Ein schottischer Tarquin – die römischen Wurzeln von Shakespeares Macbeth

von Christoph Wurm – 03/2010

SHAKESPEARES   Werke  verraten  auf  Schritt  und Tritt  ihre  Verwurzelung in  Rom.  Sechs von  ihnen  spielen  dort:  die  beiden  Frühwerke  The rape of Lucrece und Titus Andronicus,  dann  die  drei  von  PLUTARCH  inspirierten  Dramen,  schließlich  das  Spätwerk  Cymbeline.  SHAKESPEARE  hat  zahlreiche  Motive  und  Szenen  römischen Texten entnommen;  die  Sprache  des  Dichters  ist – gerade  auch  in  den  Sonetten – durch die klassische  Rhetorik  geformt.  SHAKESPEARE   ist  ohne  Rom  undenkbar.

An  der  grammar school  hatte  der  Stratforder  Schuljunge  reasonable competence in Latin, the  universal language of educated discourse  (1)  erworben, und  der Erwachsene  las lateinische Texte  im  Original  und  zitiert  aus  ihnen  teilweise  wörtlich  in  seinen  Stücken. Seine  Lateinkenntnisse  befähigten  ihn  zu  – in  ihrer  Bedeutung  zum Teil umstrittenen  – Wortschöpfungen  wie  abruption, circummuredconfluxexsufflicate  oder tortive (2).

SHAKESPEARE  nutzte  für seine Stücke  so  reichhaltiges  Quellenmaterial,  dass  eine eindeutige  Zuordnung  einzelner  Quellen  zu  einem gegebenen  Stück  nicht  einfach  ist :  poetic  passages sound variously to  various ears; one scholar’s echo, signalling indebtedness, is another scholar’s coincidence, signifying nothing.  (3)

Dem  Dichter  stand – in  Inhaltsangaben,  Übersetzungen  und im Original – eine  Fülle von Hilfsmitteln  zur  Verfügung.  ROBERT  S. MIOLA  illustriert  das  in seiner  Studie Shakespeare’s Rome (4)  an  zwei  Beispielen,  einem  aus Julius Caesar,  einem zweiten aus Coriolanus:

The  account of  the  portents  preceding  the  assassination  in Julius Caesar, for example, probably derives from North’s Plutarch, Ovid’s Metamorphoses (XV), Lucan’s Pharsalia in the original or in Marlowe’s partial translation, Vergil’s Georgics I and (I shall argue)  the Aeneid. Similarly, Menenius’s belly fable in Coriolanus is a composite of passages from Livy, North’s Plutarch, William Averell’s A Mervaillous Combat of Contrarities (1588) , William Camden’s Remaines (1605), possibly Camerarius’s Fabellae Aesopicae (1573), and Sidney’s Apology (1595). 

Zwei  seiner Werke  spielen  in  der  römischen  Frühgeschichte:  Coriolanus  und  die frühe Verserzählung The rape of Lucrece . Sie  behandelt die  Ereignisse, die das erste Buch von Ab urbe condita abschließen.  Auf  die  Schändung  der  Lucretia  durch  Sextus  Tarquinius  hin werden  die  Tarquinier aus Rom vertrieben,  mit  der  Herrschaft  seines  Vaters  endet auch die  Königzeit.

SHAKESPEARES  Quelle  waren  neben  LIVIUS  – Buch I, 57 – 60,  in  der  Übersetzung  von WILLIAM PAINTER –  vor  allem  OVIDS  Fasti, II, 721 – 852,  im  lateinischen Original, in einer mit  Anmerkungen  versehenen  Ausgabe  von  PAULUS MARSUS.  Von  einer  englischen Übersetzung  der  Fasti  zu  Lebzeiten  SHAKESPEARES  ist nichts bekannt.

In  einem  Stück, das  aus einer ganz anderen Tradition zu stammen  scheint,  greift er zahlreiche  Elemente  seines Jugendwerks wieder auf: in Macbeth,  das er wahrscheinlich zwischen  1603 und 1606 schrieb .

Die  inhaltlichen  Parallelen  zwischen  beiden  Stücken  liegen  auf  der  Hand.  Beide  Male wird ein  unschuldiger  Mensch Opfer  einer Schandtat , die in seinem Tod mündet.  Außerdem geht es um die Vorgeschichte  dieses  Verbrechens, die  Folgen  und um  die schließliche  Sühne.  Jeder der beiden Täter ist ein foul usurper (The rape of Lucrece: 412): Macbeth , Usurpator des Königsthrons, und Sextus Tarquinius, Schänder der Lucretia, übertreten fundamentale  moralische  Prinzipien, nehmen sich  mit  brutaler  Gewalt, was ihnen nicht zusteht.

Macbeth  selber  ist  es ,  der  sich  mit  Sextus Tarquinius vergleicht. Als er zum Königsmord  schreitet  und  ihn  ein  Dolch  in  das  Gemach  König  Duncans  zu  führen  scheint ,  sagt  er (II, 1, 49 ff.):

                                        Now  o’er the one half- world

Nature  seems dead, and wicked dreams abuse

The  curtain’d sleep: Witchcraft celebrates 

Pale  Hecate’s off’rings; and wither’d Murther,

Alarum’d  by  his sentinel, the wolf,

Whose howl ‘s his watch , thus with his stealthy pace,

With Tarquin’s ravishing strides, towards his design

Moves  like a ghost. (5)

Jetzt  scheint  über  die  eine  Hemisphäre  hinweg  die  Natur  tot  zu sein,  und schlimme  Träume  täuschen  die,  die  hinter  ihren  Bettvorhängen  schlafen. Hexerei vollzieht die Riten  der  bleichen  Hekate,  und  der  verdorrrte Mord,  geweckt  von  seinem  Wachtposten,  dem  Wolf,   dessen  Heulen  einem Nachtwächterruf  gleicht,  bewegt  sich  zum  Ziel  seines  Plans wie ein Geist,  mit verstohlenem  Gang, mit den geilen  Schritten  des Tarquinius.

Eine  detaillierte Analyse  der  Bildersprache  dieses  Stückes  zeigt,  dass  SHAKESPEARE zahlreiche  Motive aus The rape  of Lucrece wiederaufgreift (6).

Wichtig  für  Macbeth  ist  jedoch  vor  allem,  wie  SHAKESPEARE  den Charakter des Protagonisten  differenziert und vertieft. Während ihn weder LIVIUS noch OVID  als mit der Versuchung ringend darstellen,  sondern  als  in  seiner  Gier  skrupellosen  Brecher  des Gastrechts ,  scheinbar  hospes , in Wahrheit  hostis  (Fasti, II, 787) ,  zeigt  SHAKESPEARE  ihn  –  wie Macbeth – in  innerer Zerissenheit.

Die  Hauptquelle für Macbeth  war die zweite Auflage der von RAPHAEL HOLINSHED kompilierten  Chronicles of England, Scotlande  and  Irelande (1587). Shakespeare gestaltete  seine  Vorlage  um:  viele  der  Einzelheiten  der  Ermordung  Duncans  stammen nicht  aus  Holinsheds  Bericht  über  diesen  Mord,  sondern  aus  seiner  Darstellung  des durch  den  Adligen   Donwald  veranlaßten  Mord an einem anderen König,  Duff.  Donwald wird  – wie HOLINSHEDS  und  SHAKESPEARES   Macbeth – durch  seine  Frau  zu dieser  Tat getrieben:

Then Donwald, though he abhorred the act greatlie in heart, yet through instigation of his wife hee called foure of his seruants vnto him (…) and now declaring vnto them, after what sort they  should  worke  the  feat, they  gladlie  obeied his instructions & speedilie going about the murther, they enter the chamber (in which the king laie)  a little before  cocks crow, where they secretlie cut his throte as he lay sleeping (…). (7)

Wohlbekannt  ist  SHAKESPEARE   aber  auch eine viel ältere partnership in crime:  die  der Klytaimnestra,  der οὐλομένη ἄκοιτις Agamemnons, mit ihrem ‘Freier‘ Aigisthos. Empört sagt Agamemnon  zu Odysseus  in der Unterwelt:

ὣς οὐκ αἰνότερον καὶ κύντερον ἄλλο γυναικός,
ἥ τις δὴ τοιαῦτα μετὰ φρεσὶν ἔργα βάληται·
οἷον δὴ καὶ κείνη ἐμήσατο ἔργον ἀεικές,

κουριδίῳ τεύξασα πόσει φόνον. ἦ τοι ἔφην γε
ἀσπάσιος παίδεσσιν ἰδὲ δμώεσσιν ἐμοῖσιν
οἴκαδ᾽ ἐλεύσεσθαι· ἡ δ᾽ ἔξοχα λυγρὰ ἰδυῖα
οἷ τε κατ᾽ αἶσχος ἔχευε καὶ ἐσσομένῃσιν ὀπίσσω
θηλυτέρῃσι γυναιξί, καὶ ἥ κ᾽ ἐυεργὸς ἔῃσιν.

(Od., 11, 427 – 434) (8)

Klytaimnestra  erscheint  hier  in  den  letzten  Versen  als  Prototyp weiblicher Verworfenheit.

In  SENECAS  Agamemnon  ist  sie  es , die – wie Kassandra berichtet-  die  Doppelaxt  (bipennis) gegen ihren Mann schwingt  (V, 897  ff.). Die  Entwicklung  der  elisabethanischen Tragödie  stand unter dem profunden Einfluß der 1559 – 1581 vollständig  ins Englische übersetzten  Tragödien  Senecas,  den  Shakespeare  wahrscheinlich  schon aus dem Schulunterricht kannte, und dem  seine  Stücke  zahlreiche Elemente verdanken.  Lange,  in aufwendigem  rhetorischem Stil abgefaßte Passagen  ebenso wie die Technik des Botenberichts, aber  auch  viele  Einzelmotive  zeigen den Einfluß Senecas auf  Shakespeare.

Nicht  nur  im  Hinblick auf die düstere Atmosphäre,  den brutalen Kampf um die Macht und die  Bilder der durch  die  Wahl  des  Bösen  ausgelösten  kosmischen  Unordnung  (9),  sondern  auch  in  einer Reihe von Einzelpassagen  ist  Senecas  Einfluß auf  Macbeth greifbar (10).  Darunter sind  manche, die zu den berühmtesten Stellen  gehören.  Ein zentrales Beispiel sind  Macbeths  Worte  nach dem Königsmord, in II, 2, 59 – 62:

Will all great Neptune’s ocean wash this blood 

Clean from my hand? No, this my hand will rather

The multitudinous seas incardinine,

Making the green one red.

Ähnlich  äußerst  sich  die  schlafwandelnde  Lady Macbeth in  V, 1, 47 f.:

Here’s  the smell of blood still: all the perfumes of Arabia will not sweeten this little hand.

Im  Vergleich  dazu  zwei  Passagen  aus SENECAS Tragödien:

quis eluet me Tanais  aut quae barbaris 

Maeotis undis Pontico incumbens mari? 

non ipse toto magnus Oceano pater

tantum expiarit sceleris.

( Hipploytus  in  Phaedra, 715 – 718)

quis Tanais aut quis Nilus aut quis Persica

violentus unda Tigris aut Rhenus ferox

Tagusve Hibera turbidus gaza fluens

abluere dextram poterit? Arctoum licet

Maeotis in me gelida transfundat mare

et tota Tethys per meas currat manus,

haerebit altum facinus.

( Hercules in Hercules Furens,  1323 – 1329)

Ein  weiteres  Beispiel  aus  Macbeth (V, 3, 22 – 26):

I have liv’d long enough: my way of life

is fall’n into the sere, the yellow leaf;

And that which should accompany old age,

As honour, love, obedience, troops of friends,

I must not look to have (…)

Cur animam in ista luce detineam amplius

morerque nihil est; cuncta iam amisi bona,

mentem arma famam coniugem natos manus

etiam furorem (…)

(Hercules in Hercules Furens, 1258 – 61)

Für die  Gestalt  der  Lady Macbeth  findet sich  eine weitere  Vorläuferin: Tullia, wie OVID und  –  ausführlicher und  weit eindrucksvoller –  LIVIUS  sie uns  in einer anderen Phase der Tarquiniusgeschichte  schildern, nämlich  in  der,  die  der  Schändung  der Lucretia unmittelbar vorausgeht.

Die  Situation:  Lucius Tarquinius und sein Bruder Arruns, Söhne des  Königs Tarquinius Priscus, sind mit Töchtern seines Nachfolgers  Servius Tullius verheiratet.  Servius ist  ihr Schwager,  sie  ehelichen  also  ihre  Nichten (11) ;  er  wähnt  sich  durch  diese  familären Bande  vor  Nachstellungen  der  beiden  Söhne seines Vorgängers  sicher.

Der  sanftmütige  Arruns und  Lucius’ Frau Tullia maior  werden  von  den  beiden  anderen, Lucius und Tullia minor,  die ein Liebesverhältnis verbindet,  umgebracht.  Danach  stiftet  Tullia  ihren  neuen  Ehemann  Lucius Tarquinius zum Sturz ihres eigenen Vaters an.  Er  läßt seinen  Schwiegervater  (und Schwager)  ermorden  und usurpiert  den Thron.  Von den Furien  ihrer  Schwester  und ihres Mannes gejagt,  steuert Tullia ihre Kutsche über den Leichnam  des  toten  Vaters und gelangt  blutbespritzt nach Hause.  Die  Penaten sind  über diesen  Anfang  so  erzürnt, dass der Königsherrschaft  ein  böses Ende bevorsteht.  Dieses Ende   kommt, als  Sextus,  Sohn  des  Lucius Tarquinius Superbus,  Lucretia schändet und das  römische Volk sich gegen  den König erhebt. Wie schon  NICCOLO MACHIAVELLI  in  seinem  Liviuskommentar, den  Discorsi, hervorhebt (12),  war  die Schändung der Lucretia Anlaß,  nicht  Ursache  des  Aufstandes  gegen den König. Hätte er sich wie ein gerechter König verhalten,  dann  hätten  sich  Brutus  und  Collatinus  in  dieser  Sache  an  ihn gewandt,  nicht  an  das  Volk.

Bevor  LIVIUS  den Sturz  des  Servius Tullius  und seine Folgen  schildert,  nennt er in  einer zusammenfassend  wertenden Formulierung die  Frevel der Tarquinier “ein Verbrechen, wie es zu einer Tragödie paßt” (sceleris tragici exemplum) XLVI, 3.

SHAKESPEARE  standen  zwei – in  anglistischen  Studien  zumeist  in  die  Fußnoten relegierte –  hervorragende  Ausgaben des LIVIUS zur Verfügung: 1589  erschien eine Werkausgabe unter dem  Titel  Titi Liuij Patauini Romanae Historiae Principis, Libri Omnes (13),  elf  Jahre später veröffentlichte  PHILEMON  HOLLAND  ebenfalls in London seine Übersetzung  The Romane Historie Written by T. Liuius of Padua (1600).

Hier  die  Anstiftung  des Tarquinius zum Königsmord  durch  seine  Gattin  Tullia

(XLVII ,3, ff.) :

Si  tu is es, cui nuptam esse me arbitror, & virum , & regem appello: 

sin minus, eo nunc peius mutata est res, quod istic cum ignauia est scelus. Quin accingeris?  non tibi ab Corintho, nec ab Tarquinijs, vt patri tuo,  peregrina regna moliri necesse est. dij te penates patrijque, & patris imago, & domus regia, & in domo regale solium, & nomen Tarquinium, creat vocatque regem. Aut si ad haec parum est animi, quid frustraris ciuitatem? quid te vt regium iuuenem  conspici sinis?  facesse hinc Tarquinios, aut Corinthum: deulouere retro ad stirpem, fratri similior quam patri.

In  Hollands  Übersetzung (14):

But Sir (quoth she) if you be the man to whom I take my selfe wedded, then I cal you both husband and king: if not, then is our case changed for the worse, in that cowardliness is accompanied now with wickednesse. Why resolve you not? why arme you not your selfe, and go about this businesse? you need not go so far as to Corinth or Tarquinij, for to seeke and compasse forraine kingdomes, as your father did. The gods of your owne house and native country, the Image and example of your father, the kings pallace, and therein the roiall seat and throne of estate, yea the very name of Tarquine, createth, nameth and saluteth you king.  But and if your heart will not serve you to these  desseignes, why beare you the world in hand and deceive them? why take you soe upon you as you doe, to shew your selfe as a kings sonne? Get you hence to Corinth againe, away to Tarquinij, turne backeward to your former stocke and condition, more like to your brother than to your father.

Tullia  gleicht  Lady  Macbeth  nicht  nur im  Hinblick  auf  die  Charakterzeichnung  und  auf  ihr  Verhältnis  zu  ihrem Mann, sondern  sie  benutzt  dieselben  verbalen  Strategien,  um ihn  zum  Sturz des  Königs  anzustacheln.  Sie appelliert an seine Männlichkeit  und  an  seinen Ehrgeiz und bezeichnet  jedes Zurückschrecken  als Feigheit (ignavia). Diese Verkehrung  aller  Moral  entspricht  dem  zu  Beginn  des  Stücks  von den Hexen eingeführten  Motto  Fair is foul, and foul is fair (I, 1, 11) .

Von  seiner Frau in die Enge getrieben,  willigt  Tarquinius  in  den  Sturz  des  Servius  Tullius ein:  Alors,  devenu audacieux à force de timidité, Tarquin-Macbeth se réfugie dans le crime. (15)

Holland  spiegelt  sorgfältig die Nuancen von accingere (sich gürten und sich daranmachen, zu tun)  wider,  indem er  Quin accingeris?  in die Doppelfrage   Why resolve you not ? why arme you not your selfe, and go about this businesse?  zerlegt.

In  Macbeth, I , 5, 68  gebraucht  Lady  Macbeth  exakt  denselben  Euphemismus  business.  In  I , 7, 31 ist es Macbeth selbst, der verkündet We will proceed no further in this business, als er  in letzter Minute doch noch von dem Verbrechen  Abstand nehmen will,  einem dreifachen Frevel gegen  den König, Gast und Verwandten Duncan (I, 7, 12 – 16).  So wie zwischen  Servius  und  seinem  Mörder Tarquinius familäre Bande bestanden,   ist  auch  die private  Beziehung  zwischen  Duncan und Macbeth  eine besondere,  denn sie sind Cousins.

Lady  Macbeth  attackiert  ihren  schwankenden  Mann  so:

                                                      Was  the  hope  drunk,

Wherein  you  dress’d yourself? Hath  it slept since?

And wakes it now, to look so green and pale

At what it did so freely? From this time 

Such I account thy love. Art thou afeard

To be the same in thine own act and valour,

As thou art in desire? Would’st thou have that

Which thou esteem’st the ornament of life,

And live a coward in thine own esteem,

Letting ‘I dare not’ wait upon  ‘I would’,

Like the poor cat i’ the adage?

(I, 7, 35 – 45)

War  die  Hoffnung betrunken, in die du dich kleidetest?  Hat  sie  seitdem  geschlafen  und wacht jetzt auf, so grün und bleich , um auf das zu schauen, was sie aus freiem Entschluß  tat?  Von  jetzt  an werde ich deine Liebe genauso einschätzen! Hast du  etwa Angst davor, ein- und derselbe Mann in deinen Taten und in deinem Mut zu sein wie in deinem  Begehren?  Verlangst du  nach dem, was für dich die Zierde des Lebens ausmacht,  willst aber  weiterleben  und  dich  dabei  selber  für einen  Feigling halten  und das  “Ich wage es nicht” auf das “Ich würde gerne” folgen  lassen, wie die arme Katze im Sprichwort? [Fisch essen wollte sie – aber ohne sich die  Füße naßzumachen!]

Eine  weitere Parallele zwischen LIVIUS und SHAKESPEARE: Wie Tullia spricht auch Lady Macbeth  nicht  von  eigenen  Hoffnungen,  sondern  ihr Wille  ist  es,  ihrem  geliebten  Mann  die  Königswürde zu sichern – um jeden moralischen Preis: ein  deutlicher  Gegensatz zu Holinsheds  Lady  Macbeth  und  ihrem  unbändigen  Verlangen danach,  Königin  zu sein (16).

Macbeth  wird  später,  als  er  sich  gezwungen sieht,  wie Tarquinius auf dem Wege des einmal  begonnen  Verbrechens  fortzuschreiten,  um  seine  Herrschaft zu sichern,  selber die zynische  Strategie seiner Frau übernehmen. Als er zwei Männer zum Mord an seinem früheren  Freund  Banquo  überreden  will (III, 1, 73 ff.),  stellt  er  diese Rache für das Unrecht,  das  die  beiden  angeblich  von  Banquo  erlitten  haben  als  Beweis  männlichen  Mutes  dar. Wieder  verwendet  er  den  Euphemismus  business (III, 1, 124) für den  Mord.

Die  Darstellungsmöglichkeiten  des  Dramas  boten  dem  Gestaltungswillen SHAKESPEARES   die  Chance,  Macbeth  und seine  Frau  als wesentlich  vielschichtigere Charaktere zu zeichnen als  Tarquinius Superbus und Tullia, so wie der Dichter schon die Gestalt des Sextus Tarquinius  komplexer gezeichnet hatte, als sie bei OVID und LIVIUS erscheint.

Macbeth  und  seine  Frau  sind  keine  bloßen  Machtmenschen,  sondern  Liebende, und beide  sind   innerlich  zerrissen:  Sie  haben  ein  Gewissen,  das  sie  mundtot  zu  machen versuchen.  Erfolglos  versuchen  sie,  seine Stimme zu  unterdrücken  –  wie sehr dieser Versuch   mißlingt ,  läßt  uns  SHAKESPEARE  miterleben.

(1)     Robert S. Miola,  Reading  Shakespeare,  Oxford  2000, Nachdruck

2008,  S. 166f.

(2)     Ebd.

(3)     Ebd.,  S. 13f.

(4)     Miola ,  Shakespeare’s Rome,  Cambridge 1983. First  paperback

edition  2004,  S. 11.

(5)     Vgl.  die Übersicht (Appendix D)  in  der  Macbeth-Ausgabe  von

Kenneth Muir in The  Arden  Shakespeare,  London und New York

1. Aufl.1951,  Ausgabe  von 1982,  S. 189f.

Die  Übersicht  fehlt  in  der  1984 erschienenen  Neubearbeitung.

(6)    Alle Macbeth-Zitate  folgen  der  Ausgabe  in  The  Arden Shakespeare

in  der  Neubearbeitung  durch  Muir,  London  1984.

(7)     Chronicles of Scotland,  S. 150.

(8)     Zitiert nach der Ausgabe von A. T. Murray (rev.  G.  E. Dimock)

2. Aufl. (mit Korrekturen), Cambridge, Massachusetts/London (Loeb)  1998.

(9)     Brian Arkins, “Heavy Seneca”, in: Classics  Ireland 2, 1995,   S. 1 – 8,

hier:  S. 5.

(10)   Vgl.   dazu  neben  Arkins,  a.a. O., S. 5 f., John  William  Cunliffes  klassische

Studie  The influence  of  Seneca on  Elizabethan  tragedy.  London  1893 , S. 82 –

85  und  den  Kommentar von  Kenneth Muir  a. a. O. (1984) S. 56  zu Macbeth, II,

2, 59 – 62.

Die Textgestalt  der  Seneca-Zitate  folgt  der  Ausgabe  von John  G. Fitch,

Cambridge,  Massachusetts/London  (Loeb) , 2002.

(11)   In I, 39, 4  berichtet  Livius,  dass  Tarquinius Priscus  dem  Servius  Tullius  seine

Tochter   zur  Frau  gegeben  habe,  und  von  einer  anderen  Frau  des  Servius  ist

nicht  die Rede.

(12)   Discorsi  di  Niccolo  Machiavelli  sopra  la  prima  deca  di  Tito  Livio,  Buch  III,  Kapitel

5.

(13)   Es  handelt  sich  um  einen  Nachdruck  der  Frankfurter Ausgabe  von

Sigismund  Feyerabend (Frankfurt, 1588), deren Textgestalt von Franz Modius

betreut wurde; vgl.  dazu  Johann  Philipp  Ostertag,  Des  Titus  Livius aus Padua

römische  Geschichte  was  davon  auf  unsere  Zeiten  gekommen  ist,  übersetzt

und  mit  erläuternden Anmerkungen begleitet,  Frankfurt   1790,  Bd. 1,  S. 98.

(14)   A.a.O., S. 33.

(15)   Léon Catin,  En lisant Tite-Live, Paris, Belles Lettres 1944, S.80.

(16)   Holinshed,  a. a. O., S. 170:  “The woords  of  the  three  sisters  also  (of  whom

before  ye  haue  heard)  greatlie  incouraged  him  herevnto,  but speciallie  his  wife

lay  sore  vpon  him  to  attempt  the  thing,  as  she  that  was  verie  ambitious,

burning  in  vnquenchable desire  to  beare  the  name  of  a  queene.”

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