Die Römer nicht bewundern, sondern nachahmen – Machiavelli als Leser des Titus Livius
von Christoph Wurm – Forum Classicum 04/2011
Am 5. Juli 1476 übergibt der Florentiner Anwalt BERNARDO MACHIAVELLI, Vater des sechsjährigen NICCOLÒ, dem Meister NICCOLÒ DI LORENZO DELLA MAGNA, einem Drucker, Geistlichen und Astrologen, ein von ihm erstelltes Verzeichnis mit Ortsangaben zu einer Druckversion von Ab urbe condita1. Dieser wollte offensichtlich einen eigenen Druck veröffentlichen (zu dem es jedoch anscheinend nie kam). Die Gegenleistung für MACHIAVELLIS Mühen: Er konnte sein Arbeitsexemplar des kostbaren LIVIUS-Drucks behalten, es fand Eingang in seine Privatbibliothek. Ungefähr vierzig Jahre später sollte BERNARDOS Sohn NICCOLÒ den berühmtesten Kommentar zu LIVIUS verfassen.
1512 wurde NICCOLÒ MACHIAVELLI (1469 – 1527) mit dem Sturz der Demokratie in Florenz von den MEDICI aus seinem Amt verjagt. Er war Vorsteher der Kanzlei der Zehn, der Behörde, der Heerwesen und Außenpolitik unterstanden. So endete seine vierzehnjährige politische Tätigkeit, eine vierzehnjährige Zeit erzwungener Muße brach an. Er zog sich aufs Land zurück und beschäftigte sich mit den Angelegenheiten seines kleinen Gutsbetriebs, vertrieb sich die Zeit mit Leimrutenjagd, in den Schenken beim Kartenspiel mit Handwerksleuten und fahrendem Volk und widmete sich der Lektüre und dem Schreiben, geprägt von der Umwälzung der politischen Verhältnisse, die der Einfall der Franzosen unter Karl VIII. (1494) in Italien herbeigeführt hatte.
Während dieser Jahre entstanden vor allem der Principe und das Werk über die erste Dekade des TITUS LIVIUS. Er versuchte auf diese Weise, Einfluss auf die politische Wirklichkeit zu nehmen, da ihm die praktische Beteiligung versagt war.
Er betrachtete die Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio2 als die Summe seiner Einsichten. Das Buch enthalte, so schreibt er zu Beginn der Widmung des Werks an zwei Florentiner Freunde,
quanto io so e quanto io ho imparato, per una lunga pratica e continua lezione, delle cose del mondo.
„alles was ich weiß und was ich mir – durch lange Erfahrung und kontinuierliche Lektüre – über die Dinge der Welt angeeignet habe.“.
Wie eine Buchrolle der Antike zirkulierte das zwischen 1513 und 1517 entstandene Werk in handschriftlichen Kopien; im Druck erschien es erst nach seinem Tode 1531, fast gleichzeitig mit dem weitaus bekannteren Principe.
Entsetzt über die politische Zerrissenheit seiner Heimat will MACHIAVELLI aus Ab urbe condita fundamentale Erkenntnisse über Politik und Kriegsführung gewinnen; Motiv für die Abfassung seines Kommentars ist die “Überwindung des politischen Ruins
Italiens“.3 Das republikanische Rom hat für ihn Vorbildcharakter für jede Art rationaler Politik; er ist davon überzeugt, dass Staaten und Völker immer die gleichen Probleme bestehen und identische Erfahrungen machen müssen. Daraus ergibt sich der paradigmatische Wert der Antike. Eine Kapitelüberschrift (I, 39) lautet daher:
In diversi popoli si veggano spesso i medesimi accidenti. – „Bei verschiedenen Völkern ereignen sich oft die gleichen Dinge.“
Dann fährt der Autor fort:
E’ si conosce facilmente per chi considera le cose presenti e le antiche, come in tutte le città e in tutti i popoli sono quegli medesimi desideri e quelli medesimi omori, e come vi furono sempre. In modo ch’egli è facil cosa a chi esamina con diligenza le cose passate, prevedere in ogni republica le future e farvi quegli rimedi che dagli antichi sono stati usati o, non ne trovando degli usati, pensare de’ nuovi per la similitudine degli accidenti.
„Und wer sich mit den gegenwärtigen und den antiken Ereignissen beschäftigt, erkennt leicht, dass alle Städte und alle Völker die gleichen Wünsche und die gleichen Launen haben und immer schon hatten. Untersucht man also sorgfältig die vergangenen Ereignisse, so ist es ein Leichtes, in jedem Staat die kommenden vorherzusehen und die gleichen Mittel anzuwenden, die auch von den Alten angewandt wurden, oder, wenn bereits erprobte Mittel nicht zur Verfügung stehen, neue auszudenken, weil die Ereignisse gleich sind.“
Zu Beginn seines Werkes kontrastiert MACHIAVELLI zwei Arten der Lektüre antiker Autoren: die gegenwärtige, falsche Art, die Klassiker zu lesen, und seine eigene.4 Es gehe weder darum, die Leistungen Roms bloß zu bewundern, noch darum, Vergnügen an der Mannigfaltigkeit der Geschichte (varietà degli accidenti) zu haben (Proemio A, 8/B, 6).
Stattdessen gelte es, aus ihrem Studium unmittelbaren Gewinn für die politische Praxis zu ziehen (Proemio A, 9/B, 7). Die Geschichte müsse Lehrmeisterin für das politische Handeln der Gegenwart sein.5 Auch der aktuelle Stand der Jurisprudenz oder der Medizin beruhe ja auf der Nutzung der Vorarbeit der früheren Generationen (Proemio, A, 5/B, 3).
„Le marquis, irrité contre son temps, se fit lire Tite-Live“ („In seinem Ärger über seine eigene Zeit ließ der Marquis sich den Livius vorlesen“) heißt es in dem Roman Le rouge et le noir.6 Dieser Satz könnte auch auf MACHIAVELLI passen, aber mit dem Unterschied, dass er im Gegensatz zu STENDHALS gichtiger Romanfigur in der Lektüre keine Ablenkung von der Gegenwart suchte, sondern Impulse zu ihrer Veränderung.
Die Nachfolger Petrarcas waren als gebildete Literaten in die Vergangenheit gezogen und hatten als Textkritiker und Textexegeten die literarischen Quellen studiert und sich an ihren humanen und ästhetischen Idealen berauscht. Die antiken Autoren entriß man der Vergangenheit, weil man sie als Meister der Lebenskunst brauchte und sie allein den würdigsten Weg zum rechten Menschentum, zur wahren ‚humanitas’ wiesen. Allgemeinhistorische Fragen, etwa nach Politik und Wirtschaft, trugen zu diesem Ziel nichts bei und fielen auch niemand ein. Gründlich anders wurde dies erst mit Nicolò Machiavelli.7
Die Discorsi sind weder ein Kommentar, der der Chronologie des LIVIUS folgt, noch ein systematisches politisches Gedankengebäude, sondern MACHIAVELLI behandelt in jedem der drei Bücher des Werks eine Vielzahl von Teilthemen, die ihm für die Erkenntnis der Grundlagen der Politik essentiell zu sein scheinen. Einer These folgt jeweils ihre Darlegung und Illustration in einer Lektion in politischer oder militärischer Vernunft.
Das erste Buch (60 Kapitel) behandelt die Innenpolitik, das zweite (33 Kapitel) die Außenpolitik. Das dritte – buntscheckigere und daher inhaltlich schwer auf einen Nenner zu bringende – Buch (49 Kapitel) behandelt vor allem Fragen der Sicherheit des Staates. In jedem der drei Bücher werden auch militärische Themen berücksichtigt, da sie – wie etwa die Notwendigkeit eines stehenden Heeres (II, 20) – untrennbar mit der Politik verbunden sind.
Den Begriff der Republik verwendet der Autor dabei zum Teil allgemein im Sinn von ‚Staat’, zum Teil für jede Staatsform, an der das Volk in irgendeiner Weise politisch beteiligt ist. Der Wille des Volkes muss durch geeignete Politiker gelenkt (I, 44) und vertreten werden, die mit ihrer Autorität Exzesse verhindern können. Der Autor zitiert (I, 54, 2) aus der Aeneis (I, 151f.), wo Neptun die tobenden Wogen so bändigt wie ein Mann von Ansehen das ignobile volgus:
Tum pietate gravem ac meritis si forte virum quem
conspexere, silent, arrectisque auribus adstant.
Für MACHIAVELLI spielen Abstraktionen keine Rolle. Der lebendige Mensch ist das einzige Gesetz politischen Geschehens, sein Ausgangspunkt und sein Ziel zugleich.
Ihn machen „nur Hunger u. Liebe, Habsucht u. Geschlechtslust zum sozialen Element wider Willen, zum ungefügen Baustein einer höheren, dem Ganzen dienenden Gemeinschaft“.8 Jede Staatsgründung müsse zur Prämisse haben, dass der Mensch böse sei (I, 3, 2):
Come dimostrano tutti coloro che ragionano del vivere civile, e come ne è piena di esempli ogni istoria, è necessario a chi dispone una republica e ordina leggi in quella, presupporre tutti gli uomini rei, e chi li abbiano sempre a usare la malignità dello animo loro qualunque volta ne abbiano libera occasione (…).
„Wie alle diejenigen, die Politik erörtern, beweisen, und wie die Geschichte es durch viele Beispiele belegt, muss der, der ein Staatswesen gründet und ihm Gesetze gibt, davon ausgehen, dass alle Menschen schlecht sind und dass sie stets ihrer bösen Anlage folgen, falls sich ihnen nur eine Gelegenheit dazu bietet.“
Gesetze und staatliche Einrichtungen dienen dazu, den Menschen im Schach zu halten. (I, 3). Fürst, Adel und Volk – in Rom Konsuln, Senat und Volk (I, 2) – sollen einander unter dem Dache einer Mischverfassung im Sinne des POLYBIUS und des
ARISTOTELES9 kontrollieren (I, 2). Eine neue Verfassung oder Staatsform kann nur von einem einzigen Weisen initiiert werden. (I, 9, 6):
Però uno prudente ordinatore d’ una republica, e che abbia questo animo di volere giovare non a sé ma al bene comune, non alla sua propria successione ma alla comune patria, debbe ingegnarsi di avere l’autorità solo; né mai uno ingegno savio riprenderà alcuno di alcuna azione straordinaria che per ordinare un regno o constituire una republica usasse.
„Daher muss ein weiser Begründer eines Republik, der nicht sich selber, sondern dem Allgemeinwohl, nicht der Vererbung einer Herrschaft, sondern dem gemeinsamen Vaterland dienen will, dafür streiten, dass er allein die Macht hat. Und ein kluger Kopf wird nie einen Mann wegen einer außerordentlichen Handlung tadeln, die er begangen hat, um ein Königreich oder eine Republik zu gründen.“
Die Bewahrung des Staates aber muss auf viele Schultern verteilt werden (I, 5).
The virtue of great individuals is necessary when the rule of law is yet to be instituted, or needs to be restored, while the virtue of a people as a whole is necessary to preserve it, if it is already in place.10
Der Staatsmann, der die beiden von MACHIAVELLI gepriesenen Eigenschaften der prudenza und der virtù in sich vereinigt, wird seine Machtposition keinem Erben hinterlassen (I,10). Die römische Kaiserzeit habe gezeigt, wie schädlich das Vererben von Macht sei, was MACHIAVELLI durch den Hinweis auf die unterschiedliche Qualität der Erbkaiser und der Adoptivkaiser belegt – ein Angriff auf die Familienherrschaft der MEDICI.
Achtet der Fürst die Institutionen einer bürgerlichen Verfassung, den Senat und die Amtsträger und weist sich so innenpolitisch als republikanischer Friedens- und Einheitsfürst aus, kann er die Tradition der guten, nicht durch Erbfolge an die Macht gekommenen Regenten fortsetzen, welche die römische Geschichte auch vorgibt. 11
Eine Republik ist stabiler als ein Fürstentum, da sie sich besser den Erfordernissen der jeweiligen Zeitläufe anzupassen vermag als ein Fürst, denn ein Einzelner ist gewohnt, stets auf dieselbe Art zu handeln und ist nicht flexibel genug (I, 58). MACHIAVELLIS Ideal ist die innen wohlgeordnete, nach außen starke Republik12:
He never loses sight of his conviction that a carefully organized, well-regulated republic
is more efficient and more powerful than a government ruled by a prince. But it cannot exist without the the efficacy and power of a citizen militia: the two are interdependent.
Die Anprangerung römischer discordia sei verfehlt. Die Konflikte zwischen Adel und Volk seien segensreich gewesen; die Ständekämpfe – so der Autor – waren im Vollzug gefährlich, aber unumgänglich, denn sie entsprachen der dauernden Notwendigkeit eines Interessenausgleichs. Sie waren im Ergebnis positiv für Rom, da die plebs sich zuerst prae-institutionell – durch die secessiones – dann durch Volkstribunen ihre Rechte erkämpfte. Die dabei vorkommende Gewaltanwendung hielt sich – so MACHIAVELLI – in Grenzen, es gab wenige Tote, kaum Verbannte.
E se i tumulti furano cagione della creazione de’ Tribuni meritano somma laude, perché oltre al dare la parte sua all’ amministrazione poplare, furano constituiti per guardia della liberta romana (…)“ (I, 4,12)
„Und wenn die Konflikte Anlass zur Einsetzung von Volkstribunen waren, dann verdienen sie höchstes Lob; denn nicht nur erhielt das Volk seinen Anteil an der Verwaltung, sondern die Tribunen wurden auch als Wächter der römischen Freiheit eingesetzt.“
Während der Herrschaft der TARQUINIER verhielt sich der Adel maßvoll gegenüber dem Volk, weil er fürchtete, das Volk könne sich ganz auf die Seite der Tyrannen schlagen. Erst die Zuspitzung des Streites um die Ackergesetze verschärfte die Auseinandersetzung so, dass MARIUS einerseits, SULLA andererseits die Folge waren. Der Grund für diese zerstörerische Entwicklung lag darin, dass es um Besitz ging (I, 37, 25):
Perché la Nobilità romana sempre negli onori cedé sanza scandoli straordinari alla plebe; ma come si venne alla roba, fu tanta la ostinazione sua nel difenderla, che la plebe ricorse per isfogare l’appetito suo a quegli straordinari (…).
„Denn immer gab der römische Adel, wo es sich um öffentliche Ämter handelte, ohne außergewöhnlichen Aufruhr dem Volke nach. Als es ihm aber ans Vermögen ging, war seine Hartnäckigkeit bei dessen Verteidigung so groß, dass das Volk, um seinen Appetit zu stillen, zu außerordentlichen Mitteln griff (…).“
Aber – so argumentiert der Autor – Rom hätte schon viel früher seine Freiheit verloren, wenn das Volk durch seine Forderungen und sein Ertrotzen eines Anteils an der politischen Herrschaft nicht dem Adel entgegengetreten wäre (I, 37, 22).
Nie gab es ein so großartiges Staatswesen wie die römische Republik. MACHIAVELLI pflichtet dem LIVIUS bei (Praef., 11):
Ceterum aut me amor negotii suscepti fallit, aut nulla umquam res publica nec maior nec sanctior nec bonis exemplis ditior fuit, nec in quam civitatem tam serae avaritia luxuriaque immigraverint, nec ubi tantus ac tam diu paupertati ac parsimoniae honos fuerit.
Was MACHIAVELLI im Principe 13 an MOSES, KYROS, ROMULUS und THESEUS rühmt, sie seien durch virtus, nicht durch Glück (per propria virtu e non per fortuna) an die
Macht gelangt, bezieht er nun auf den Erfolg Roms:
Perché la virtù degli eserciti gli fecero acquistare lo imperio; e l`ordine del procedere e il modo suo proprio e trovato dal suo primo datore delle leggi gli fece mantenere lo acquistato (…). (II, 1,7).
„Denn durch die Tapferkeit seiner Heere erkämpfte es das Imperium, und durch seine Verfassung und die ihm eigene Staatskunst, die sein erster Gesetzgeber begründet hatte, gelang es ihm, seine Eroberungen zu halten (…).“
Der Autor würdigt (I, 11) auch die grundlegende Bedeutung der Religion – und dadurch des Eides – für Roms politischen und militärischen Erfolg. Größer als ROMULUS erscheint ihm deshalb dessen Nachfolger NUMA POMPILIUS (I, 11,9).
Er begründete Religion und Kult so fest, dass – so MACHIAVELLI – mehrere Jahrhunderte hindurch in keinem Staatswesen größere Gottesfurcht herrschte als in Rom. Wer die römische Geschichte aufmerksam betrachte, werde stets die segensreiche Wirkung der Religion finden, die die Heere in Gehorsam und das Volk in Eintracht gehalten habe (I, 11,8). Wo es religiöse Überzeugungen gebe, sei es ein Leichtes, ein diszipliniertes Heer aufzustellen. (I, 11,9).
Er hat den von ihm beklagten Niedergang der Religion in der eigenen Zeit – das Thema von Kapitel I, 12 – im Sinn und zitiert (I,13,11) LIVIUS (III, 20):
Nondum haec, quae nunc tenet saeculum, negligentia Deum venerat, nec interpretando sibi quisque iusiurandum et leges aptas faciebat.
Der Eid habe die Römer stärker gebunden als jedes Gesetz. Scipio zwang Römer, die nach der Niederlage von Cannae Italien verlassen und nach Sizilien fliehen wollten, mit gezücktem Schwert zu dem Eid, ihr Vaterland nicht zu verlassen (I, 11,5).
Bewundernd hebt MACHIAVELLI die geschickte Instrumentalisierung der Auspizien hervor (I,14, Überschrift).:
I Romani interpretavano gli auspizi secondo la necessità, e con la prudenza mostravano di osservare la religione, quando forzati non la osservavano; e se alcuno temerariamente la dispregiava, punivano.
„Die Römer pflegten die Auspizien nach dem Gebot der Umstände auszulegen und gaben sich mit Klugheit den Anschein, als beachteten sie die religiösen Vorschriften auch dann, wenn sie sie notgedrungen nicht beachteten. Wenn aber jemand frevelhafterweise die Religion verächtlich machte, bestraften sie ihn.“
In derselben Art rechtfertigt MACHIAVELLI – darin exakt der Einschätzung durch LIVIUS (I, 19, 4f.) folgend – auch die Fiktion NUMAS, die Nymphe4, Numae coniunx consiliumque14, habe ihm empfohlen, was er dem Volk anraten solle. Dies sei geschehen, weil der König neue, ungewohnte Einrichtungen schaffen wollte und daran gezweifelt habe, ob die eigene Autorität dafür ausreiche. (I, 11,10).
Die Discorsi sind ein Werk voller kühner und überraschender Wertungen, in dem MACHIAVELLI immer wieder der allgemeinen Meinung (vgl. z.B. I, 58, 17: contre alla commune opinone) oder der antiker Autoritäten widerspricht.
MACHIAVELLI entschuldigt ROMULUS für den Mord an REMUS 15, so wie er im Principe (Kapitel XVII) HANNIBAL rechtfertigt. Er wendet sich gegen LIVIUS, der in seiner Charakterstudie nach der Schilderung der zahlreichen virtutes Hannibals dessen inhumana crudelitas anprangert (XXI, 4,9):
Has tantas viri virtutes ingentia vitia aequabant: inhumana crudelitas, perfidia plus quam Punica, nihil veri, nihil sancti, nullus deum metus, nullum ius iurandum, nulla religio.
Für den Brudermord und für die Grausamkeit des Puniers gelte nämlich dasselbe: Man könne die Erfolge – die erfolgreiche Gründung Roms nach der Ausschaltung des Konkurrenten, die Disziplinierung eines völlig heterogenen Heeres – nicht ohne ihre unerfreulichen Ursachen haben. Oberflächliche (poco considerati) Schriftsteller – eine Kritik an LIVIUS – hätten die Leistung des HANNIBAL bewundert, deren wichtigste Ursache – seine eiserne Faust – aber verdammt. Nicht schrankenlose Gewaltanwendung aber sei erlaubt, sondern Gewalttaten seien nur in Ausnahmesituationen und im Sinne der Staatsräson gestattet.
III, 41, 5:
[D]ove si dilibera al tutto della salute della patria, non vi debbe cadere alcuna considerazione né di giusto né d’ingiusto, né di piatoso né di crudele, né di laudabile né d’ignominioso; anzi, posposto ogni altro rispetto, seguire al tutto quel partito che le salvi la vita e mantenghile la libertà.
„Wo das Wohl der Heimat ganz auf dem Spiel steht, darf man nicht überlegen, ob etwas recht oder unrecht, mild oder grausam, löblich oder schändlich ist. Man muss vielmehr jede Rücksicht zurückstellen und darf nur den Entschluss fassen, der ihr das Leben rettet und die Freiheit bewahrt.“
Auch im Hinblick auf die Kriegsführung postuliert MACHIAVELLI einen moralischen Sonderfall:
Ancora che lo usare la fraude in ogni azione sia detestabile, nondimanco nel maneggiare la guerra è cosa laudabile gloriosa, e parimente è laudato colui che con fraude supera il nimico, como quello che lo supera con le forze. (III, 40, 2)
„Während Betrug bei jeder Handlung verachtenswert ist, ist er in der Kriegsführung etwas Lobenswertes und Ruhmreiches, und gleichermaßen wird der gelobt, der den Feind durch Betrug überwindet wie der, der ihn mit Gewalt besiegt.“
CAESAR dagegen wird in den Discorsi scharf als detestabile verurteilt (I, 10,12 ff.), was manchen Leser erstaunen mag, für den der Name MACHIAVELLI für die Verherrlichung der Macht steht. Während LIVIUS – einem Fragment16 zufolge – eine eindeutige Wertung CAESARS abgelehnt zu haben scheint („in incerto esse utrum illum magis nasci rei publicae profuerit an non nasci“), ist er für MACHIAVELLI
der Totengräber der römischen Freiheit; eine Wertung, die der durch CICERO in De officiis (I,26) an Schärfe in nichts nachsteht:
(…) omnia iura divina et humana pervertit propter eum, quem sibi ipse opinionis errore finxerat principatum.
Die lange Zeit kaiserlicher Macht sei es gewesen, die die römischen Schrifsteller daran gehindert habe, sich offen über CAESAR zu äußern; was sie über CATILINA schrieben, hätten sie als frei Männer auch über CAESAR geschrieben.
E tanto è più detestabile Cesare quanto più è da biasimare quello che a fatto che quello che ha voluto fare un male. (I, 10,14).
Und Caesar ist in dem Maße verabscheuenswürdiger [als Catilina] als einer, der Unrecht getan hat, mehr Tadel verdient als einer, der es nur tun wollte
In jüngerer Zeit hat HERMANN STRASBURGER ihm beigepflichtet:
Hatte ich früher geglaubt, die Sterilisierung des Caesarbildes in der Kaiserzeit beruhe hauptsächlich auf dem allgemeinen Korrosionsprozeß, dem alle geschichtliche Erinnerung anheimfällt, dem ‚Verschießen der Farben’, wie Herodot das am Anfang seines Werks so treffend bezeichnet, so bevorzuge ich nach meiner diesmaligen Erfahrung entschieden die Deutung, die bereits Machiavelli (Discorsi I, 10) der ihm bekannten Caesarüberlieferung abgewann: daß es nämlich vor allem die politische Vorsicht war, die zu allen Zeiten des römischen Kaisertums – von Lucan jetzt abgesehen, macht da nur Sueton eine bemerkenswerte Ausnahme – den schonenden Umgang mit dem Heros Ktistes gebot.“17
Im Umgang mit seinen Quellen ist MACHIAVELLI, wo es ihm nötig erscheint, großzügig: Er vereinfacht Zitate und Ereignisse, legt sie sich erst so zurecht, dass sie als möglichst passende und einprägsame exempla dienen können. Ein Beispiel: LIVIUS bemerkt, der sabinische Mitregent des ROMULUS, TATIUS, sei in Lavinium von einem Mob erschlagen worden und fügt hinzu:
Eam rem minus aegre, quam dignum erat, tulisse Romulum ferunt, seu ob infidam societatem regni, seu quia haud inuria caesum credebat. (1, 14,3)
MACHIAVELLI macht (in I, 9, 3) den ROMULUS zum Mitwisser der Tat – um dem Gründer Roms dann ausdrücklich das Recht auf beide Morde zuzusprechen (I, 9, 19):
(…) conchiudo come a ordinare una republica è necessario essere solo; e Romolo per la morte di Remo e di Tito Tazio meritare iscusa e non biasimo.
„Ich komme zu dem Schluss, dass man zur Grundlegung eines Staatswesens ein einziger Mann sein muss und dass Romulus wegen der Ermordung des Remus und des Titus Tatius Entschuldigung verdient, keinen Tadel.“
In einem ähnlichen Sinnzusammenhang heißt es im Principe (XVII, 5):
Et infra tutti e principi al principe nuovo è impossibile fuggire il nome di crudele, per essere gli stati nuovi pieni di pericoli.
Und unter allen Fürsten ist es dem neuen Fürsten unmöglich, nicht als grausam zu gelten, denn neue Staaten sind voller Gefahren.
Der Autor fährt mit einem Zitat aus der Aeneis (I, 563f.) fort:
E Vergilio nella boca di Didone dice: „Res dura et regni novitas me talia cogunt moliri et late fines custode tueri.“
Talia scheint sich hier auf die Grausamkeiten zur Sicherung der innenpolitischen Macht zu beziehen, meint aber im Munde Didos Schutzmaßnahmen der Grenzsicherung, gegen die zuvor Ilioneus als Sprecher der Trojaner protestiert hat.
MACHIAVELLIS an der antiken Rhetorik geschulter Stil ist oft gerühmt worden. In seinem LIVIUS-Buch schreibt HIPPOLYTE TAINE (1828 – 1893)18:
Son style a la vigueur, la gravité, la simplicité, l’éloquence mâle et sévère d’ un philosophe de l’antiquité.
„Sein Stil besitzt die Kraft, das Gewicht, die Schlichtheit, die männliche und ernste Beredsamkeit eines Philosphen der Antike.“
Die Discorsi zeigen MACHIAVELLI als besonders versierten und souveränen Leser antiker Texte. Sie gehören für ihn nicht ins Museum, sondern sind Hilfe für das Begreifen des Hier und Jetzt. Sie weisen eine stupende Detailkenntnis der Vorlage nach. Die Frage der Historizität der Einzelereignisse und –personen ist MACHIAVELLI dabei sekundär, er braucht exempla für seine politischen Einsichten.
Mit derselben Kühnheit weicht er, wann immer es ihm geboten erscheint, von allgemein akzeptierten Ansichten ab wie von den Positionen antiker und gegenwärtiger Autoritäten: Er bedient sich in jedem einzelnen Fall des eigenen Verstandes.
Damit [mit den Discorsi] hatte man die Alten auf das Schlachtfeld geholt, wo sie in den folgenden Jahrhunderten eine zentrale Rolle spielen sollten: In jeder Auseinandersetzung um den besten Staat erhielten sie ihren Auftritt als Kronzeugen. Wer künftig über Politik nachdachte und die Freiheit als höchstes Ziel staatlicher Ordnung bestimmen wollte, verglich vor seinem geistigen Auge alles mit den Verfassungen antiker Städte, hörte auf ihre Gesetzgeber, pries ihre auf den Staat ausgerichteten Tugendkataloge und verzweifelte an ihren Tyrannen und den römischen Kaisern, deren Weltreich Rechenschaft über den Tod der Freiheit ablegen mußte.
In den Gelehrtenstuben besetzten antike Autoren nun auch die letzten Winkel.19
(1) Bernardo Machiavelli, Libro di ricordi, hrsg. von Cesare Olschki, Florenz 1954.
S. 14, S. 35, S. 222f. und S. 236 f. (Anmerkungen)
(2) Alle Zitate aus den Discorsi entstammen der Ausgabe von Giorgio Inglese, Mailand,
7. Aufl. 2010. Auch die Textgestalt der lateinischen Zitate in den Discorsi ist
aus dieser Ausgabe übernommen. Wenn nur Buch und Kapitel angegeben sind,
gilt die jeweilige Aussage für das ganze Kapitel.
(3) Manfred Hardt, Geschichte der italienischen Literatur, Von den Anfängen bis zur
Gegenwart. Darmstadt 1996, S. 278.
(4) Machiavelli las und schrieb Latein ohne Mühe, konnte aber kein Griechisch. Vgl. The
Sweetness of Power – Machiavelli`s Discourses & Guicciardini’s Considerations,
übers. von James B. Atkinson und David Sices, Northern Ilinois University Press,
DeKalb 2007, S. 35
Eine konkrete Vorstellung von den Lese- und Schreibgewohnheiten Machiavellis
vermittelt ihre anschauliche (literarisch geformte) Darstellung in dem farbigen
Machiavelli-Roman Then and Now von William Somerset Maugham (1946).
(5) Vgl. dazu Wolfgang Kersting, Niccolò Machiavelli, München 2006, S. 58
(6) Im 37. Kapitel.
(7) Werner Dahlheim, Die Antike, Griechenland und Rom von den Anfängen bis zur
Expansion des Islam, Paderborn 1994, S. 681
(8) Staatslexikon, 5. Von Grund auf neubearbeitete Auflage, Im Auftrage der Görres-
Gesellschaft herausgegeben unter Mitwirkung zahlreicher Fachleute von Hermann
Sacher, Freiburg, Herder 1926 – 1932, hier Bd. 3 (1929), Spalte 1111f.
Von Machiavellis These von der Bosheit des Menschen führt eine gerade Linie zu
David Humes (1711 – 1776) Forderung, bei der Gründung eines Staatswesens
gelte es, als politische Maxime vorauszusetzen, jeder Mensch sei ein Schurke (a
knave), der nur aus Eigennutz (private interest) handele. Vgl. Essays, Moral,
Political, and Literary, London, 1875, S. 117f
(9) Vgl. Polybios, Historien VI, 3 und Aristoteles Politik, II, 6.
(10) Maurizio Viroli, Machiavelli, Oxford 1998, S. 5
(11) Dirk Hoeges, Niccolò Machiavelli, Die Macht und der Schein, München 2000, S. 115
(12) Atkinson und Sices (vgl. Anm. 3), a.a.O., S. 28 der Einleitung
(13) VI, 7. Alle Zitate aus dem Principe entstammen der Ausgabe De principatibus – Le
Prince, hrsg. von Jean-Louis Fournel und Jean-Claude Zancarini, italien. Text
besorgt von Giorgio Inglese, Paris, 2000.
(14) Zum Mord an Tatius vgl. die Ausführungen weiter unten.
(15) Ovid, Fasti, III, 276
(16) In Seneca, Naturales Quaestiones, V. 18
(17) Livius über Caesar, in Livius: Werk und Rezeption, Festschrift für E. Burck,
München 1983, S. 265 – 291, wieder in Studien III (danach hier zitiert), 1990, S.
253 – 279, hier: S.276; von mir zitiert nach Karl Christ, Caesar, Annäherungen an
einen Diktator, München 1994, S. 217
(18) Essai sur Tite Live, Paris (Hachette) 1856, S. 159
(19) Dahlheim, a.a.O., S. 682
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