mannes bezeichnet pars pro toto die ganze Person. Dazu tritt eine Metonymie: für das Denken steht sein Sitz, der Schädel. Die Intransingenz des Mannes wird durch die Metapher von der Kastanienhärte dieses Schädels veranschaulicht. (Für das Alltagswort vom ,Dickkopf’ gilt dieselbe Struktur).

(5) Pleonasmus, Tautologie und gemischte Metaphern werden aufgrund einer Verwechslung des logischen mit dem stilistischen Kriterium pauschal als Stilfehler geächtet; auch hier gilt es, jeden Einzelfall in seinem Kontext zu prüfen – bei aller Berechtigung der Warnung vor dem ,weißen Schimmel’. Ein Beispiel aus den Metamorphosen aus der Geschichte von Picus und Circe (XIV, 365 f.): „Concipit illa [=Circe] preces et verba precantia dicit/ ignotosque deos ignoto carmine adorat …“ Die in kunstvollem Chiasmus angeordneten Fügungen „Concipit preces“ und „verba precantia dicit“ sind ein von Ovid mit Bedacht gewähltes Hendiadyoin. Sie verdeutlichen Häufigkeit und Heftigkeit der Bitten Circes. Der belebte Versrhythmus (zwei aufeinanderfolgende Daktylen bei „verba precantia“) dient zur weiteren Betonung. Kontrapunktisch stehen einander die Dopplungen ,Preces’/,precantia’ und ,ignotos’/,ignoto’ gegenüber und verleihen dem Verspaar besondere Klangfülle.

Die Metapher ist fundamental für jede Analyse von Sprechen und Verstehen. Ihre Verwendungen im öffentlichen Raum sind oft Gegenstand hitziger Diskussion. Man denke an die Kontroversen, die so manche unbedachte Politikermetaphern, veritable ,Tritte ins Fettnäpfchen’, ausgelöst haben, so wie auch die Synekdoche ,Flüchtlinge’ für ,Migranten’ für Streit gesorgt hat. Oder: an die Diskussion in den Naturwissenschaften darüber, ob Metaphern aus der naturwissenschaftlichen Sprechweise möglichst ausgeschlossen werden sollten oder nicht. Ein anderes Beispiel: Eine der Grundfragen der Bibelexegese ist die danach, ob zu untersuchende Passagen metaphorisch oder als Klartext verstanden werden sollten12.

Aus diesen Überlegungen über die Bedeutung der Metapher ergeben sich wie gesagt auch einige Konsequenzen für ihre Thematisierung im altsprachlichen Unterricht. Ein Beispiel dafür soll im Folgenden vorgestellt werden. Es handelt sich hierbei um eine Unterrichtssequenz, die für den Einsatz in der Oberstufe (Qualifikationsphase) geeignet ist und sich auf Senecas Epistulae morales fokussiert, die gleichsam als klassische Schullektüre gelten können.13

Im Zentrum der Sequenz steht die Erarbeitung der vielfältigen Funktionsweisen der Metapher anhand eines konkreten literarischen Beispiels, namentlich der Epistula 70 Senecas, in welcher er für das menschliche Leben die Metapher einer Seefahrt benutzt (Sen. epist. 70,1–5) und damit vor allem das rasche Verstreichen der Zeit illustriert. Direkt im zweiten Abschnitt des Briefes gibt er das Programm der folgenden Zeilen vor: „Praenavigavimus, Lucili, vitam […] (epist. 70,2). Dabei verwendet Seneca eine ganze Metaphernreihe, er bleibt nahezu durchgängig im bildhaften Ausdruck der Seefahrt, verknüpft ihn mit einem Vergilzitat und reizt ihn nachgerade aus (die Seefahrtmetaphern sind hier hervorgehoben):

“[…] et quemadmodum in mari, ut ait Vergilius noster, terraeque urbesque recedunt, sic in hoc cursu rapidissimi temporis primum pueritiam abscondimus, deinde adulescentiam, deinde quidquid est illud inter iuvenem et senem medium, in utriusque confinio positum, deinde ipsius senectutis optimos annos. Novissime incipit ostendi publicus finis generis humani. Scopulum esse illum putamus dementissimi: portus est, aliquando petendus, numquam recusandus, in quem si quis intra primos annos delatus est, non magis queri debet quam qui cito navigavit. Alium enim, ut scis, venti segnes ludunt ac detinent et tranquillitatis lentissimae taedio lassant, alium pertinax flatus celerrime perfert. Idem evenire nobis puta: alios vita velocissime adduxit, quo veniendum erat etiam cunctantibus, alios maceravit et coxit” (epist. 70,2–4).

Diese durchaus stringente Verwendung einer übergeordneten Metapher, welche den Abschnitt regiert, ist so auffällig, dass sie auch den Schülern schnell ins Auge fällt. Dies lässt den Briefauszug als ideale Grundlage für die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Stilmittel der Metapher im Unterricht erscheinen, welche sowohl als Exkurs wie auch als thematische Sequenz in die Senecalektüre eingebunden werden kann.14 Die kontextuelle Einordnung steht zudem der oben monierten Bruchstückhaftigkeit entgegen, mit welcher die Stilmittel oftmals im Unterricht eingeführt werden; nicht zuletzt ist auch der logische Zusammenhang für die Schüler einsichtig, wie im Folgenden detailliert zu zeigen sein wird.

Dabei werden die Schüler mit der Seefahrt-Metapher zunächst jedoch auf Umwegen, in der Form eines Bildes von Caspar David Friedrich, konfrontiert, namentlich mit dem in Leipzig befindlichen Gemälde „Die Lebensstufen“, das um 1835 entstand.15 Dieses Bild, wurde, wie sein Titel suggeriert, „in der Forschungsgeschichte überwiegend als Allegorie des Lebens gedeutet“.16

Abb. 1: C. D. Friedrich, Die Lebensstufen, um 1835, Museum der bildenden Künste Leipzig https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Lebensstufen#/media/File:Caspar_David_Friedrich_013.jpg, letzter Besuch 07.06.2019.

Auf dem Gemälde sind zentral fünf Personen am Ufer und ebensoviele Schiffe auf dem Meer zu erkennen, diese in unterschiedlicher Größe und Entfernung zum Horizont, jene in unterschiedlichen Lebensaltern. Die Schiffe werden von den meisten Kunsthistorikern als „Lebensschiffe der Personen an Land“17 interpretiert. So erscheint das große Schiff, das der Küste entgegen segelt, als Äquivalent des greisen Mannes im Bildvordergrund, den beiden spielenden Kleinkindern werden die beiden kleinen Schiffe zugeordnet, welche, dem Ufer noch nahe, ihre ‚Lebensfahrt‘ gerade erst begonnen haben. Das ältere Mädchen bzw. die junge Frau und der Mann mittleren Alters können mit den größeren Schiffen in Verbindung gebracht werden, welche am weitesten von der Küste entfernt sind.

Ohne die Frage näher diskutieren zu wollen, inwiefern der ja ursprünglich literarisch geprägte Begriff der Metapher nahtlos auf die Kunst zu übertragen ist – etabliert hat er sich auch in dieser Sphäre jedenfalls längst18 –, liegen die Ähnlichkeiten zwischen Friedrichs und Senecas (Sprach-)Bild auf der Hand.

Das Gemälde, als offener Bildimpuls eingeführt, wird von den Schülern zunächst beschrieben und anschließend gedeutet. Sollte die Parallelität zwischen Schiffen und Personen von ihnen nicht selbst erkannt werden, ist an dieser Stelle auch ein mehr oder weniger zurückhaltender Lehrerimpuls angemessen.

Nachdem so das Sequenzthema „Das Leben – eine Seefahrt?!“ von den Schülern erarbeitet und verbalisiert wurde, wirft der Lehrer die Frage auf, mit welchem ihnen (aus dem Latein- oder Deutschunterricht) bekannten Stilmittel sich eine solche „Übertragung eines […] vergleichbaren Begriffes auf einen anderen“19 am besten erreichen lässt. Die Schüler werden hier mit aller Wahrscheinlichkeit neben der Metapher auch noch den Vergleich nennen, auf deren Unterschiede bereits an dieser Stelle des Unterrichtsgesprächs eingegangen werden kann.

Die Schüler entwerfen im Folgenden ein ‚Vokabelheft‘, oder richtiger eine Vokabelliste, in welchem bzw. welcher sie Wörtern aus dem Sachfeld „Leben“ passende ‚Übersetzungen‘ aus dem Sachfeld „Seefahrt“ zuordnen, und zwar im ersten Schritt auf Deutsch, im zweiten und mithilfe eines deutsch-lateinischen Schulwörterbuchs auf Lateinisch. So werden sie von der regierenden ‚Leitmetapher‘ bereits auf die Teilmetaphern gestoßen, welche sie später auch bei Seneca finden können. Typische Begriffsnennungen können hier z. B. die stürmische See für einen krisenhaften Lebensabschnitt oder die Klippe als Hindernis für einen bestimmten Lebensplan sein. Die Metapher der Klippe, „scopulus“, findet sich bekanntlich auch bei Seneca.

Eine erste Vorentlastung des lateinischen Textabschnitts (Sen. epist. 70,1–5) ist damit erreicht, noch bevor die Schüler den Text selbst gelesen haben. Im nächsten Schritt erfolgt die eigentliche Erschließung, indem sie aus dem Text alle Wörter und Wortgruppen des Sachfelds „Seefahrt“ heraussuchen und infolgedessen eine begründete Vermutung über den Inhalt dieses Abschnitts anstellen. Dabei dient ihnen die Vokabelliste aus der vorangegangenen Erarbeitungsphase als Hilfsmittel.

Sinnvollerweise übersetzen die Schüler nun unter Anwendung einer im Unterricht erprobten Methode den lateinischen Textabschnitt und konfrontieren ihre Rekodierung mit ihren Texterwartungen. Im Anschluss erweitern die Schüler ihre Vokabellisten um einen neuen Abschnitt und ‚übersetzen‘ Senecas Seefahrtsmetaphern, indem sie ihnen (deutsche) Wörter und Wortgruppen zuordnen, die dem menschlichen Lebenslauf entstammen.
Abschließend diskutieren die Schüler im Rahmen des Plenumsunterrichts mögliche Gründe, aus denen Seneca eine solche Metapherndichte einsetzt.

Als abschließender Transfer kann ein YouTube-Video des offiziellen WDR-Kanals gezeigt werden, welches auf humorvolle Art verdeutlicht, welche Folgen es haben kann, wenn man Metaphern ‚wörtlich‘ nimmt. Es handelt sich dabei um einen Ausschnitt aus der ‚Sendung mit der Maus‘ anlässlich der Fußball-WM 2014, „Fußballfloskeln wörtlich genommen“.20 Dabei werden durch Schauspieler Begriffe aus der an Metaphern so überreichen Sphäre des Fußballs in ihrer ursprünglichen Bedeutung visualisiert. Mithilfe dieses Videos kann die Besprechung der Metapher vom konkreten Exempel Seneca in (für die meisten Schüler, zumindest in Dortmund) lebenswirklichere Bahnen gelenkt werden, indem diskutiert wird, welchen Sinn und Nutzen, aber auch welche Grenzen der Einsatz von Metaphern im Alltag hat. Am Ende werden die Schüler so erkennen, dass sie allenthalben von Wirklichkeitsbereichen umgeben sind, über die man sich nur metaphorisch verständigen kann.

Anmerkungen:

1 R. Giese, E. Schroeder, C. Wurm, Writing Better English – Englischer Lernwortschatz zur Textarbeit, Stuttgart 2015 (2012), S. 46

2 K.-E. Sommerfeld, W. Spiewok, Sachwörterbuch für die deutsche Sprache, Leipzig, 1989, K.-E. Sommerfeld, W. Spiewok, S. 146

3 Dort heißt sie intellectio, (IV, 44), also ,Inbegriff’.

4 M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung. (Artemis Einführungen Bd. 10), München/Zürich 1984, S. 124 ff.

5 R. Kellermann, Gedichte analysieren und interpretieren: Reclam Kompaktwissen XL,
Stuttgart 2017, S. 63

6 Duden Online Wörterbuch s.v. Katachrese, aufgerufen am 16. 8. 2017

7 Zitiert bei L. Reiners, Stilkunst. Ein Lehrbuch der deutschen Prosa, München 1953, S. 262. Dort findet sich auch das Goethe-Zitat: „Gleichnisse dürft ihr mir nicht verwehren. Ich wüßte mich sonst nicht zu erklären.“

8 So B. Moennighoff, Stilistik, Stuttgart (Reclam) 2009, S. 74

9 A. S. Hornby, hrsg. von S. Wehmeier, 6. Aufl. 2001

10 A. Beth, E. Marpeau, Paris 2005

11 Sachwörterbuch für die deutsche Sprache, s.o., Anm. 2, S. 143

12 So hat etwa der Oxforder Philosoph und Logiker Michael Dummett in seinem vielbeachteten Aufsatz „Biblische Exegese und Auferstehung“ (Internationale katholische Zeitschrift „Communio“, Heft 3/84, S. 271 – 283), einen doppelten Angriff auf den Umgang vieler Theologen mit der Metapher vorgetragen, sowohl im Hinblick
auf ihr Verständnis biblischer Texte, als auch im eigenen Sprachgebrauch der Theologen.

13 So finden die Luciliusbriefe explizite Erwähnung z. B. in der Abiturobligatorik 2019 (S. 3–5), 2020 (S. 3–5) und 2021 (S. 4–6) für das Land Nordrhein-Westfalen, und zwar sowohl im Grund- als auch im Leistungskurs, vgl. https://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/cms/zentralabitur-gost/faecher/fach.php?fach=4, aufgerufen am 07.06.2019

14 Die vorliegende Sequenz wurde am Mallinckrodt-Gymnasium Dortmund im Rahmen des Unterrichtsvorhabens „Zeit und Freizeit, Leben und Tod: Der Mensch bei Seneca im Spannungsfeld zwischen stoischer Philosophie und altrömischer virtus“ im Verlauf von sechs Unterrichtsstunden in der Jahrgangsstufe 11 (Q1) erfolgreich erprobt.

15 Vgl. zu diesem Bild allg. N. Wolf, Caspar David Friedrich, Köln 2013, S. 89 – 91

16 S. Cibura, Das Schiff als politische Metapher bei Caspar David Friedrich, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 26, 2003, S. 248, welche das Gemälde, ebenso wie andere Schifffahrtsbilder Friedrichs, ausführlich in ihrer Metaphorik bespricht, freilich mit einem anderen Fokus als dem hier gesetzten.

17 Ebd., S. 249

18 Vgl. z. B. Das große Kunstlexikon von P. W. Hartmann auf BeyArs.com, s.v. Metapher, http://www.beyars.com/kunstlexikon/lexikon_5946.html, aufgerufen am 07. 06. 2019

19 M. Bradtke, Lateinische Stilmittel, Stuttgart (Reclam) 2016, S. 83

20 Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=mf72t9B_CEI, aufgerufen am 07.06.2019

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