„Mit gelassener Selbstverständlichkeit“ – Frank-Walter Steinmeiers ,WIR‘

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat im Frühjahr dieses Jahres ein Buch mit dem Titel ,Wir‘ vorgelegt, das ich bestellt und gelesen habe, denn ich finde es anerkennenswert, dass er sich in kohärenter Form zu Deutschland äußert. Er legt seine Bestandsaufnahme zum Deutschland des Jahres 2024 und seine Zukunftsvision für das Land vor.

Man darf davon ausgehen, dass seine Ausführungen repräsentativ sind für das Deutschlandkonzept des politischen Mainstreams, denn er ist ja zweimal, 2017 und 2022, mit breiter Unterstützung, auch durch die CDU, ins Amt gewählt worden. Irgendwelche Rezensionen oder Kommentare zu diesem Buch habe ich absichtlich nicht gelesen. Ich habe sie gemieden, um mir selbst einen Eindruck zu verschaffen.

Vier Teile umfasst das 142-seitige Buch: Die Einleitung („Die Möglichkeit, wir zu sagen“) sowie die drei Kapitel „Wo wir stehen“, „Woher wir kommen“, „Wer wir sind – und sein können“.

Schnell macht Steinmeier klar: Dieses ,WIR‘ meint nicht etwa ein spezifisch deutsches Nationalgefühl, verbunden mit dem Stolz auf die Errungenschaften deutscher Kultur. Deutschland ist eine Fläche; jeder, der kommt und den deutschen Pass erhält, ist Deutscher. Insofern ist auch nicht wirklich von Integration die Rede: Zuwanderung ist ein Vorgang der Addition. Jetzt leben n Einwohner hier, wer dazukommt, ist n plus 1. Die Deutschen des Jahres 2024 sind eine Ansammlung von Menschen „aus allen Himmelsrichtungen“ (S.137), völlig unterschiedlich nach „Ethnie, Religion und Kultur“ (ebd.). Deutsche Tradition und Geschichte kann ihnen daher gestohlen bleiben – mit einer einzigen Ausnahme: Nazizeit/Weltkrieg/Holocaust.

Der kleinste gemeinsame Nenner, die Respektierung der gesetzlichen Regelungen, hat daher an die Stelle von Patriotismus zu treten: die Zustimmung „zu den Regeln, die wir uns in demokratischen Verfahren geben und die allen die gleichen Bedingungen zur freien Entfaltung garantieren. Aus diesem Bewusstsein kann eine neue Art von demokratischem Patriotismus entstehen.“ (S. 137).

Im zweiten Kapitel zeichnet der Verfasser ein negatives Bild der neueren deutschen Geschichte. Auffällig: Steinmeiers Porträt des Kaiserreichs als einer Epoche völliger Finsternis –  jener Epoche immerhin, als Deutschland, hochgeachtet in der ganzen Welt, weltführend in allen Wissenschaften war, Modell in Sachen Sozialgesetzgebung und Gesundheitsfürsorge.

Vor die düstere historische Kulisse stellt er die zeitlich schmale Folie des Positiven: Gründung der BRD, westdeutsche Demokratie, Ostpolitik Willy Brandts, Wende 1989. Aber auch im Rahmen dieser Bilanz weist er immer wieder auf Gewalttaten hin – ausschließlich auf solche begangen AN Muslims, nicht von ihnen.

Die Probleme, mit denen sich Deutschland in den letzten Jahren konfrontiert sieht, sind nach Steinmeier entweder Sachzwänge von außen (Klimawandel, Migration, Corona, Putins Krieg in der Ukraine, S. 27ff.) oder – sie existieren für ihn gar nicht. Wer etwa einen argumentativen Beitrag zu der Frage erwartet, inwiefern die Staats-Religion per definitionem Islam wirklich in eine westliche Demokratie integrierbar ist, sieht sich enttäuscht. Fehlanzeige auch im Hinblick auf Selbstkritisches zur Russland-Politik der Regierung Merkel, der er ja angehörte – und zwar als Außenminister!

Zufrieden bemerkt Steinmeier, der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie habe endlich die „harten Polizeieinsätze“ (S.87f.) gegen Demonstranten, einen „schweren Konflikt“ in der Gesellschaft überwunden. Dass der Ausstieg ein internationaler Alleingang war, der im Ausland allenthalben Kopfschütteln hervorrief und auch in Deutschland ― außerhalb dieses Buches, im Realen ―  umstritten bleibt, lässt er unerwähnt. Auch in die Hymne auf Angela Merkel und ihren Regierungsstil „gelassener Selbstverständlichkeit“ (S.86) wird nicht jeder ohne Weiteres einstimmen.

Stilistisch ist das Buch glanzlos: gehalten in der inzwischen allgegenwärtigen öffentlich-rechtlich-zertifiziert-politisch-korrekten Standard-Diktion. Selbstverständlich fehlt jedwede Form von (Selbst-)Ironie und Humor, wie üblich scheppern bleierne Dopplungen à la „Bürgerinnen und Bürger“, „Managerinnen und Manager“ über die Seiten. Manche Begriffe sind mehr oder weniger subtil im Sinne der herrschenden Agenda umgedeutet, zum Beispiel „rechts“=rechtsextrem (S.41), die EU=,Europa‘.

Das Steinmeiersche WIR ist einfach zu definieren: Jeder, der die rot-grüne Dogmatik teilt. Wer diese Definition unterschreibt, wird, wenn Formen „politisch korrekter“ Knebelung der Meinungsfreiheit auf Kritik stoßen, entrüstet dagegenhalten: Was? Wie bitte? Bei UNS herrscht doch lupenreine Meinungsfreiheit: alle, wirklich alle, können sagen, was ihnen in den Sinn kommt!

Es fehlt irgendein substanzielles Dialogangebot an die Zahlreichen, die Zahlreiches kritisch sehen: etwa die mit der Brechstange dirigistisch durchgesetzte Energiewende und Ent-Industrialisierung, die unkontrollierte Massenimmigration mit dem dadurch verursachten massiven Niedergang der Sicherheit, die Nicht-Abschiebung von Messerstechern und potentiellen Gewalttätern, die Auswüchse der Bürokratenherrschaft der EU. Auf derlei geht er nicht näher ein. Ein paar globale Formulierungen, und dabei bleibt’s. Was Steinmeier etwa mit „bestmöglicher Steuerung“ der Migration“ (S. 35) meint, bleibt sein Geheimnis. In diesem Sinne: „Unsere Aufgabe ist es, Brücken in die Zukunft zu bauen, die so breit und stark sind, dass möglichst alle über sie gehen können.“ (S. 129).

Eine unmissverständliche Ansage hat Steinmeier allerdings parat für diejenigen, die die rot-grüne Standard-Agenda nicht teilen: WIR, so postuliert er, brauchen eine „durchgriffsschärfere Regulierung der sozialen Medien“ (S. 45).

Bemerkenswert ist nicht nur die Forderung nach ,Regulierung‘ von Freiheit. Sondern da ist auch dieses Adjektiv: ,durchgriffsscharf‘, und zwar im Komparativ. Es war mir unbekannt. Und: Es fiel mir als Philologen auch deshalb auf, weil es auf einmal jäh, kalkuliert bedrohlich hervorsticht aus Steinmeiers fadem Stilbrei.

Auf Kirchen- und Katholikentagen schreitet die herrschende rot-grüne Dogmatik, gütig lächelnd, im liturgischen Gewand daher. Hier wird sie präsidial verkündet, gewissermaßen ex cathedra.

Frank-Walter Steinmeier, Wir, Berlin (Suhrkamp) 2024, 142 S.