Zurück nach Gallien – Rutilius Namatianus

von Christoph Wurm – Dieser Artikel erschien zuerst im Mitteilungsblatt des deutschen Altphilologen-Verbandes, Landesverband Nordrhein-Westfalen, 66. Jahrgang, Heft 2/2018, S. 17 – 24

Im Sommer 2017 erregte unter französischen Lesern ein spätantiker Dichter Aufsehen, Rutilius Namatianus. Bei Les Belles Lettres war ein Taschenbuch mit einer exzellenten Übersetzung seines De reditu suo erschienen, unter dem Titel Retour en Gaule.1

Diese Übersetzung ist nicht die der 2007 ebenfalls bei Les Belles Lettres erschienenen zweisprachigen Ausgabe2, sondern eine ältere, von J. Vessereau und F. Préchac. Da die Übersetzung von 2007 auf Vessereau/Préchac basiert, stimmen beide meist – nicht immer – überein. Es lohnt sich, Rutilius vorzustellen und den Gründen für seinen aktuellen Erfolg nachzuspüren. 

Wer war Rutilius Namatianus? Einer der letzten Dichter Roms, ein geborener Gallier. 417 oder 418 n. Chr. verfasste er sein einziges uns erhaltenes Werk, De reditu suo, in zwei Büchern. Es ist verstümmelt überliefert: Am Anfang fehlen Verse, und der Großteil des zweiten Buches ist verloren; von Buch I liegen 644 Verse vor, von Buch II dagegen nur 68; allerdings wurden 1973 weitere kleinere Bruchstücke aus dem zweiten Buch entdeckt.

In der ersten Person Singular beschreibt Rutilius in elegischen Distichen seine Rückkehr aus Rom in seine Heimat, Gallia Narbonensis, möglicherweise Tolosa, Toulouse. Seine genaue geographische Herkunft ist unklar; als er auf seiner Reise einen Freund aus Toulouse trifft, gibt ihm das einen Vorgeschmack auf die Heimat („videor patriae iam mihi parte frui“, I, 510), es ist jedoch unklar ob Tolosa pars pro toto für Gallien steht oder wörtlich gemeint ist. 

Der Dichter war der Sohn des Lachanius, Statthalter von Tuscia und Umbria; Rutilius nennt noch weitere Ämter, etwa das des praefectus urbi, das später auch er selber bekleidete. Gerührt betrachtet Rutilius auf seiner Reise die eherne Statue seines Vaters, die die Bürger Pisas zu dessen Ehren errichtet hatten (I, 576). Während der Herrschaft des Honorius war Rutilius magister officiorum: oberster Leiter der kaiserlichen Kanzleien sowie anderer Institutionen, dann praefectus urbi. Dieser war für Ruhe und Ordnung Roms verantwortlich; neben der Polizeiführung fielen auch Aufgaben der Jurisdiktion in seinen Amtsbereich.

Während des Germanensturms, der seit der Jahreswende 406/407 über Gallien hinwegbrauste, waren die Landgüter des Rutilius verwüstet worden. 410 hatten Alarichs Truppen Rom geplündert. Dass Rutilius in seine gallischen Landgüter reiste, war unumgänglich; ob eine weitere politische Mission mit der Fahrt verknüpft war, darüber wahrt der Autor Diskretion. 

Er wählte den Seeweg an der Nordwestküste Italiens entlang, obwohl der Winter bevorstand, denn Oberitalien war schwer von den Verwüstungen durch die Westgoten getroffen. Die Infrastruktur der Brücken und Straßen war zerschmettert. Es gab keine intakten Gasthöfe, wo man hätte übernachten können. Mit einer kleinen Bootsflottille reist Rutilius in acht Etappen von Portus Augusti nach Luna in der heutigen Provinz La Spezia und macht diese Reise dann zum Gegenstand seines Gedichtes, so wie vor ihm Horaz seine Brundisium-Fahrt (Sat. 1,5) und Ovid seine Reise ins Exil beschrieben hatte. 

De reditu suo ist keineswegs eine schlichte lineare Erzählung, sondern eine

höchst kurzweilige Lektüre, denn Rutilius variiert das Grundschema kaleidoskopartig. Der Schilderungsvorgang ist zugleich „progressif et digressif“ (LIX), weil der Dichter Porträts seiner Freunde, Ortsbeschreibungen, Historisches und Mythologisches einflicht. Vor allem aber stellt er seinem Werk nach dem Prooemium eine laus Romae (47 – 164) voran; Buch zwei beginnt mit einem kürzeren Prooemium, gefolgt von einer  geographischen Beschreibung des unter Götterschutz stehenden Italiens (11  – 40).

Er würzt sein Gedicht mit scharfen Invektiven: gegen die Juden, gegen das christliche Mönchtum, gegen Persönlichkeiten wie die verschiedenen Träger des Namens Lepidus sowie gegen den 408 gestürzten Stilicho, den er als Verräter Roms brandmarkt.  

Rutilius versteht es, „den Leser zu fesseln und seine Reisebeschreibung über das Zufällige und Persönliche zu erheben; ernst und stimmungsvoll steht dieses letzte Gedicht am Grabe der antiken Kultur.“3 

Die breit angelegte laus Romae ist gekleidet in die Form eines Gebets an die Göttin Roma, die die Welt geeint habe: „urbem fecisti quod prius orbis erat“ (I, 66). Rutilius rühmt superlativisch, mit zahlreichen mythologischen Bezügen, römische virtus und römische Herrschaft: Gesetzgebung zum Wohle aller Völker des Reiches, zivilisatorische Leistungen wie etwa das Wunderwerk der Aquädukte. 

Aber es mischt sich auch ein anderer Ton in diese Romhymne, als er unmittelbar auf die Plünderung Roms 410 zu sprechen kommt und Rom zu Durchhalten und Wiedererneuerung auffordert (I, 119 ff.):

Abscondat tristem deleta iniuria casum;

     contemptus solidet vulnera clausa dolor.

Adversis solemne tuis sperare secunda:

     exemplo caeli ditia damna subis. 

Astrorum flammae renovant occasibus ortus;

      lunam finiri cernis ut incipiat.

Das ausgelöschte Unrecht möge den traurigen Sturz verbergen; 

die Verachtung des Schmerzes lasse die geschlossenen Wunden vernarben. 

Du bist gewohnt, im Unglück auf bessere Zeiten zu hoffen, 

nach dem Vorbild des Himmels nimmst du vorteilhafte Schäden auf Dich: 

Die Sternenlichter erneuern durch Untergänge ihren Aufgang; 

du nimmst wahr, dass der Mond schwindet, um zuzunehmen.

Die Vorbeifahrt an einem Kloster auf einer kleinen Insel zwischen Korsika und Elba ist für Rutilius Anlaß zu einer Schmährede auf die Mönche. Sie seien lichtscheues Gesindel, sich im Schmutz suhlend (I, 439 – 452): 

Processu pelagi iam se Capraria tollit;

       squalet lucifugis insula plena viris.

Ipsi se monachos Graio cognomine dicunt,

        quod soli nullo vivere teste volunt.

Als wir weiterfahren, erhebt sich Capraria aus dem Meer;

von Schmutz starrt die Insel, voll von lichtscheuem Gesindel.

Sie selbst nennen sich mit dem griechischen Beinamen ,Mönche’,

weil sie alleine, ohne Zeugen leben wollen.

Es folgt ein zweiter Ausfall bei der Vorbeifahrt an einem anderen Kloster oder einer Einsiedelei (I, 517 – 526), wo sich ein junger Mann aus bestem römischen Hause lebendig begraben habe (518). Ein Vergleich mit dem Gift Kirkes:

Num, rogo, deterior Circaeis secta venenis? 

      Tunc mutabantur corpora, nunc animi. (525f.)

Ist die Sekte, so frage ich, etwa noch schlimmer als das Gift der Kirke?

Damals wurden Körper [in Schweine] verwandelt, heute Seelen.

Die ,secta’ – sind das die Christen allgemein oder nur die Mönche? Eduard Norden hat betont, dass sich auch christliche Kritik am frühen Mönchtum findet.4 Die rabenschwarze Polemik gegen die Mönche bedeutet daher nicht zwingend einen Angriff auf die Staatsreligion an sich. 

Weder der mythologische Apparat, noch das große Gebet zur Dea Roma oder die Kritik an Stilichos Verbrennung der Sibyllinischen Bücher sind Beweise für Heidentum oder Götterglauben, so wenig wie der Kosmos Ovids, dessen Götter – in den Worten Manfred Fuhrmanns – „gar keine Götter mehr sind“5. Auch die Christen Ambrosius (ep. 18,7) und Prudentius (contr. Symm. II 655 ff) bedienten sich der Dea Roma als Symbol Roms.6

Der Roma-Kult, der konkretisierend die römische Macht zum Gegenstand der Verehrung machte, war kein traditioneller Bestandteil römischer Religion, sondern seit hellenistischer Zeit im östlichen Mittelmeer entstanden.7 Später ist die Dea Roma 

„ihres religiösen Charakters weitgehend entkleidet und zum Symbol des Reichs und der alten Überlieferungen sowie zum Sinnbild der griechisch-römischen Kulturwelt geworden.“8

War Rutilius Stoiker? In der neuen – nicht in der zweisprachigen – Ausgabe wird Rutilius’ Vergleich des Senats mit der Götterversammlung unter dem Vorsitz Jupiters, dem „concilium summi Dei“ (I, 18), frei in stoischem Sinn mit „le pouvoir unificateur du Dieu suprême“ wiedergegeben. 

In jedem Fall ist Vorsicht gegenüber Apodiktischem zu Rutilius geboten, da der uns vorliegende Text unvollständig ist. Und in der Tat, eines der 1973 gefundenen Fragmente (B, 7 – 19) aus dem zweiten Buch entstammt einem Lob auf den christlichen General Constantius, später (421) Kaiser Constantius III., der 416 die Goten in Spanien besiegt hatte, ein Fund, der der Vorstellung einer radikalen Christenfeindschaft des Rutilius widerspricht. 

Als ‚gallischer Dichter’ hat Rutilius in Frankreich zwar immer besonderes Interesse gefunden – so wie die spanische Literaturgeschichte Seneca und Martial unter ihren Anfängen verbucht. Das große Echo, das die durchgehend akkurate und schwungvolle Übersetzung 2017 hervorrief, lässt sich jedoch so nicht vollständig erklären. In dem uns erhaltenen Teil seines Werkes huldigt der Dichter ja gerade nicht Gallien, sondern Rom, seiner „patrie véritable“ (XIV). Die Pflicht ziehe ihn, so schreibt er zu Beginn, nach Gallien zurück; an einer weiteren Stelle findet sich ein floskelhafter Hinweis auf seine Vorfreude auf die Heimat, der oben zitierte Halbvers „videor patriae iam mihi parte frui“ (I, 510). 

Rutilius vergleicht sich mit dem von Kalypso festgehaltenen Odysseus (Od., I, 57 – 59), der wünscht, auch nur den Rauch über dem heimischen Ithaka aufsteigen zu sehen: ἱέμενος καὶ καπνὸν ἀποθρῴσκοντα νοῆσαι ἧς γαίης. Auch Ovid greift die Stelle auf (Pont. I, 3, 33-34). Hier bei Rutilius gilt sie aber nicht der Heimat, sondern der Wahlheimat, „le retour de Rutilius prend la forme d’une exil“ [Die Rückkehr des Rutilius nimmt die Form eines Exils an] (XIV). Sein reditus ist Rückkehr (für immer?), nicht Heimkehr. 

Exil, Flucht aus der Heimat vor Krieg und Zerstörung, Angst vor Überfremdung durch Wellen von Einwanderern – das sind auch und gerade in unseren Tagen Themen, die viele Menschen bewegen. Rutilius erwähnt Römer, die vor Alarichs Plünderung auf die Insel Igilium flohen (I, 31f.) sowie das etrurische Exil seines Freundes Victorinus nach der Eroberung Tolosas durch Ataulf 413 (I, 495f.).

Ernst Doblhofers Wort von der Ruinensentimentalität des Rutilius9  hat einen falschen

Zungenschlag in die Rezeption des Werkes gebracht. Beim Anblick von Ruinen an die Unerbittlichkeit des ,tempus edax’ (410) zu denken war angesichts der Bedrohung Roms nicht Ausdruck wohliger Sentimentalität, sondern eine naheliegende seelische Reaktion. 

Angemessener ist es, von einer das Gedicht durchwaltenden Melancholie zu sprechen. Zugleich aber ist das Werk mit seinen zahlreichen Porträtbildern römischer virtus ein Aufruf gegen die Resignation. So folgt unmittelbar auf die bekannteste, am meisten zitierte Ruinenschilderung des Rutilius, die der Ruinen von Populonia an der toskanischen Küste (I, 409 – 414) eine scharf konturierte Antithese. 

Mit dem betonenden ,hīc’ (=Populonia) beginnt die frohe Kunde von der Beförderung des Rufius Antonius Agrypnius Volusianus zum Stadtpräfekten (I, 415 – 428). Dieser gelangt also in die Position, die Rutilius zuvor selber innehatte. Rufius war es, der sich als letzter Freund von Rutilius trennte; in den Augen des Rutilius berechtigt er zu den kühnsten Hoffnungen (I, 165 – 178).

Vorsicht auch gegenüber dem allzu selbstsicheren Vorwurf an Rutilius, er sei Reaktionär gewesen (XVII), habe sich schwärmerisch an eine unrettbar verlorene Welt geklammert – eine Vorstellung, die in der französischen Literatur zu Rutilius immer wieder auftaucht. Ein Beispiel aus einer Rezension der neuen Ausgabe in einer populären Geschichtsillustrierten 201710: 

„Rutilius, l’esprit farci d’antiquités gréco-romaines, ne comprend pas que l’ere des royaumes romano-barbares est commencée, que le paganisme est mort, que le christianisme va réinventer une modernité à sa sauce. Une ode aveugle et réac. Une ode qui pourtant peut vous arracher des larmes.“ [Rutilus, dessen Denken vollgestopft ist mit griechisch-römischen Altertümern, versteht nicht, dass die Ära der römisch-barbarischen Königreiche begonnen hat, dass das Heidentum tot ist, dass das Christentum eine Gegenwart eigenen Stils erschaffen wird. Eine blinde und reaktionäre Ode. Eine Ode, die Ihnen dennoch Tränen abnötigen kann.] 

Rutilus setzte seine Hoffnungen auf ein Staatswesen, das sich bisher durch alle Wirren hindurch behauptet hatte – und noch sechzig Jahre lang behaupten würde (Absetzung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus: 476 n. Chr.). Wie

Orosius so war auch er nach dem Sieg des Constantius über die Goten optimistisch.

Nur sechs Jahre nach der Plünderung durch die Truppen Alarichs, der ersten seit 387, hatte Rom über seine Feinde triumphiert11: 

Ergo age, sacrilegae tandem cadat hostia gentis:

       summittant tepidi perfida colla Getae.

Ditia pacatae dent vectigalia terrae;

       impleat augustos barbara praeda sinus. (I, 141ff.)

Nur zu, endlich niederstürzen soll das Schlachtopfer des verruchten Volkes, 

die Goten sollen zitternd ihre verräterischen Nacken beugen. 

Reiche Tributzahlungen sollen die befriedeten Länder leisten;

die bei den Barbaren gemachte Beute soll den erhabenen Schoß [Roms] füllen.

„Rome had risen above its worst disaster in almost a millenium and defeated the enemy who inflicted it.“12  Rutilius aus der Sicht der Jetztzeit als Reaktionär zu bezeichnen hat daher den Beigeschmack des vaticinium ex eventu. Und: De Reditu Suo ist nicht politisches Programm, sondern poetische Vision. 

Anmerkungen:

1 Retour en Gaule, eingel. und übers. von H. Vessereau und F. Préchac., Paris (Les Belles Lettres) 2017

2 Sur son retour, Paris (Les Belles Lettres) 2007, hrsg. von É. Wolf, S. Lancel und J. Soler.

Alle Zitate aus De Reditu entstammen dieser Ausgabe. Zur besseren Lesbarkeit habe ich den Buchstaben u dort, wo es in Deutschland üblich ist, durch v ersetzt. Seitenzahlen

aus dem Vorwort in römischen Zahlen.

3 Eduard Norden, „Die lateinische Literatur im Übergang vom Altertum zum Mittelalter“ in Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, von U. v. Wilamowitz –Moellendorf et al., Leipzig/Berlin, 3. Aufl. 1912; S. 492

4 ebd.

5 Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5. 11. 1991) zu Marion Giebels Ovid – mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten: „Ovids Götter handeln oft ungerecht und grausam, weil sie gar keine Götter mehr sind, sondern Zeichen für menschliche Machthaber. Ovids illusionsloses, um nicht zu sagen nihilistisches Weltbild war schlechthin unvereinbar mit der Doktrin des augusteischen Staates und ebendeshalb traf ihn der Bannstrahl des Kaisers nicht von ungefähr.“

6 Richard Klein (Hrsg. u. Übers.), Der Streit um den Victoriaaltar. Die dritte Relatio des Symmachus und die Briefe 17, 18 und 57 des Mailänder Bischofs Ambrosius, Darmstadt, 1972, S. 178

7 Vgl. Peter Kuhlmann, Religion und Erinnerung. Die Religionspolitik Kaiser Hadrians  

und ihre Rezeption in der antiken Literatur, Göttingen 2002, S. 70

8 Klein, a.a.O.

9 Rutilius Claudius Namatianus De reditu suo sive Iter Gallicum, hrsg.  von E. D., 2 Bde, Heidelberg 1972 und 1977, hier Bd. 2, passim 

10 G. Malaurie, Historia, Nr. 849, September 2017, S. 83

11 Vgl. Alex Cameron, The last pagans of Rome, Oxford 2011, S. 210

12 ebd.

Zurück nach Gallien – Rutilius Namatianus2

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