Lockende Reize, reizende Locken

1802 erschien zum ersten Mal Johann August Eberhards (geb. 1739, gest. 1809) synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache. Später wurde es von Otto Lyon mehrfach überarbeitet. Das Werk in der 17. Auflage 1910 ist ein Handwörterbuch (20 cm hoch, ca. 13,5 cm breit, ca. 6,5 cm tief), was bemerkenswert ist angesichts der Masse wohlgeordneter Informationen auf 1201 Seiten.

Jeder Gruppe von Synonymen, also etwa Anfangen, Anbrechen, Anheben, Beginnen, Antreten sind die Äquivalente auf Englisch, Französisch, Italienisch und Russisch vorangestellt. Danach werden die Wörter fein differenzierend voneinander abgegrenzt und mit Beispielen veranschaulicht.

Am Ende des Buches finden sich fünf Stichwortverzeichnisse zum Auffinden jedes Einzelwortes, auf Deutsch wie für jede der genannten vier anderen Sprachen.

Ausgangspunkt ist – wo es ergiebig ist für die angestrebte schattierende Worterklärung und Bedeutungsdifferenzierung –  die Herkunft der Einzelwörter. Zurecht schreibt Lyon im Vorwort dazu: „Ist doch in vielen Fällen das Zurückgehen auf die sinnliche Grundbedeutung eines Wortes das einzige Mittel, um eine klare Anschauung von dem Begriffe desselben zu erhalten.“ (S. IV).

Zum Beispiel:

anfangen: von Hand an etwas legen zum Halten, angreifen, anfassen; 

anbrechen: eigentlich ein Brot, eine Flasche anbrechen, anfangen von dem Brote abzubrechen, der Flasche  ,den Hals brechen‘;

anheben: angreifen zum Bewegen, man rief Hebenden zu ,Hebt an!‘

So erklärt das Wörterbuch den Unterschied zwischen Zweck und Ziel:

„Zweck (urspr. ein kurzer Eisennagel oder Holzpflock (jetzt noch Schuhzwecken), namentlich der Nagel in der Mitte der Schießscheibe, nach dem der Schütze zielt) bezeichnet überhaupt das, warum und wozu etwas getan wird, oder warum und wozu etwas da ist, z.B. ,Der Zweck der Tragödie ist Rührung‘, Schiller, Über die tragische Kunst. So spricht man vom Zweck einer Reise, einer Handlung, eines Gesetzes, eines Buches usw. Ziel (urspr. das Ende oder die Grenze, die für einen Gegensatnd oder für eine Tätigkeit gesetzt wird, namentlich der beim Wettlauf zu erstrebenden Ort oder Gegenstand) ist der Endpunkt, der erstrebt wird, z. B. das Ziel einer Reise ist der Ort, nach dem man reist, der Zweck einer Reise ist die Erholung, ein Geschäft, ein Besuch usw. ,Ich jage nach dem vorgesteckten Ziel‘ (Phil. 3, 14).“

Manche Erläuterung des wackeren Prof. Lyon, seines Zeichens Stadtschulrat in Dresden, atmet wilhelminischen Geist und entbehrt nicht der Komik: „Auch eine tugendhafte Frau reizt durch ihre außergewöhnliche Schönheit; aber eine Buhlerin lockt den unerfahrenen Jüngling durch ihre verführerischen Künste in ihre Netze.“

Auch in Vergessenheit Geratenes aus der Sprachgeschichte findet sich, etwa der Versuch Goethes und anderer Autoren, Egoist durch Selbstler oder Selbstling zu verdeutschen.


Einbildungskraft und Phantasie: „Die Fähigkeit, früher durch die Sinne wahrgenommene Erscheinungen zu reproduzieren und sich vorzustellen, nennt man Einbildungskraft. Von dieser unterscheidet sich die Phantasie dadurch, dass sie sich nicht, wie die Einbildungskraft, auf das Entstehen einzelner Vorstellungen , sondern auf die willkürliche und unwillkürliche Verknüpfung derselben untereinander bezieht.  Namentlich bezeichnet Phantasie die Fähigkeit, die Vorstellungen in ganz neue Verbindngen treten zu lassen und so schöpferisch tätig zu sein. (…)“

FAZIT: Für jeden, dem daran liegt, sich präzise auszudrücken, ist das Handlexikon ein perfektes Hilfsmittel, in unseren Tagen genauso wie vor hundert Jahren. Und: auch zweckfrei und ziellos (siehe oben) eine bereichernde Lektüre. Im Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher (ZVAB) lassen sich Exemplare unschwer und zu einem guten Preis beschaffen.