Exegese, Predigt und Katholiken – eine ernüchternde Bilanz


Ernüchternd ist es, in unseren Tagen als Philologe und Christ einen Blick zu werfen auf den Umgang deutscher Katholiken mit der Heiligen Schrift.

Natürlich wird an den Universitäten nach wie vor Exegese praktiziert, aber große Meister wie Josef Ratzinger, Klaus Berger, Karl Jaroš, Marius Reiser – sie sind nicht (mehr) repräsentativ für den Umgang mit der Heiligen Schrift in katholischen Kreisen. Weder im universitären noch im realen Leben, etwa in der sonntäglichen Predigt. Vorbei die Zeiten, als ein Josef Ratzinger mit seinem mehrbändigen Jesus-Werk, einem Bestseller, weit in Kirche und Gesellschaft hinausstrahlte.

Was katholische Predigten betrifft, so zeigen mir Gespräche, dass ich keineswegs allein stehe mit dem Eindruck, dass sie kaum jemals Neues, Präzises, Originelles zu biblischen Texten enthalten, dass „denen dazu nichts einfällt“.

Alle E-Mail-Rückmeldungen, Einladungen zu Vorträgen oder zu (zwei) Interviews, Rezensionen in theologischen Fachzeitschriften, die ich nach meiner eigenen Buch-Veröffentlichung über Lukas und die Apostelgeschichte erhalten habe, stammen von Protestantinnen und Protestanten, aus protestantischen Lesekreisen und Gemeinden,(1) und ich möchte hier nicht nur allen danken, sondern geloben, wie bisher jede Zuschrift zu beantworten.

Drei ganz unangenehme und verfehlte Formen des Predigt-Umgangs mit der Heiligen Schrift haben sich eingeschlichen.

Zum einen die kommentarlose Ignorierung der – häufig langen und schwierigen – Lesungen aus dem Alten Testament, die kurz zuvor im Gottesdienst vorgetragen wurden wie eine Pflichtübung.

Zweitens, das Gegenteil: das paraphrasierende Plattwalzen von Texten, die bereits aus sich selbst heraus ALLES sagen, und zwar unnachahmlich pointiert. Paradebeispiele sind die Geschichte vom Samariter und die vom Gang nach Emmaus. Da wäre es besser, nach der Verlesung des Evangeliums zwei Minuten der Stille verstreichen zu lassen und sich dann an die Gemeinde zu wenden mit den Worten: „Liebe Gemeindemitglieder, Sie haben es gehört. NICHTS gilt es, hinzuzufügen. Lassen Sie uns Fürbitte halten.“ (Stattdessen das Übliche: „Stellen wir uns vor: Da sind zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Sie sprechen über …“).

Drittens: das gebetsmühlenartigen Wiederholen bestimmter spezifischer Formulierungen und zum Teil fragwürdiger Übersetzungs-Wendungen, ohne den Versuch der Problematisierung und Klärung.

Was heißt denn „Gott schaut NICHT auf die ,Person'“? Der Philosoph Robert Spaemann hat dazu geschrieben: Gott schaut GERADE auf die Person, NUR auf die Person! Was heißt „Sie erkannten ihn am Brotbrechen“? Was exakt war denn da der Grund für dieses Erkennen? Handelte es sich bei diesem Brotbrechen um ein übliches Mahl oder um die Eucharistie? Oder: Wieso kommt da eigentlich einer auf die Idee, „drei HÜTTEN“ zu bauen (statt zum Beispiel ein gemeinsames Zelt zu errichten)? Oder: Steht er im Original wirklich da, dieser trivial-prosaische Beginn der Weihnachtsgeschichte mit dem Hinweis ausgerechnet auf … die Steuererklärung? Auf „die Bewohner des römischen Reiches“, die sich „in Steuerlisten einzutragen“ hatten? Ein feinsinniger Stilist, der Evangelist Lukas, soll derartig danebengegriffen haben, an einer so wichtigen Stelle?

Von derlei ist nie die Rede, es bleibt ungeklärt, da gar nicht als Problem erkannt, und da liegt der Grund, dass dieser graue Predigtbrei auch keine oder nur geringe Spuren im Gedächtnis hinterlässt. Natürlich ist alles Dozieren über irgendwelche philologische Spitzfindeleien in der Predigt zu meiden, aber es hat sich eine Unkultur des ANDEREN Extrems breitgemacht. Ein joviales Über-den-Text-hinweg-Predigen und, als Resultat, eine erstarrte, bloße Hinnahme des Textes auf der Seite der Zuhörer.

Und: Dieselben Prediger, denen dazu wenig einfällt, sind oft Zeitgeist-Surfer. Dann wandeln sie sich, wenn es nottut, in wundersamer Weise mit einem Schlag in die größten Bibel-Spezialisten. Alle widerborstigen Passagen aus der Heiligen Schrift, so unterweisen sie uns im Brustton der Überzeugung, seien „zeitbedingt“ (=also obsolet) und könnten getrost beiseitegebürstet werden.

Von Fällen des Totalabsturzes dieses Prediger-Typus, hoch von der Kanzel tief hinab in den Blödsinn (à la „Gott ist gegen GRENZEN“, „Gott ist für VIELFALT“, „Vor allem EINS müssen wir Christen sein: TOLERANT!“) soll hier nichts Weiteres gesagt werden.

Genug; zwei Vergleiche, die nachdenklich stimmen könnten. Food for thought, wie die Engländer sagen.

Ein Schweizer des XVI. Jahrhunderts, Thomas Platter aus Basel, war Seiler. Er brachte sich nachts, beseelt von den Idealen der Reformation, im Eigenstudium Griechisch, Latein und Hebräisch bei, setzte unermüdlich seine Studien fort, vor und nach einem harten Arbeitstag, um dann seine Kenntnisse an andere leidenschaftlich am Wort Gottes Interessierte weiterzugeben. Ein Arbeiter aus dem Wallis „mit schwieligen, oft von der Arbeit blutigen Händen“, wie wir in Lucien Febvres Renaissance-Buch Der neugierige Blick lesen.

Eine französischen Ordensschwester, Sœur Jeanne d’Arc, o. p., J., hat eine kommentierte Übersetzung der vier Evangelien vorgelegt, Les Évangiles. Les quatre. Paris 2011 (1992). Der Kommentar ist in höchstem Maße informativ, man kann dort tausend Entdeckungen machen, originelle, teils überraschende Erläuterungen, Feinheiten und Präzisierungen zu allen möglichen Versen. Und nicht einer von solchen Farbtupfern kam je in meiner Gegenwart in einer Sonntagspredigt vor.

Hier ist, was die Autorin zu Matthäus 5,13 mitteilt, zu dem Vers „Ihr seid das Salz der Erde.“ Sie übersetzt: „Vous, vous êtes le sel de la terre. Sie fährt fort: „Si le sel devient fou, avec quoi le saler?“ Fou (=töricht), nicht „si le sel devient fade“. Sie erläutert, dass in der Sprache Jesu, im Aramäischen, für „schal/fade werden“ und „töricht werden“ dasselbe Verb verwendet wird, genau wie im Griechischen (μωραίνoμαι).

Bei Markus (9,50) wird das Salz an-halos (ἄναλος), also zu etwas, was gar kein Salz mehr ist. Matthäus dagegen wählt das doppeldeutige Verb μωραίνoμαι.  Er will den Doppelsinn, um sowohl auf Salz (sel) also auch auf Weisheit (sagesse) anzuspielen.

Festzuhalten bleibt: Da, wo das Wort Gottes nicht zugleich akkurat, lebendig und in seiner kräftigen Würze weitergegeben wird, da breiten sich Fadheit und Dumpfsinn aus.

(1) Diese Aussage umfasst nicht die Rezension des Philologen Fabian Weimer in FORVM CLASSICVM und die Video-Rezension der katholischen Theologin Frau Dr. Margarete Strauss auf You-Tube.

 

 

 

© 2024 Christoph Wurm

 

Toleranz – Akzeptanz – Arroganz

Der Star unter den Begriffen, die in den letzten Jahren Karriere gemacht haben, ist: TOLERANZ. Überall in den Mainstream-Medien und in allen, wirklich allen, Politikerreden ist TOLERANZ präsent. Eröffnet der Bürgermeister einer niederrheinischen Kleinstadt eine neue Tiefgarage, dann hat allerspätestens im fünften Satz das magische Wort zu fallen, und genauso verhält es sich mit den bleiernen Ansprachen des hölzernen F.-W. Steinmeier.

Seit einiger Zeit jedoch macht ein anderes lateinisches Wort der TOLERANZ Konkurrenz: AKZEPTANZ. Um diesen Trend zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die beiden Wortpaare werfen: tolerieren – Toleranz – akzeptieren – Akzeptanz.

Das lateinische Verb tolerare kommt von tollere, heben, schultern. Tolerare bedeutet ursprünglich: eine Bürde schultern; ertragen, was einem widerstrebt.

Im Deutschen wie auch in anderen europäischen Sprachen ist diese Bedeutung abgeflacht: Man nimmt irgendetwas hin, ohne dagegen vorzugehen. Der Larousse Classique führt den Beispielsatz an: „Dans la vie sociale, la vertu la plus utile est la tolérance.“ Nützlich ist es also, tolerant zu sein, es erspart einem im Alltag Reibereien. Im Deutschen gehört zu dieser Bedeutung des Verbs tolerieren das Substantiv Tolerierung, das in ganz allgemeinem Sinn die Hinnahme von irgendetwas (=anything) bezeichnet.

Im Hinblick auf den STAAT wird seit der Aufklärung das Substantiv Toleranz verwendet, und zwar in einer spezifischen Bedeutung. Es bezeichnet die staatliche Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen, „la disposition à laisser à chacun la liberté de pratiquer la religion qu’il professe.“

Diese Wortbedeutung ist im Deutschen der Ausgangspunkt gewesen für die Erweiterung des Begriffs Toleranz auf die Hinnahme – außerhalb des staatlichen Bereichs, durch die einzelnen Bürger nämlich – von fremden Lebensstilen, Formen der Sexualität oder religiösen Überzeugungen

So weit, so gut; als Staatsbürger eines zivilisierten Gemeinwesens sollte all das selbstverständlich sein. Toleranz ist ein anderes Wort für Nichts-Tun! Wir sind ja sogar gesetzlich – mit Recht – zur friedlichen Hinnahme alles Friedlichen verpflichtet. Tolerieren und Toleranz – das ist ein nüchtern-deskriptives Wortpaar, denn Leidenschaft, Kontroverse, Polemik entstehen ja erst, wenn Diskussionspartner hinausgehen über das bloße Zulassen der abweichenden Meinung, sie korrigieren oder ganz widerlegen wollen.

Woher also diese Omnipräsenz des Wortes Toleranz, woher die Inbrunst, mit der da gepredigt wird? Woher die flammenden Appelle? Dieser farblos-unemotionale (NICHT: triviale) Wortsinn dürfte es jedenfalls nicht sein. Soll uns hier etwas anderes – im wahrsten Sinne des Wortes unter-geJUBELT werden?

Werfen wir einen Blick auf das zweite Wortpaar: akzeptieren und Akzeptanz. Hier ist nicht die HIN-Nahme gemeint, sondern etwas grundlegend anderes: die AN-Nahme. Und da liegt der Hase im Pfeffer. Kein Wunder, dass statt von Toleranz zunehmend von AKZEPTANZ die Rede ist, dass die beiden Begriffe fälschlicherweise als Synonyme verwendet werden. Die ewigen Aufforderungen zur Toleranz haben nämlich realiter ein anderes Ziel. Nicht bloß hinnehmen sollen wir, sondern gutheißen. Und genau deshalb, nachdem einmal diese Umdeutung des Toleranz-Begriffs geschluckt ist, wird zunehmend Klartext gesprochen und nicht mehr Toleranz, sondern Akzeptanz gefordert.

Das Internet trieft inzwischen von Formeln wie „Vielfalt und Akzeptanz“, wo ich „Vielfalt und Toleranz“ erwartet hätte. Überall werden „Zeichen für Akzeptanz“ „gesetzt“. Im Mai 2024, so lesen wir mit einer gewissen Verwunderung, sah sich selbst der deutsche Alpenverein dazu berufen, einen „Appell für Offenheit, Vielfalt und Akzeptanz“ loszulassen!

Es stellt sich ein syntaktisches und semantisches Problem. Was ist es denn, was wir da ,akzeptieren‘ sollen? Strenggenommen ist sie BLÖDSINN, diese uneingeschränkte Forderung nach mehr ,Akzeptanz‘, ohne präzisierendes Genitiv-Attribut. Denn sie impliziert ja das Gutheißen aller beliebigen Dinge, also etwas, was nach den Grundprinzipien der Logik unmöglich, da in sich widersprüchlich ist.

Wer in den letzten Jahren Reduktion, Umdeutung, Vereinheitlichung von Sprache im öffentlichen Raum verfolgt hat, der findet unschwer des Rätsels Lösung: Wir sollen das gutheißen, was die Herrschenden, in den Medien und im Politiker-Sprech, jeweils in die Leerstelle einsetzen und uns zu ,akzeptieren‘ vorschreiben wollen.

Und wehe dem, der sich nicht ins Boot zerren lassen will. Von A wie Ausstieg aus der Kernenergie über G wie Gendern bis zu Z wie Zuwanderung.

 

„Mit gelassener Selbstverständlichkeit“ – Frank-Walter Steinmeiers ,WIR‘

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im Frühjahr dieses Jahres ein Buch mit dem Titel ,Wir‘ vorgelegt, das ich bestellt und gelesen habe, denn ich finde es anerkennenswert, dass er sich in kohärenter Form zu Deutschland äußert. Er legt seine Bestandsaufnahme zum Deutschland des Jahres 2024 und seine Zukunftsvision für das Land vor.

Man darf davon ausgehen, dass seine Ausführungen repräsentativ sind für das Deutschlandkonzept des politischen Mainstreams, denn er ist ja zweimal, 2017 und 2022, mit breiter Unterstützung, auch durch die CDU, ins Amt gewählt worden. Irgendwelche Rezensionen oder Kommentare zu diesem Buch habe ich absichtlich nicht gelesen. Ich habe sie gemieden, um mir selbst einen Eindruck zu verschaffen.

Vier Teile umfasst das 142-seitige Buch: Die Einleitung („Die Möglichkeit, wir zu sagen“) sowie die drei Kapitel „Wo wir stehen“, „Woher wir kommen“, „Wer wir sind – und sein können“.

Schnell macht Steinmeier klar: Dieses ,WIR‘ meint nicht etwa ein spezifisch deutsches Nationalgefühl, verbunden mit dem Stolz auf die Errungenschaften deutscher Kultur. Deutschland ist eine Fläche; jeder, der kommt und den deutschen Pass erhält, ist Deutscher. Insofern ist auch nicht wirklich von Integration die Rede: Zuwanderung ist ein Vorgang der Addition. Jetzt leben n Einwohner hier, wer dazukommt, ist n plus 1. Die Deutschen des Jahres 2024 sind eine Ansammlung von Menschen „aus allen Himmelsrichtungen“ (S.137), völlig unterschiedlich nach „Ethnie, Religion und Kultur“ (ebd.). Deutsche Tradition und Geschichte kann ihnen daher gestohlen bleiben – mit einer einzigen Ausnahme: Nazizeit/Weltkrieg/Holocaust.

Der kleinste gemeinsame Nenner, die Respektierung der gesetzlichen Regelungen, hat daher an die Stelle von Patriotismus zu treten: die Zustimmung „zu den Regeln, die wir uns in demokratischen Verfahren geben und die allen die gleichen Bedingungen zur freien Entfaltung garantieren. Aus diesem Bewusstsein kann eine neue Art von demokratischem Patriotismus entstehen.“ (S. 137).

Im zweiten Kapitel zeichnet der Verfasser ein negatives Bild der neueren deutschen Geschichte. Auffällig: Steinmeiers Porträt des Kaiserreichs als einer Epoche völliger Finsternis –  jener Epoche immerhin, als Deutschland, hochgeachtet in der ganzen Welt, weltführend in allen Wissenschaften war, Modell in Sachen Sozialgesetzgebung und Gesundheitsfürsorge.

Vor die düstere historische Kulisse stellt er die zeitlich schmale Folie des Positiven: Gründung der BRD, westdeutsche Demokratie, Ostpolitik Willy Brandts, Wende 1989. Aber auch im Rahmen dieser Bilanz weist er immer wieder auf Gewalttaten hin – ausschließlich auf solche begangen AN Muslims, nicht von ihnen.

Die Probleme, mit denen sich Deutschland in den letzten Jahren konfrontiert sieht, sind nach Steinmeier entweder Sachzwänge von außen (Klimawandel, Migration, Corona, Putins Krieg in der Ukraine, S. 27ff.) oder – sie existieren für ihn gar nicht. Wer etwa einen argumentativen Beitrag zu der Frage erwartet, inwiefern die Staats-Religion per definitionem Islam wirklich in eine westliche Demokratie integrierbar ist, sieht sich enttäuscht. Fehlanzeige auch im Hinblick auf Selbstkritisches zur Russland-Politik der Regierung Merkel, der er ja angehörte – und zwar als Außenminister!

Zufrieden bemerkt Steinmeier, der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie habe endlich die „harten Polizeieinsätze“ (S.87f.) gegen Demonstranten, einen „schweren Konflikt“ in der Gesellschaft überwunden. Dass der Ausstieg ein internationaler Alleingang war, der im Ausland allenthalben Kopfschütteln hervorrief und auch in Deutschland ― außerhalb dieses Buches, im Realen ―  umstritten bleibt, lässt er unerwähnt. Auch in die Hymne auf Angela Merkel und ihren Regierungsstil „gelassener Selbstverständlichkeit“ (S.86) wird nicht jeder ohne Weiteres einstimmen.

Stilistisch ist das Buch glanzlos: gehalten in der inzwischen allgegenwärtigen öffentlich-rechtlich-zertifiziert-politisch-korrekten Standard-Diktion. Selbstverständlich fehlt jedwede Form von (Selbst-)Ironie und Humor, wie üblich scheppern bleierne Dopplungen à la „Bürgerinnen und Bürger“, „Managerinnen und Manager“ über die Seiten. Manche Begriffe sind mehr oder weniger subtil im Sinne der herrschenden Agenda umgedeutet, zum Beispiel „rechts“=rechtsextrem (S.41), die EU=,Europa‘.

Das Steinmeiersche WIR ist einfach zu definieren: Jeder, der die rot-grüne Dogmatik teilt. Wer diese Definition unterschreibt, wird, wenn Formen „politisch korrekter“ Knebelung der Meinungsfreiheit auf Kritik stoßen, entrüstet dagegenhalten: Was? Wie bitte? Bei UNS herrscht doch lupenreine Meinungsfreiheit: alle, wirklich alle, können sagen, was ihnen in den Sinn kommt!

Es fehlt irgendein substanzielles Dialogangebot an die Zahlreichen, die Zahlreiches kritisch sehen: etwa die mit der Brechstange dirigistisch durchgesetzte Energiewende und Ent-Industrialisierung, die unkontrollierte Massenimmigration mit dem dadurch verursachten massiven Niedergang der Sicherheit, die Nicht-Abschiebung von Messerstechern und potentiellen Gewalttätern, die Auswüchse der Bürokratenherrschaft der EU. Auf derlei geht er nicht näher ein. Ein paar globale Formulierungen, und dabei bleibt’s. Was Steinmeier etwa mit „bestmöglicher Steuerung“ der Migration“ (S. 35) meint, bleibt sein Geheimnis. In diesem Sinne: „Unsere Aufgabe ist es, Brücken in die Zukunft zu bauen, die so breit und stark sind, dass möglichst alle über sie gehen können.“ (S. 129).

Eine unmissverständliche Ansage hat Steinmeier allerdings parat für diejenigen, die die rot-grüne Standard-Agenda nicht teilen: WIR, so postuliert er, brauchen eine „durchgriffsschärfere Regulierung der sozialen Medien“ (S. 45).

Bemerkenswert ist nicht nur die Forderung nach ,Regulierung‘ von Freiheit. Sondern da ist auch dieses Adjektiv: ,durchgriffsscharf‘, und zwar im Komparativ. Es war mir unbekannt. Und: Es fiel mir als Philologen auch deshalb auf, weil es auf einmal jäh, kalkuliert bedrohlich hervorsticht aus Steinmeiers fadem Stilbrei.

Auf Kirchen- und Katholikentagen schreitet die herrschende rot-grüne Dogmatik, gütig lächelnd, im liturgischen Gewand daher. Hier wird sie präsidial verkündet, gewissermaßen ex cathedra.

Frank-Walter Steinmeier, Wir, Berlin (Suhrkamp) 2024, 142 S.

Wer war Euripides? – Fragen Sie doch einfach den nächstbesten Passanten!

Antonio Rodríguez Osuna, der Bürgermeister von Mérida in der spanischen Region Extremadura, einer Stadt, in der jedes Jahr ein Festival klassischen Theater stattfindet, hatte Bemerkenswertes über die Bildung der Einwohner zu berichten, und zwar vor ein paar Tagen im Interview mit der Lissabonner Zeitung Diário de Notícias:

Mérida tem uma característica muito especial, pois os seus habitantes estão muito familiarizados com os autores greco-latinos. Foram tantos anos a ver Medeia e outras peças, assistindo às suas representações, que, se lhes perguntar na rua quem foi Eurípides, quem foi Sófocles ou no que consiste Medeia, muitos saberão. São já 70 edições do Festival de Teatro Clássico, com um intervalo por causa das guerras. Há muita gente na cidade que participou nas peças de teatro como figurante ou no coro. Os emeritenses estão muito, muito envolvidos com o Festival.

„Mérida hat etwas ganz Besonderes: Seine Einwohner sind wohlvertraut mit den griechischen und römischen Autoren. Sie haben dadurch, dass sie zu den Aufführungen gegangen sind, so viele Jahre schon Medea und andere derartige Stücke gesehen, dass Sie Passanten auf der Straße fragen können, wer Euripides war oder Sophokles, oder worum es in Medea geht, und viele es wissen werden. Das Festival des klassischen Theaters findet schon zum 70. Mal statt, es gab nur ein Intervall aufgrund der Kriege [Spanischer Bürgerkrieg und Zweiter Weltkrieg]. Es gibt viele in der Stadt, die bei den Theaterstücken als Statisten oder im Chor mitgemacht haben. Die Einwohner von Mérida sind sehr eng mit dem Festival verbunden.“

 

PRO LINGVA LATINA

Das Jubiläumsheft von Pro Lingua Latina ist erschienen, Nr. 25. Herzliche Glückwünsche an den Herausgeber, den trefflichen Dr. Hermann Krüssel, der mit Recht in seiner Nota Editoris schreibt: „Die Welt der lateinischen Sprache und Literatur bietet eine unermessliche Fülle an Themen.“

Ich habe zu diesem – besonders vielseitigen – fünfundzwanzigsten Heft drei Artikel beigesteuert: „Skandal um Ovid“, „Pugno, pugnas, pugnat“ und „Stimmen und Steine“, die vom Herausgeber hervorragend optisch aufbereitet und mit Illustrationen versehen wurden.

 

HINWEIS: Interview über den Pfingsttext der Apostelgeschichte

Ab dem Pfingstsonntag, 19. Mai 2024, wird ein ungefähr 45-minütiges Audio-Interview für den Podcast Begründet Glauben verfügbar sein, das Leonie Schweizer mit mir aufgezeichnet hat, über iTunes und über die Homepage Begründet Glauben. Thema ist das zweite Kapitel der Apostelgeschichte.

 

Angemessen sprechen

Platon, Phaidon, 115e:

εὖ γὰρ ἴσθι, ἦ δ᾽ ὅς, ὦ ἄριστε Κρίτων, τὸ μὴ καλῶς λέγειν οὐ μόνον εἰς αὐτὸ τοῦτο πλημμελές, ἀλλὰ καὶ κακόν τι ἐμποιεῖ ταῖς ψυχαῖς.

„Sei dir genau darüber im Klaren, bester Kriton: Nicht exakt  sprechen ist nicht nur in sich selbst verfehlt, sondern tut auch den Seelen etwas Böses an.“

NEUE VERÖFFENTLICHUNG

In der Zeitschrift LATEIN UND GRIECHISCH IN BADEN-WÜRTTEMBERG, im thematisch besonders breit gefächerten Doppelheft 2/2023 und 1/2024, ist ein neuer Beitrag von mir erschienen, mit dem Titel „Meeresreise mit Vergil – Das Itinerarium des Francesco Petrarca“, der  Freunde des Lateinischen, aber auch des Italienischen ansprechen soll.

Der Herausgeber der Zeitschrift, Dr. Stefan Faller schreibt im Vorwort des Heftes dazu: „Christoph Wurm wirft, angeregt durch eine 2018 erschienene Ausgabe von Petrarcas Itinerarium Syriacum, einen wohlwollenden und anregenden Blick auf eine imaginäre Reise. Eingeladen war der Mitbegründer des Renaissance-Humanismus zwar von einem Freund zu einer Expedition ins Heilige Land, nahm aber nicht teil, sondern verfasste stattdessen einen lesenswerten Reiseführer.“

Die erwähnte – zweisprachig lateinisch-italienische – Ausgabe kaufte ich bei einem Besuch im schönen MILANO. Ich habe mich in meinem Artikel auf meist neuere italienische Literatur zum Thema konzentriert.

 

Das erfolgreichste lateinische Wort

Welches lateinische Wort ist das erfolgreichste? Und welche Wörter liegen auf Platz 2 und 3? Eine kryptische Frage – denn was bedeutet „erfolgreich“? Gemeint ist dasjenige lateinische Wort, das am häufigsten von allen aus dem Lateinischen stammenden Wörtern verwendet wird. Man wird dabei in erster Linie an die modernen romanischen Sprachen denken, die ja Äste des Latein-Baums sind. Aber auch weit über diese Sprachen hinaus sind lateinische Wörter in die Sprachen der Welt eingedrungen. Es lohnt also auch, einen Blick etwa auf Deutsch oder Englisch zu werfen.

Die häufigsten Wörter moderner europäischer Sprachen sind die Artikel, aber gerade da ist im Lateinischen Fehlanzeige. Wir kennen aus dem klassischen Latein weder den unbestimmten noch den bestimmten Artikel (im klassischen Griechisch existiert zumindest einer von beiden, der bestimmte: ἄνθρωπος, ein Mensch, ὁ ἄνθρωπος, der Mensch).

In den berühmten – etwas barsch anmutenden – Worten Quintilians (Inst. 1. 4,19): „Sermo noster articulos non desiderat:“ – „Unsere Sprache erfordert keine Artikel.“

Woher stammen also die Artikel in den modernen romanischen Sprachen? Dumme Frage! Aus dem Lateinischen natürlich, und zwar von unus, una, unum einerseits und ille, illa, illud andererseits.

Das Zahlwort unus ist mit dem deutschen ein und den englischen Artikeln a/an/one verwandt. Es bleibt in seiner Bedeutung unangetastet, wird aber auch als unbestimmter Artikel verwendet, und erhält sogar einen Plural, in der Bedeutung „einige“. Das ist ein Unterschied zum Lateinischen, wo der Plural zwar existiert, aber hauptsächlich für Pluralwörter, pluralia tantum, verwendet wird: una castra, ein (einziges) Lager, unae aedes, ein (=one) Haus.

Hier die breite Skala der Verwendung von unus, am Beispiel des Spanischen:

„número uno“ (Zahlwort); un amigo, unos amigos, una amiga, unas amigas; el uno – el otro (der eine –  der andere); „dame uno“ (gib mir einen); „uno se pregunta si“ (man fragt sich ob).

Diese letzte Verwendung hat im Französischen eine besondere Entwicklung durchlaufen. Das Wörtchen on bedeutet nicht nur man, sondern wird im Alltag auch für die 1. Person Plural verwendet: on se demande si= man fragt sich oder wir fragen uns.

Im Spanischen darf man den unbestimmten Artikel nicht mit otro,-a (ein anderer) oder medio,-a (ein halber) kombinieren. Die logische Begründung: Einer (uno) kann nicht zugleich jemand anderes (otro) oder ein halber (medio) sein; una media hora kann man nur im Sinne von ungefähr eine halbe Stunde verwenden.

Nimmt man noch Pronomina hinzu, in denen unus sich versteckt, z.B. algún/alguno/alguna (irgendeiner), ningún/ninguno/ninguna (keiner, im Spanischen ein Pronomen ohne Plural), dann erahnt man, welche ungeheure Frequenz das Wörtchen in dieser von 570 Millionen Muttersprachlern (Zahl von 2016) verwendeten Sprache hat.

Eine Sprache, in der unus in besonders vielen (unbestimmten) Pronomina steckt, ist das Italienische: qualunque (wer auch immer), certuno (jemand), taluno (jemand), chiunque (wer auch immer), ognuno (jeder) und mehrere weitere.

Und das ist beileibe nicht alles. Zahlreiche Wörter des Grundwortschatzes  europäischer Sprachen enthalten das Element unus: Uniform, Unikum, Union, Universität, Universum … . Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Diese Wörter gebraucht man auch in den United States of America, dem Land mit dem Staatsmotto „E pluribus unum“. Unus ist im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Allerwelts-Wort geworden.

Was nun die andere Reihe, ille, illa illud, betrifft, so lebt auch sie in den romanischen Sprachen fort. Deren Artikel entstanden aus den lateinischen Akkusativen dieser Pronomina: illum etwa wurde zu il (Italienisch), el (Spanisch), le (Französisch), o (Portugiesisch).

Ille, illa, illud hat sich die uneingeschränkte Monopolstellung als bestimmter Artikel erworben. Es hat sich nämlich gegen den Konkurrenten ipse, ipsa, ipsum durchgesetzt, der ebenfalls in der Spätantike und im Mittelalter nach der Artikel-Krone griff, heute aber weit abgeschlagen ist.

In einigen Teilen Kataloniens wird allerdings der article salat, mit einem Rest-S der Formen von ipse verwendet: es (statt el) seu poble=dein Dorf. Vor Eigennamen findet sich im Katalanischen auch der Artikel en: Has vist en Marc? – Hast du (den) Marc gesehen? Es handelt sich um eine Kürzestform des lateinischen dominus.

Im Rumänischen wurde illum an das jeweilige Bezugswort angehängt: domnul =dominum illum, doamna (im Unterschied zur Form ohne Artikel, doamnă)= dominam illam. In der Umgangssprache wird das maskuline End-L häufig fortgelassen. Das ist der Grund dafür, dass zahlreiche rumänischen Nachnamen auf -u enden: Dimitrescu, Fotescu, Rădulescu.

Von ille, illa, illud stammen auch alle spanischen Personalpronomina der dritten Person Singular und Plural, él (=er), le (ihm/ihr), lo (ihn/es), la (sie) plus die dazugehörigen Plurale. In der Schreibweise wird im Spanischen das Personalpronomen él durch den Akzent vom Artikel el unterschieden, im Katalanischen dagegen durch ein doppeltes l: el (Artikel), ell (Pronomen). Beide Sprachen verwenden dieses Doppel-L in den anderen Formen des Personalpronomens: uno de los dos (Spanisch), uno dels dos (Katalanisch): einer von den beiden; uno de ellos (Spanisch), uno dells (Katalanisch): einer von ihnen.

Ein aufschlussreiches Beispiel für den Übergang vom Demonstrativpronomem zum Personalpronomen ist der Wahlspruch des Ritterordens: Deus lo vult.

Während das spanische les korrekt von illis abgeleitet ist, steht das entsprechende französische leur im ,falschen‘ Fall, denn es stammt von dem Genitiv illorum, wie auch sein italienisches Pendant loro.

Im Portugiesischen verschmolzen die beiden Akkusative illum (mask.) und illud (neutr.) miteinander und zeugten den Winzling o. Beispiele: o artigo, der Artikel, faço-o, ich tue es. Die übliche Aussprache als [u], sowohl in Portugal als auch in Brasilien, verrät jedoch immer noch die Herkunft dieses o.

Auch das Demonstrativpronomen aquel, aquella (jener, jene) darf nicht unerwähnt bleiben. Ille dient aber auch zur Bildung der extrem häufigen Ortsadverbien allí (von illic) und allá (von illac, das französische là). Und der bestimmte Artikel wird in Relativsätzen verwendet: „el problema del que/del cual hablamos“ (das Problem, von dem wir sprechen), genauso auf Italienisch: „il problema del quale parliamo.“

Bemerkenswert ist die Kombination des bestimmten mit dem unbestimmten Artikel im Französischen in Formulierungen wie l’un des meilleurs, einer der besten; spanisch: uno de los mejores.

Im Italienischen und im Französischen üblich ist das Pronomen lui, wie z.B. in C’est lui qui a dit cela. Es ist das lateinische illui, eine Alternativform zum Dativ illi. Die -ui-Endung entstand unter dem Einfluss der Form cui (Dativ des Frage- und des Relativpronomens).

Die Waagschale dürfte sich also zugunsten des bestimmten Artikels neigen – damit ist ille, illa, illlud bis zum Beweis des Gegenteils das erfolgreichste lateinische Wort!

Wer liegt auf Platz 3? Weitere Allerweltswörter, die fortleben, gibt es zuhauf, aber eines von ihnen, que, ragt in den romanischen Sprachen hervor. Im Spanischen als Fragepronomen, z.B. qué (was), por qué (warum), als Relativpronomen, als Teil zahlreiche häufiger Konjunktionen, z.B. porque, weil, aunque, obwohl, in Vergleichen: mejor que, französisch mieux que (besser als).

Und trotzdem finde ich hier keinen Kandidaten für Platz 3, denn im Fall que handelt es sich um einen Zusammenfluss aus verschiedenen lateinischen Wörtern, nicht um ein einziges Wurzelwort: quid (=französisch quoi, rumänisch ce), quem und quam. Platz 1 und Platz 2 festzulegen ist daher bedeutend einfacher, als den dritten Platz zu bestimmen. Die Frage bleibt also hier ungeklärt.

Wie man jedenfalls sieht, erfreut sich das Lateinische bester Gesundheit, getreu dem Spruch „Totgesagte leben länger.“ In den Worten des katalanischen Sprachwissenschaftlers Jesús Tuson (die Unterstreichungen sind von mir):

El llatí (del qual es diu impròpiament que és una llengua morta) es va anar transformant a poc a poc i es va fragmentar en les llengües romàniques actuals, de manera que el llatí encara és viu en la seva descendència“ (Històries naturals de la paraula, Barcelona 2014, S.88). 

„Das Lateinische, von dem in unangemessener Weise gesagt wird, es sei eine tote Sprache, veränderte sich nach und nach und zerfiel in die modernen romanischen Sprachen, so dass das Lateinische in seiner Nachkommenschaft immer noch lebt.“

Hier stört nur der irreführende Begriff descendència: Nicht um Deszendenz geht es, sondern um Evolution, um die – wie zu Anfang bemerkt – Äste ein- und desselben Sprach-Baumes, der lingua Latina. Illa arbor semper viridis linguarum.

© Wurm 2024

BUNT! Oder doch nicht?

Kaum ein deutsches Adjektiv dürfte in jüngerer Zeit eine solche Karriere gemacht haben wie das Wörtchen BUNT. Das Wort stammt  – fern sei es mir, hier wichtigtuerisch zu schreiben: „bekanntlich“ – vom lateinischen Partizip punctus,-a,-um (zum Verb pungere: stechen, sticken), das im Mittelalter bunte Stickereien auf Textilien bezeichnete. So die Auskunft des Standardwerks Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Kluge (s.v. bunt). Die beiden Wörter Punkt und bunt sind also Doubletten.

In den letzten Jahren ist BUNT in einem neuen Bereich – nunmehr zur Metapher geadelt – heimisch geworden, in dem der Politik. Wenn Advokaten von LGBTQ das Wort ergreifen, ist dieses Adjektiv oft nicht mehr weit. In erster Linie aber verwenden alle Verteidiger der Einwanderung das Wort. Es soll eine multi-ethnische Gesellschaft bezeichnen.

So wie sich das Auge an Farben und Farbabstufungen ergötzt, so dient das Wort BUNT dazu, eine multi-sexuelle, multi-ethnische, multi-kulturelle Gesellschaft zu bejahen, häufig in der Formulierung „bunt und vielfältig“. Diese binäre Kombination ist inzwischen in Deutschland allgegenwärtig: auf Plakaten, in Lehrplänen, an Kindergärten, auf Bussen, in den Reden der Politiker, in Predigten von politisch-korrekten Kanzeln, bei Edeka, Lidl, Aldi, in den Verlautbarungen von Steinmeier hinab bis zur:m letzten CDU/SPD/FDP/GRÜNE/LINKE-Ortsvorsitzenden.

Stolze zweihundertvierzehntausendmal findet man die Kombination in Google (Stand: 10. März 2024). Dazu kommen noch  einhundertsechsundsechzigtausend Belege für das (sprechrhythmisch weniger attraktive) „vielfältig und bunt“.

Angesichts dieser gigantischen Zahlen stellt sich ein arger Verdacht ein: Hier MUSS so geredet werden, wehe denen, in deren Reden dieses „bunt &vielfältig, vielfältig&bunt“ NICHT mindestens 12x auftaucht. Ihnen droht keine geringere Strafe als die Bezeichnung als rechts, ebenfalls ein Wörtchen, das in den letzten Jahren eine beachtliche Entwicklung erlebt hat: den Sturz kopfüber in den politisch-korrekten Orkus nämlich.

Ein beunruhigender Befund. Denn formelhafte Normierung von Sprache ist ja kein Merkmal lebendiger Debatte, sondern von Meinungslenkung. Von betreutem Denken. Von unappetitlichen Dingen also, die in einer Demokratie verpönt sein sollten, in jeder Diktatur dagegen zum Grund-Inventar gehören.

Werfen wir einen näheren Blick auf die Metapher BUNT. Sie legt nahe, dass sexuelle, ethnische, kulturelle Divergenzen bloße Äußerlichkeiten sind: Wir sind schließlich alle Menschen, und darauf, nur darauf kommt es an. Von seinen mittelalterlichen Ursprüngen her bezeichnet das Wort ja – wie wir dem Etymologischen Wörterbuch entnahmen – nicht das Essentielle, sondern das Oberflächliche. In Langenscheidts Handwörterbuch Lateinisch – Deutsch von Hermann Menge lesen wir, dass das Substantiv color ursprünglich Hülle, Außenseite bedeutet.

Die frühere Kanzlerin A. Merkel hat die Vorstellung von der Beliebigkeit des Staatsvolkes in dem ihr eigenen Sprachduktus, also in spröder Plattheit, zum Ausdruck gebracht, als sie das Substantiv die Deutschen durch den Relativsatz „diejenigen, die schon länger hier wohnen“ ersetzte.

Insofern ist BUNT dem englischen Sprichwort „Beauty is only skin deep“ vergleichbar: „(Physische) Schönheit reicht nur so tief wie die Haut“, dem sanften Trostwort der Häßlichen. Konsequent weiterverfolgt wird die Metaphorisierung von BUNT mit der Fortsetzung ins Infantile: Karneval der Kulturen in Berlin und anderswo.

All dieses Gerede suggeriert, in ganz übel manipulativer Weise, dass Fundamentales trivial sei. Im Hinblick auf die Immigration: Maximale ethnische und kulturelle Unterschiede, so legt es die Metapher BUNT nahe, seien kein ernsthaftes Problem für Deutschland. Das Zusammenleben in einem BUNTEN Deutschland sei so unproblematisch wie ein Kindergeburtstag. Deutschland könne ohne Schwierigkeiten in eine multi-kulturelle Smartie-Röhre transformiert werden. Dass das keineswegs so ist – das zeigt ein Blick in die Zeitung von gestern, von heute, von morgen.

Die pausenlose Repetition dieses Slogans soll beschönigen, dass hier nichts Oberflächliches geschieht, sondern das genaue Gegenteil.  Deutschland wird radikal transformiert, bis ins Mark, was mit riesigen Problemen und mit Gewalt verbunden ist. Davon, dass Einwanderer Anstrengungen unternehmen sollen, sich ihrerseits in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, ist längst kaum noch die Rede.

Die ganze BUNTHEIT-Metaphorik ist ein frecher Affront gegenüber der Bedeutung der ethno-kulturellen Prägung eines Menschen. Kann man sich vorstellen, dass ein gestandener Muslim, etwa ein Imam, der Überzeugung ist, seine Religion sei EINE unter vielen gleichwertigen Farben?

Aus den USA kommen nun seit einiger Zeit Signale, die genau diese BUNTHEITS-Beseeltheit als unverschämte Form der Diskriminierung, ja des Rassismus verdammen!

Ein Beispiel von vielen möglichen: Wir lesen in einem Artikel auf der amerikanischen Internet-Seite EducationWeek, Claiming to Not  See Race leads to Inequity in Education (9.2.2020), von den Erfahrungen, die ein Dr. R. Reeves machte, seines Zeichens Schul-Supervisor und chief academic officer (ein schrecklicher Begriff, klingt wie straight out of 1984). Er ist betraut mit der Schaffung einer positive school culture (diese Bezeichnung klingt ebenfalls Orwellian, genauer gesagt: das Attribut positive ist es, das hier diesen Effekt hat). Er ist an verschiedenen Orten der USA (Syracuse, N.Y., zuvor in Louisiana) tätig gewesen.

Ihn empört, wenn Lehrer sich einfach vor ihre Klassen stellen und sagen: Eure Ethnien, eure Hautfarben zählen hier nicht, ihr seid alle meine Schüler. Sie erdreisten sich, so Reeves, unbekümmert Dinge zu sagen wie: I do not see race. – I see all my students as equal. – Economic status doesn’t matter in my class.

Lehrer, so der Erziehungsoffizier, müssten sich intensiv mit solchen Unterschieden beschäftigen und sie permanent berücksichtigen, statt vorzutäuschen, diese seien im classroom irrelevant.

Da alles, was aus den USA stammt, im Guten wie im weniger Guten, hier in Deutschland imitiert wird, könnte es bald vorbei sein mit der verbalen BUNTHEIT. Ein Fall für unsere academic officers!

Das scheinbar unschuldige Wörtchen könnte von einem fürchterlichen Bannstrahl getroffen werden: dem Vorwurf mangelnder Kultursensibilität.