Mythos Numantia

von Christoph Wurm – Der Artikel erschien zuerst im, Mitteilungsblatt des deutschen Altphilologen-Verbandes NRW‘, Heft 1/2019, S. 18-26.

Dass ein kriegerisches Ereignis des zweiten Jahrhunderts vor Christus über Jahrhunderte hinweg symbolische Strahlkraft bewahrt, ist bemerkenswert. Ein solches Geschehen ist die Belagerung und Zerstörung Numantias 134/133 durch den jüngeren SCIPIO, die zunächst in Spanien, dann in der ganzen spanischsprachigen Welt zum Symbol für den Widerstand bis zum Letzten wurde, zum Vorbild für viele andere Belagerungssituationen der spanischen Geschichte. 

In die spanische Sprache ging die gebräuchliche Redewendung von der ,defensa numantina’ für hartnäckigen Widerstand ein – auch etwa für eine besonders dichte Abwehr im Fußball. Von verschiedenen politischen Richtungen ist die Idee ,Numantia’ bis in die Gegenwart hinein propagandistisch genutzt worden.

Im Jahre 133 endete mit der Zerstörung der keltiberischen Stadt am Oberlauf des Duero  – heute: Garray, bei Soria – ein zwanzigjähriger Konflikt, der die römische Herrschaft ernsthaft gefährdet hatte: durch den Aufstand der Kelitiberer in Hispania Citerior und insbesondere durch den Kampf der Lusitanier unter Viriathus.1

134 v. Chr. beschloss Rom, „die Bezwingung der kleinen spanischen Landstadt außerordentlicherweise dem ersten Feldherrn Roms, Scipio Aemilianus, zu übertragen.“2 Er schloss Numantia auf der Landseite vollständig ein und errichtete auch Sperren im Duero. APPIAN (Bell. Hisp. 91): τοῦτο δ᾽ ἦν οὗ μάλιστα ὁ Σκιπίων ἐπεθύμει, μηδενὸς αὐτοῖς ἐπιμιγνυμένου μηδ᾽ ἐσιόντος ἀγνοεῖν αὐτοὺς  ὅ τι γίγνοιτο ἔξω·

οὕτω γὰρ ἀπορήσειν ἀγορὰς τε καὶ μηχανῆς πάσης. (Das war es, was Scipio vor allem beabsichtigte: dass, wenn keiner Zugang zu ihnen hätte und keiner die Stadt verlassen könnte, sie keine Nachricht über das hätten, was außerhalb der Stadt geschähe. So würden ihnen Lebensmittel und jeder Nachschub fehlen). Nach hartnäckigem

Widerstand musste die Stadt sich wegen der herrschenden Hungersnot ergeben und wurde von Scipio dem Erdboden gleichgemacht: „intra annum ac tres menses, quam eo venerat, circumdatam operibus Numantiam excisamque aequavit solo.“ (VELLEIUS PATERCULUS, II, 4, 2).

In den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts schrieb MIGUEL DE CERVANTES (1547 – 1616) zahlreiche Theaterstücke3. Für eines von ihnen, den Vierakter El Cerco de Numancia4 (Die Belagerung von Numantia), griff er den historischen Stoff auf. 

Der Inhalt: Nach mehr als 16 Jahren erfolgloser Belagerung ist das römische Heer verlottert. Scipio hält daher eine Rede, in der er die eingerissenen Laster geißelt und seine Soldaten zu neuem Kampfesmut anspornt, worauf diese Besserung geloben. Da kommen zwei Gesandte aus der Stadt, um Frieden zu erbitten. Scipio weist sie barsch ab. Er will die Stadt mit einem Graben umgeben und so die Belagerung verschärfen.  Allegorien erscheinen: España sowie der Fluss Duero zusammen mit drei in ihn mündenden Bächen. España wendet sich um Hilfe an den Duero, der bisher unblockiert ist. 

Aber Duero berichtet davon, dass auch im Fluss Hindernisse errichtet werden und sagt vorher, dass die nunmehr völlig abgeriegelte Stadt fallen wird. Er prophezeit Spanien aber auch eine glänzende Zukunft. Die Numantiner versuchen Jupiter durch Opfer zu besänftigen, jedoch ohne Erfolg. Ein Zauberer erweckt einen Toten zum Leben, der ihm die Zukunft der Stadt prophezeien soll. Dieser weissagt den Untergang Numantias. Die Numantiner bieten nun den Römern ein Duell an, „una breve y singular batalla“ (1160), das die Belagerung beenden soll. Ein frei beweglicher Römer soll gegen einen Numantiner kämpfen, der in einen Verschlag aus Pfählen eingeschlossen ist („cerrado en estocada“, 1162). 

Scipio lehnt ab, im Vertrauen auf seinen Verbündeten, den Hunger, der inzwischen in der Stadt wütet. Die numantinischen Frauen haben erfahren, dass ihre Männer einen Ausfall planen, um Hilfe zu holen. Sie protestieren und verhindern so den Plan, da sie nicht schutzlos zurückgelassen werden wollen. Die Einwohner verbrennen nun alle Reichtümer der Stadt und wählen dann den kollektiven Tod. Wieder treten Allegorien auf: Hunger, Krankheit und Krieg. Ein Numantiner, der junge Bariato (ein Anklang an den Namen des Viriathus), hat sich zunächst mit den Schlüsseln der Stadt in einen Turm geflüchtet. Die Aufforderung des siegreichen Scipio, sich zu ergeben, weist er stolz zurück und stürzt sich in den Tod. Keiner der Einwohner wird in Scipios Triumph zur Schau gestellt werden. Nicht er hat über die Stadt triumphiert, sondern der Tod (2338).

El Cerco de Numancia hat einen einzigen Protagonisten, die ganze Bürgergemeinschaft. Darin ähnelt es nicht nur LOPE DE VEGAs bekanntem Stück Fuenteovejuna, sondern auch des Autors eigenem Meisterwerk. Auch im Don Quijote steht zusammen mit den beiden Protagonisten das ganze spanische Volk auf der Bühne des Geschehens, ein buntes Gemenge von Charakteren aus allen Teilen des Landes, allen Volksschichten, allen Berufsgruppen.

Die Ereignisse von Numantia sind uns von zahlreichen antiken Autoren überliefert, die wichtigsten: APPIAN (Bell. Hisp. 84 – 98); LIVIUS (Perioch. 54 – 59); FLORUS (I, 34); VELLEIUS PATERCULUS (2, 4) und VALERIUS MAXIMUS (III, 7: über THEOGENES, der auch im Stück des Cervantes einer der Führer der Numantiner ist).

Die zuverlässigste Darstellung ist die Appians. Vielleicht beruht sie auf einer uns nicht überlieferten Schilderung der Ereignisse durch Polybios. Dieser war möglicherweise

Augenzeuge, als Begleiter des Scipio. Unter den spanischen Chroniken, die von Numantia berichten, ragt die Corónica [sic] General de España (1574) hervor. Sie stammt aus der Feder des AMBROSIO DE MORALES (1513 – 1591), des offiziellen Chronisten PHILIPPS II. Er folgt der Darstellung Appians, abgesehen vom Ende Numantias. Dieses Werk könnte Cervantes verwendet haben; als humanistisch geschulter Autor5 mag er aber auch auf antike Quellen zurückgegriffen haben. Die Grundlinie des Stückes entspricht jedenfalls der historischen Überlieferung.

Im Hinblick auf den Fall Numantias lassen sich zwei Überlieferungsstränge unterscheiden. Nach Appian kapitulierte die Stadt und die überlebenden Einwohner wurden versklavt. Nach Livius, Florus und Valerius Maximus dagegen begingen die Numantiner kollektiven Selbstmord. Livius (Perioch. LIX): „Numantini fame coacti ipsi se per vicem traicientes trucidaverunt.“ Appian (Bell. Hisp. 98):

Ἐπιλεξάμενος δ᾽αὐτῶν πεντήκοντα ὁ Σκιπίων ἐς θρίαμβον, τοὺς λοιποὺς ἀπέδοτο καὶ τὴν πόλιν κατέσκαψε. („Er wählte 50 von ihnen für seinen Triumphzug aus, verkaufte die übrigen als Sklaven und machte die Stadt dem Erdboden gleich.“)

Dagegen Florus (I, 34, 16f.):

„Novissime maximo duce oppressa civitas nullum de se gaudium hosti reliquit. Unus enim vir Numantinus non fuit, qui in catenis duceretur; praeda ut de pauperrimis, nulla: arma ipsi cremaverunt. Triumphus fuit tantum de nomine.“

Das Verbrennen aller Wertgegenstände findet sich bei Appian nicht in seiner Darstellung des Bellum Numantinum, sondern in der der Belagerung Sagunts (Bell. Hisp. 12).

Zähigkeit und Todesmut der Numantiner werden von Cervantes als Teile des spanischen Nationalcharakters präsentiert. Dieser unbezähmbare Geist ist es, so die Botschaft, der Spanien groß gemacht hat. An zwei zentralen Stellen greift der Autor auf VERGIL zurück. Der Ausblick, den die Allegorie des Duero im ersten Akt gibt, knüpft an die Zukunftsvision römischer Geschichte im sechsten Buch der Aeneis an. Anchises spricht zu seinem Sohn in der Unterwelt:

„Nunc age, Dardaniam prolem quae deinde sequatur

gloria, qui maneant Itala de gente nepotes,

inlustris animis nostrumque in nomen ituras,

expediam dictis et te tua fata docebo.“ (VI,  756 – 759)

Duero wirft an España gewandt einen Blick in die Zukunft, der von den Niederlagen Roms gegen ATTILA, dann gegen die Goten bis in die Gegenwart des Stückes führt, in der Spanien, nicht Rom, die Welt beherrsche und neuerdings – durch die Vereinigung mit Portugal unter Philipp II. im Jahre 1580 – die ganze Iberische Halbinsel:

„Será llamado, siendo suyo el mundo,

el segundo Felipe sin segundo.

Debajo de este imperio tan dichoso 

serán a una corona reducidos,

por bien universal y a tu reposo,

tus reinos hasta entonces divididos:

el girón lusitano tan famoso,

que un tiempo se cortó de los vestidos

de la ilustre Castilla, ha de zurcirse

de nuevo, y a su estado antiguo unirse.“ (511 –  520)

„Philipp II., König wie kein zweiter“ wird man ihn nennen, da ihm die ganze Welt gehört. Unter dieser so glücklichen Herrschaft werden – zum allgemeinen Nutzen und zu deiner Beruhigung – unter einer einzigen Krone deine bis dahin geteilten Königreiche vereint. Das so berühmte Stück Tuch, Portugal, das man einst aus der Kleidung der erlauchten Castilla (Kastiliens) schnitt, muss wieder angenäht und an seinen alten Platz

(Wortspiel: Staat) gefügt werden. 

In den zweiten Akt setzt Cervantes eine Episode ein, die Leiden und Mut der Numantiner veranschaulicht. Er greift hier auf die Geschichte von Nisus und Euryalus aus dem neunten Buch der Aeneis zurück. Marando, ein junger Soldat, bricht mit seinem Freund Leoncio in das Römerlager ein, um Brot für seine Freundin Lira zu rauben. Er muss den im Kampf tödlich verletzten Leoncio zurücklassen und stirbt selbst bei der Rückkehr zu Lira in deren Armen. Nisus und Euryalus greifen aus dem belagerten Trojanerlager heraus das Lager der Rutuler (Aen. IX, 176ff.) an, eine kühne Tat, die ebenfalls mit dem Tod der beiden Freunde endet.

Eine weitere zentrale Stelle, das Duellangebot im zweiten Akt, ist ein Anklang an Livius (I, 24 – 26), nämlich an den Kampf der Horatier und der Curiatier. Kühl weist Scipio das Angebot der Numantiner ab: 

„Mía será Numancia a pesar vuestro,

sin que me cueste un mínimo soldado,

y el que tenéis vosotros por más diestro

rompa por ese foso trincheado,

y si en esto os parece que yo muestro

un poco mi valor acobardado,

el viento lleve agora esta vergüenza,

y vuélvale la fama cuando venza.“ (1193  – 1200)

„Mein wird Numantia sein, euch zum Trotz, ohne dass ich den geringsten meiner Männer verliere, und soll doch der von euch, den ihr für den Geschicktesten haltet, den Graben, der hier ausgehoben wurde, durchbrechen! Und wenn es euch scheint, dass ich meinen Mut ein wenig eingeschüchtert zeige, dann soll der Wind jetzt diese Schmach forttragen und meinem Mut seinen Ruhm zurückgeben, sobald ich siege.“

Die Passage weist antithetisch zurück auf den Anfang des Stückes, die Rede des Scipio an seine Soldaten:

„Avergonzaos, varones esforzados,

porque a nuestro pesar, con arrogancia

tan pocos españoles, y encerrados

defiendan este nido de Numancia.

Diez y seis años son, y más, pasados 

que mantienen la guerra, y la jactancia

de haber vencido con feroces manos

millares de millares de romanos.“ (113 – 120)

„Schämt euch, ihr ,tapferen’ Männer, weil so wenige Spanier, noch dazu

eingeschlossen, Numantia, ein Nest, verteidigen können, uns zum Trotz und mit Hochmut. Seit mehr als sechzehn Jahren führen sie jetzt Krieg und brüsten sich damit, tausende und abertausende römische Soldaten mit wilder Hand überwunden zu haben.“

Für das Publikum des Cervantes hat das Angebot des Duells einen höchst realen Hintergrund: KARL V. hatte dem französischen König FRANZ I. das persönliche Duell angeboten, um das Blutvergießen der Völker zu vermeiden, einen Zweikampf nach Bedingungen, die Karl dem französischen König überließ.6 Auch dieses Angebot wurde nicht angenommen. 

Die Düsterkeit des Stückes erinnert an die künstlerische Gestaltung der Schrecken des Napoleonischen Krieges durch FRANCISCO DE GOYA (1746 – 1828) in seinen Kupferstichen (Desastres de la Guerra). In der spanischen Geschichte wurde das Vorbild Numantia immer wieder aufgegriffen, um Belagerte zum Widerstand anzuspornen, zum Beispiel während der Belagerungen von Zaragoza 1808/1809 durch napoleonische Truppen, wo das Stück aufgeführt wurde, um die Moral der Verteidiger zu stärken.7 

Im 20. Jahrhundert wurde zu Beginn des spanischen Bürgerkriegs die Weltöffentlichkeit Zeuge zweier dramatischer Belagerungen: der des Alcázar von Toledo (23. Juli 1936 bis zum Entsatz durch die Truppen Francos am 28. September 1936) und der Madrids (1936/37).8 

Im Rahmen der seitens der Sowjetunion strategisch geplanten und koordinierten Unterstützung der Republikaner kam dem Symbol ,Numantia’ wichtige Bedeutung zu. Das Stück des Cervantes wurde unmittelbar von der Propaganda instrumentalisiert. 1937 wurde es in einer Adaption von RAFAEL ALBERTI in Madrid aufgeführt, im selben Jahr in Paris von JEAN-LOUIS BARRAULT. Dieser brachte die politische Intention der Aufführung auf den Punkt: „Sur le plan de la société, j’apportais ma contribution aux républicains espagnols, l’individu était respecté, la liberté glorifiée.“9 – „Was die Gesellschaft betraf, so leistete ich meinen Beitrag zur Unterstützung der spanischen Republikaner. Das Individuum wurde respektiert, die Freiheit verherrlicht.“

Auch hier endet die Wirkung des Numantia-Mythos und seiner propagandistischen Verwendung nicht. Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist das dem Wirtschaftsembargo der USA trotzende Kuba mit Numantia verglichen worden: „Cuba, la Numancia del Caribe“.

Von den Numantinern jedenfalls gelten die Worte des Duero:

„(…) no podrán las sombras del olvido

escurecer el sol des sus hazañas,

en toda edad tenidas por estrañas.“ (462  – 464)

Die Schatten des Vergessens werden nicht die Sonne ihrer Taten verdunkeln. Man wird diese zu allen Zeiten für außergewöhnlich halten.

Anmerkungen:

1 Vgl. Heinz Bellen, Grundzüge der römischen Geschichte, Erster Teil. Von der Königszeit bis zum Übergang der Republik in den Prinzipat. Darmstadt 1994, S. 81.

2 Theodor Mommsen, Römische Geschichte. Viertes Buch. Die Revolution. Vollständige Ausgabe in acht Bänden, München (dtv), 2. Aufl. 1976 (Nachdruck der 9. Aufl. der Originalausgabe 1903), Bd. 3, S. 23.

3 Jonathan Thacker, A Companion to Golden Age Theatre, Woodbridge, 2007: “probably 20 or 30 plays.“ 

4 Alle Zitate aus dem Stück und die Zeilenangaben entstammen der Ausgabe von Robert Marrast (Cátedra – Letras Hispánicas), Madrid, 5. Aufl. 2010.

5 Zur humanistischen Bildung in Spaniens Siglo de Oro vgl. meinen Aufsatz „Rom und Latein in der Literatur des Spanischen Goldenen Zeitalters“, in: Forum Classicum 4/2013, S. 51 – 56.

6 Ferdinand Seibt, Karl V. Der Kaiser und die Reformation. Berlin, 1990, S. 128.

7 Howard Mancing, The Cervantes Encyclopaedia, Vol. II, L – Z, Westport/London, 2004, s.v. Numancia, S. 519.

8 Günther Haensch und Gisela Haberkamp de Antón liefern in ihrem Kleines 

Spanien-Lexikon, München 1989, eine Übersicht über die wichtigsten Belagerungen der

spanischen Geschichte, von Sagunt bis Madrid 1936/37, s. v. Heroismus, S. 75f. 

9  Souvenirs pour demain, Paris 1972, S. 113.

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