Exegese, Predigt und Katholiken – eine ernüchternde Bilanz


Ernüchternd ist es, in unseren Tagen als Philologe und Christ einen Blick zu werfen auf den Umgang deutscher Katholiken mit der Heiligen Schrift.

Natürlich wird an den Universitäten nach wie vor Exegese praktiziert, aber große Meister wie Josef Ratzinger, Klaus Berger, Karl Jaroš, Marius Reiser – sie sind nicht (mehr) repräsentativ für den Umgang mit der Heiligen Schrift in katholischen Kreisen. Weder im universitären noch im realen Leben, etwa in der sonntäglichen Predigt. Vorbei die Zeiten, als ein Josef Ratzinger mit seinem mehrbändigen Jesus-Werk, einem Bestseller, weit in Kirche und Gesellschaft hinausstrahlte.

Was katholische Predigten betrifft, so zeigen mir Gespräche, dass ich keineswegs allein stehe mit dem Eindruck, dass sie kaum jemals Neues, Präzises, Originelles zu biblischen Texten enthalten, dass „denen dazu nichts einfällt“.

Alle E-Mail-Rückmeldungen, Einladungen zu Vorträgen oder zu (zwei) Interviews, Rezensionen in theologischen Fachzeitschriften, die ich nach meiner eigenen Buch-Veröffentlichung über Lukas und die Apostelgeschichte erhalten habe, stammen von Protestantinnen und Protestanten, aus protestantischen Lesekreisen und Gemeinden,(1) und ich möchte hier nicht nur allen danken, sondern geloben, wie bisher jede Zuschrift zu beantworten.

Drei ganz unangenehme und verfehlte Formen des Predigt-Umgangs mit der Heiligen Schrift haben sich eingeschlichen.

Zum einen die kommentarlose Ignorierung der – häufig langen und schwierigen – Lesungen aus dem Alten Testament, die kurz zuvor im Gottesdienst vorgetragen wurden wie eine Pflichtübung.

Zweitens, das Gegenteil: das paraphrasierende Plattwalzen von Texten, die bereits aus sich selbst heraus ALLES sagen, und zwar unnachahmlich pointiert. Paradebeispiele sind die Geschichte vom Samariter und die vom Gang nach Emmaus. Da wäre es besser, nach der Verlesung des Evangeliums zwei Minuten der Stille verstreichen zu lassen und sich dann an die Gemeinde zu wenden mit den Worten: „Liebe Gemeindemitglieder, Sie haben es gehört. NICHTS gilt es, hinzuzufügen. Lassen Sie uns Fürbitte halten.“ (Stattdessen das Übliche: „Stellen wir uns vor: Da sind zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Sie sprechen über …“).

Drittens: das gebetsmühlenartigen Wiederholen bestimmter spezifischer Formulierungen und zum Teil fragwürdiger Übersetzungs-Wendungen, ohne den Versuch der Problematisierung und Klärung.

Was heißt denn „Gott schaut NICHT auf die ,Person'“? Der Philosoph Robert Spaemann hat dazu geschrieben: Gott schaut GERADE auf die Person, NUR auf die Person! Was heißt „Sie erkannten ihn am Brotbrechen“? Was exakt war denn da der Grund für dieses Erkennen? Handelte es sich bei diesem Brotbrechen um ein übliches Mahl oder um die Eucharistie? Oder: Wieso kommt da eigentlich einer auf die Idee, „drei HÜTTEN“ zu bauen (statt zum Beispiel ein gemeinsames Zelt zu errichten)? Oder: Steht er im Original wirklich da, dieser trivial-prosaische Beginn der Weihnachtsgeschichte mit dem Hinweis ausgerechnet auf … die Steuererklärung? Auf „die Bewohner des römischen Reiches“, die sich „in Steuerlisten einzutragen“ hatten? Ein feinsinniger Stilist, der Evangelist Lukas, soll derartig danebengegriffen haben, an einer so wichtigen Stelle?

Von derlei ist nie die Rede, es bleibt ungeklärt, da gar nicht als Problem erkannt, und da liegt der Grund, dass dieser graue Predigtbrei auch keine oder nur geringe Spuren im Gedächtnis hinterlässt. Natürlich ist alles Dozieren über irgendwelche philologische Spitzfindeleien in der Predigt zu meiden, aber es hat sich eine Unkultur des ANDEREN Extrems breitgemacht. Ein joviales Über-den-Text-hinweg-Predigen und, als Resultat, eine erstarrte, bloße Hinnahme des Textes auf der Seite der Zuhörer.

Und: Dieselben Prediger, denen dazu wenig einfällt, sind oft Zeitgeist-Surfer. Dann wandeln sie sich, wenn es nottut, in wundersamer Weise mit einem Schlag in die größten Bibel-Spezialisten. Alle widerborstigen Passagen aus der Heiligen Schrift, so unterweisen sie uns im Brustton der Überzeugung, seien „zeitbedingt“ (=also obsolet) und könnten getrost beiseitegebürstet werden.

Von Fällen des Totalabsturzes dieses Prediger-Typus, hoch von der Kanzel tief hinab in den Blödsinn (à la „Gott ist gegen GRENZEN“, „Gott ist für VIELFALT“, „Vor allem EINS müssen wir Christen sein: TOLERANT!“) soll hier nichts Weiteres gesagt werden.

Genug; zwei Vergleiche, die nachdenklich stimmen könnten. Food for thought, wie die Engländer sagen.

Ein Schweizer des XVI. Jahrhunderts, Thomas Platter aus Basel, war Seiler. Er brachte sich nachts, beseelt von den Idealen der Reformation, im Eigenstudium Griechisch, Latein und Hebräisch bei, setzte unermüdlich seine Studien fort, vor und nach einem harten Arbeitstag, um dann seine Kenntnisse an andere leidenschaftlich am Wort Gottes Interessierte weiterzugeben. Ein Arbeiter aus dem Wallis „mit schwieligen, oft von der Arbeit blutigen Händen“, wie wir in Lucien Febvres Renaissance-Buch Der neugierige Blick lesen.

Eine französischen Ordensschwester, Sœur Jeanne d’Arc, o. p., J., hat eine kommentierte Übersetzung der vier Evangelien vorgelegt, Les Évangiles. Les quatre. Paris 2011 (1992). Der Kommentar ist in höchstem Maße informativ, man kann dort tausend Entdeckungen machen, originelle, teils überraschende Erläuterungen, Feinheiten und Präzisierungen zu allen möglichen Versen. Und nicht einer von solchen Farbtupfern kam je in meiner Gegenwart in einer Sonntagspredigt vor.

Hier ist, was die Autorin zu Matthäus 5,13 mitteilt, zu dem Vers „Ihr seid das Salz der Erde.“ Sie übersetzt: „Vous, vous êtes le sel de la terre. Sie fährt fort: „Si le sel devient fou, avec quoi le saler?“ Fou (=töricht), nicht „si le sel devient fade“. Sie erläutert, dass in der Sprache Jesu, im Aramäischen, für „schal/fade werden“ und „töricht werden“ dasselbe Verb verwendet wird, genau wie im Griechischen (μωραίνoμαι).

Bei Markus (9,50) wird das Salz an-halos (ἄναλος), also zu etwas, was gar kein Salz mehr ist. Matthäus dagegen wählt das doppeldeutige Verb μωραίνoμαι.  Er will den Doppelsinn, um sowohl auf Salz (sel) also auch auf Weisheit (sagesse) anzuspielen.

Festzuhalten bleibt: Da, wo das Wort Gottes nicht zugleich akkurat, lebendig und in seiner kräftigen Würze weitergegeben wird, da breiten sich Fadheit und Dumpfsinn aus.

(1) Diese Aussage umfasst nicht die Rezension des Philologen Fabian Weimer in FORVM CLASSICVM und die Video-Rezension der katholischen Theologin Frau Dr. Margarete Strauss auf You-Tube.

 

 

 

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