Scham vor der Vergangenheit – A Tale of Two Cities

Der Titel dieses Beitrages ist bewusst kryptisch, als clickbait gewählt. Es geht um folgendes: Bei Studien zu einem Aufsatz, den ich nächstes Jahr zu veröffentlichen gedenke, habe ich mich auch näher mit den Werken Michelangelos und, vor allem, Berninis beschäftigt. Einige Zeit später stieß ich durch Zufall auf ein Video (La statua a Napoli che fa polemica) der italienischen Youtuberin Hoara Borselli über eine aktuelle (Oktober 2024) Kontroverse aus Italien, und mir nötigte sich sofort die Assoziation zwischen beiden Themen auf. Worum geht’s?

Die Stadt Mailand gab vor einiger Zeit das geplante Aufstellen einer Bronzestatue auf, die eine Mutter zeigt, die ihrem Kind die Brust gibt. Zu massiv waren die Proteste, die üblichen ,Aufschreie‘, dagegen, dass hier die Frau auf ihre traditionelle Rolle reduziert werde etc., so wie man es auch in Deutschland erwarten würde; eine Behauptung, die auch durch die n-te Wiederholung logisch nicht stichhaltiger wird.

Wäre sie es, dann dürfte man nur in umfassenden Definitionen von Personengruppen sprechen. Jede Aussage über eine Teilmenge einer Personengruppe oder über eine einzelne Eigenschaft der Gesamtgruppe wäre abwertend. Wer etwa sagte: Einige Frauen sind – neben ihren anderen gesellschaftlichen (nicht genannten) Rollen – auch Mütter, würde die Frau immer noch ,reduzieren‘: auf die Teilmenge dieser Frauen, und diese Frauen auf ihre Rolle als Mütter.

Die Stadt Neapel hat nun für 200.000 Euro eine Statue errichten lassen, die stolze 12 Meter hoch ist, und Pulcinella, eine Figur des italienischen Volkstheaters, darstellen soll. (In Mailand handelte es sich übrigens um eine abgelehnte Donation.) Zahlreichen Beobachtern scheint die Statue aber weitaus mehr einem gigantischen Penis zu ähneln, von Pulcinella keine Spur (Schlagzeile: Ma Pulcinella dove sta?). Die für die Errichtung verantwortliche Dame, die curatrice, nahm es mit Gelassenheit: Wenn dem so sei, dann wäre die Statue doch ein idealer Beitrag zur Diskussion um die niedrige Geburtenrate, die denatalità, sie könne auf die Notwendigkeit des Zeugens hinweisen; von einer diskriminierenden ,Reduktion‘ des Mannes keine Rede.

Hoara Borselli macht nun diesen Gegensatz zwischen der abgewiesenen Statue in Milano und derjenigen, die in Napoli – man verzeihe das billige, aber verlockende Wortspiel: – erigiert wurde, zum Gegenstand eines sehenswerten Beitrages, einer Reflexion über Doppelmoral und über die Rollen von Mann und Frau.

Was hat das Thema nun mit Bernini zu tun? Nun, die Frage drängte sich mir auf, wie er, der begnadetste Bildhauer des Barock, der „dem Marmor Leben einhauchte“, wohl auf derlei Niederungen  künstlerischer Gestaltung und künstlerischer Botschaft in unseren Tagen reagieren würde (die italienische Sprache böte ihm eine wahrlich reiche Skala an Ausdrücken)  – und mich überkam einen Moment lang eine Anwandlung von Scham.