Christliche Staatskunst nach römischem Vorbild – Baltasar Graciáns Werk El político don Fernando und das Breviarium Politicorum Mazarins
von Christoph Wurm – Dieser Aufsatz wurde erstmalig veröffentlicht im Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbands, Landesverband Nordrhein-Westfalen, Heft 1/2013, S. 16 – 27.
Der spanische Jesuit, Prediger, Philosoph, Schriftsteller, Lateinlehrer BALTASAR GRACIÁN (1601 – 1658) ist in Deutschland vor allem durch ein einziges seiner Werke bekannt, durch den von SCHOPENHAUER kongenial übersetzten Band Oráculo manual y arte de prudencia (Handorakel und Kunst der Weltklugheit), eine Sammlung dreihundert geschliffener Aphorismen, die sich rasch in ganz Europa verbreitete und – sogar mehrfach – auch ins Lateinische übersetzt wurde (1).
Die Veröffentlichung seines ehrgeizigsten und umfangreichsten Werks, des allegorischen Romans El Criticón (Der Nörgler), brachte ihn in Konflikt mit seinem Orden. Auf dem Gipfel seines Ruhms wurde er bei Wasser und Brot in karger Mönchszelle eingeschlossen – er hatte das Buch ohne die Genehmigung seiner Vorgesetzten veröffentlicht.
Zu seinen hierzulande kaum bekannten Schriften gehört der Traktat El Pólitico don Fernando (1640) (2), ein Werk, das wie sein Oráculo manual Verhaltensmaximen liefert, und zwar für den Bereich der Politik. Als Vorbilder für seinen Stil – nicht für sein Sujet, wie er betont – bezeichnet er TACITUS und den französischen Historiker flämischer Herkunft PHILIPPE DE COMMYNES (1445 oder 1447 – 1511) (S.49).
Den idealen Politiker will er porträtieren, und Gracián ist sich sicher, ihn in einem der Protagonisten der spanischen Geschichte gefunden zu haben, in seinem aragonesischen Landsmann FERDINAND (FERNANDO) II. (1452 – 1516). Zu Anfang dieses Werkes nennt er ihn „jenen großen Meister der Kunst, zu herrschen, das größte Orakel der Staatsräson (el oráculo mayor de la razón de Estado)“ (S. 49). Wegen des
zeitlichen Abstandes zu seinem Helden treffe ihn nicht der Vorwurf der Schmeichelei (S. 49). Sein Ziel sei keine Verherrlichung im Stile der Kyropädie XENOPHONS (S. 50), er beschreibe einen Menschen aus Fleisch und Blut, keine literarisch überhöhte Gestalt. Eine Abgrenzung, die sich bei der Lektüre als bloße Stilfigur herausstellt: Mehr rühmende Epitheta auf einen einzigen Herrscher zu häufen scheint unmöglich.
Ferdinand II. von Aragón einte zusammen mit seiner Cousine und Ehefrau ISABELLA (ISABEL) VON KASTILIEN Spanien, beendete durch die Eroberung des Emirats Granada am 2. Januar 1492 die Araberzeit in Spanien und förderte die Indienfahrt des Kolumbus, die am 12. Oktober desselben Jahres endete – in Amerika. Er war – so Gracián in seiner Schrift El Héroe – der letzte König von Aragón, der erste des Nuevo Mundo (S. 10).
Durch die Heirat ihrer Tochter JOHANNA mit PHILIPP DEM SCHÖNEN 1496 gelang die
entscheidende Allianz mit dem Hause Habsburg.
Ferdinand und Isabella gingen als die Katholischen Könige, Reyes Católicos, in die Weltgeschichte ein. Schon MACHIAVELLI hatte sich im Principe rühmend über seinen Zeitgenossen Ferdinand geäußert, er ist Protagonist des 21. Kapitels, das den Titel QUOD PRINCIPEM DECEAT UT EGREGIUS HABEATUR trägt (3). Gracián würdigt, dass der Gründer des größten Weltreichs die geographisch, sprachlich, kulturell ungünstigsten, weil in jeder Hinsicht heterogenen Bedingungen vorgefunden und überwunden habe. Diese singuläre Leistung lasse den Rückschluss zu, sie könne nur vom größten König vollbracht worden sein:
Fundó Fernando la mayor monarquía hasta hoy en religión, gobierno, valor, estados y riqueza; luego fue el mayor rey hasta hoy. (S. 49).
„Fernando gründete die bis heute größte Monarchie im Hinblick auf Religion, Regierung, Tapferkeit, Staaten und Reichtümer; also war er der größte König bis heute.“
Isabella von Kastilien wird von Gracián lobend, aber beiläufig erwähnt. In Machiavellis Principe genauso wie in den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio bleibt sie ganz unerwähnt. Ihr Ehemann vereinte – so Gracián – alle entscheidenden Eigenschaften eines guten Politikers in sich und könne daher als Vorbild für alle Könige dienen. Eine Intention des Werkes war die implizite Kritik am keinesfalls idealen spanischen König der eigenen Zeit, PHILIPP IV. (1605 – 1665), (4).
Gracián vergleicht die Charakterzüge und Verhaltensweisen seines Helden mit denen hunderter anderer historischer Monarchen und legt dabei stupende Detailkenntnisse auch der außereuropäischen – etwa chinesischen – Geschichte an den Tag. Den Kernbereich seiner Beispiele bildet jedoch der Vergleich zwischen Spanien und dem antiken Rom, so wie für ihn – wie er in einem anderen Werk, El discreto (Der Gescheite), ausführt – Latein und Spanisch die einzigen beiden universalen Sprachen, die Schlüssel zur Welt sind (Kap. 25, S. 180). Er will Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden bedeutendsten Reichen herausarbeiten, im Sinne eines Überbietungsvergleiches zugunsten seiner Heimat.
Für Gracián ist die Antike Gegenwart. Alle ihre berühmten Beispiele menschlichen Verhaltens, abschreckende wie vorbildliche, formen ein zeitloses, dauerhaft präsentes Bezugs- und Koordinatensystem, in das sich zeitgenössische Politiker einordnen lassen müssen. In seinem Werk El discreto spricht er von der antigüedad presente (Kap. 25, S. 180). Ernst Robert Curtius schreibt (5), Gracián betrachte auch „die Weltliteratur von Homer bis zur Gegenwart mit demselben zeitlosen Universalismus wie Calderón die Weltgeschichte von Semiramis bis zur Belagerung von Breda“. Für einen anderen spanischen Dichter, SANTILLANA (1398 – 1458), habe „die mittelalterliche Auffassung der auctores“ gegolten: „alle sind gleich gut, alle sind zeit- und geschichtslos.“
Lapidarisch heisst es in El político: „Berühmte Menschen sterben nie.“ (S. 88).
Alle großen Leistungen misst Gracián daher an der Antike. So nennt er etwa in seinem Traktat El héroe (S. 24) den Eroberer des Aztekenreiches HERNÁN CORTÉS den spanischen Alexander (Alejandro español) und den indischen Caesar (César indiano).
Um zu belegen, dass Ferdinand den richtigen Mittelweg zwischen Reisen in seinen Besitztümern und Präsenz bei Hof gefunden habe, schreibt er, Ferdinand sei nicht in das erste Extrem verfallen wie HADRIAN und auch nicht in das andere, wie GALIENUS (S.80).
Die einprägsamen antiken Exempla sind die Quellen, aus denen der Autor schöpft, und verhindern, dass sich das Werk ins rein Theoretische verflüchtigt.
Die vier zentralen Persönlichkeiten der Römer und Bezugspunkte seiner Darstellung sind für ihn ROMULUS, CAESAR, AUGUSTUS und TRAJAN. Wie Ferdinand gründeten und festigten sie ein Reich, im Gegensatz etwa zu ALEXANDER DEM GROSSEN, der seine Herrschaft ungefestigt hinterlassen habe. Nach Gracián bündelte jeder dieser vier Römer bestimmte staatstragende Eigenschaften in sich; Ferdinand – so Gracián – vereinigte alle ihre Qualitäten und wurde so zum idealen Politiker. Er ist derjenige König, der das spanische Weltreich schuf und sicherte, deshalb überragt er für Gracián sogar den von ihm hochgerühmten KARL V. (KARL I. von Spanien) und seinen Sohn PHILIPP II.
Ferdinand war Gründer des Reiches und verlieh ihm auch Dauer, tat also das, was die ersten sechs römischen Könige zusammen leisteten (S. 87). Die Könige vor TARQUINIUS SUPERBUS hätten – als Ensemble – in vorbildlicher Weise die Grundlagen für das römische Weltreich gelegt (S. 86f.). In einem Schnelldurchgang durch das erste Buch von AB URBE CONDITA legt Gracián dar, jeder von ihnen habe einen Baustein zu Roms starkem Fundament beigesteuert: Gründung durch ROMULUS, Religionsstiftung (NUMA POMPILIUS), Schaffung der Armee (TULLUS HOSTILIUS), Bautätigkeit und Koloniengründung (ANCUS MARCIUS), Gesetzgebung (TARQUINIUS PRISCUS), Ordnung der Finanzen (SERVIUS). Alle diese Grundsteine habe Ferdinand alleine gelegt. Im
Unterschied zu Numa Pompilius, der die falsche – aber politisch nützliche – römische Religion begründet habe, habe Ferdinand durch die Einrichtung der Inquisition und die Vertreibung von Mauren und Juden Spanien zu einer wahrhaft christlichen Nation gemacht. (S. 86f.) Von vierzig Herrschaftsjahren habe er nicht ein einziges verschwendet und mehr geleistet als vierzig Könige zusammen (S. 74), ein deutlich vernehmbares Echo der Würdigung des Servius Tullius durch LIVIUS (I, 48, 8):
Ser. Tullius regnavit annos quattuor et quadraginta ita, ut bono etiam moderatoque succedenti regi difficilis aemulatio esset. Ceterum id quoque ad gloriam accessit, quod cum illo simul iusta ac legitima regna occiderunt.
Im Gegensatz zu Machiavelli ist für Gracián der ideale Staatsmann nicht skrupellos. Sorgfältig unterscheidet Gracián zwischen dem princeps astutus und dem princeps
sagax , zwischen astutia und sagacitas. Scharfsinnig, sagax, soll der vorbildliche Politiker sein, nicht verschlagen; mit den Worten eines anderen spanischen Autoren, der bereits zuvor, 1616, über die Kunst der Königsherrschaft geschrieben hatte, MATEO LÓPEZ BRAVO (6): „sagax, aequus et vigilans“.
Machiavelli rühmt im Principe Ferdinands Schläue und strategische Versiertheit. Gracián hält dagegen; mancher mag dieser Stimme aus dem siebzehnten Jahrhundert
eine gewisse Relevanz für unsere eigenen Tage zubilligen:
Vulgar agravio es de la política el confundirla con la astucia: no tienen algunos por sabio sino al engañoso, y por más sabio al que más bien supo fingir, dismular, engañar, no advirtiendo que el castigo de los tales fue siempre perecer en el engaño.
„Eine vulgäre Beleidigung der Politik ist, sie mit Schlauheit (astucia) zu verwechseln. Einige (Autoren) halten nur den Betrüger für weise, und für noch weiser einen, der noch besser zu lügen, sich zu verstellen und zu betrügen verstand, – ohne zu bemerken, dass die Strafe dieser Schlaumeier noch immer darin bestanden hat, an ihrem eigenen Betrug zugrunde zu gehen.“
Der ideale König ist von der göttlichen Vorsehung eingesetzt. Sie sorgt dafür, dass der richtige Mann am richtigen Ort ist. Er ist weise, besitzt Augenmaß, ist tatkräftig und moralisch integer, was nicht die Künste der Diplomatie ausschließt. Er lässt sich durch nichts von seinen Pflichten als Regent ablenken. Mit seinen finanziellen Mitteln geht er vorsichtig um, der Einsatz kriegerischer Mittel ist für ihn prinzipiell nie Selbstzweck: „Die königliche Meisterschaft liegt nicht im Kämpfen, sondern im Regieren“. (S.64).
Grundlage seines Handelns ist seine capacidad, seine Geisteskraft, die nach Gracián aus zwei Fähigkeiten besteht: aus rascher Auffassungsgabe und Reife im Urteil. (S. 71 f.).
Un príncipe comprensivo, un Casimiro el Grande de Polonia, digo, está en todos los puntos en uno. Hacíase señor de todo por la noticia para serlo por la potencia. Matriculó primero Augusto todo su imperio en la cabeza, y después lo tuvo en el puño.“ (S. 72)
„Ein alles begreifender Fürst, ein Kasimir der Große von Polen meine ich, ist zwar an einem einzigen Ort, aber überall zugleich. Alles beherrscht er zunächst in seinem Bewusstsein, dann durch seine reale Macht. Erst schrieb Augustus sein ganzes Reich in seinen Geist ein – und dann hielt er es in der Faust.“
Nicht nur von der Skrupellosigkeit des Politikers à la Machiavelli grenzt Gracián seinen Staatsmann ab, sondern auch von dem Ideal stoischer ἀταραξία. Der Politiker soll empfindsam (sensible) und leidenschaftlich sein, (mit)leiden, wenn sein Land und er von Rückschlägen getroffen werden. Als vorbildlich für alle Herrscher nennt Gracián das Verhalten des Augustus nach der Niederlage im Teutoburger Wald. Hier flicht er in seinen Traktat dramatisierend eine narrative Passage ein: die Stelle aus der Augustusvita SUETONS (Kap. 23, 2):
Adeo denique consternatum ferunt, ut per continuos menses barba capilloque summisso caput interdum foribus illideret vociferans: ‚Quintili Vare, legiones redde!’ Diemque cladis quotannis maestum habuerit ac lugubrem.
Magnánimo fue Augusto, cuyo nombre es timbre de su corazón; con todo eso, sintió tanto el degüello de las romanas legiones en Germania, que hería el suelo con los pies y las paredes con la cabeza, y llegó a dar voces, repitiendo: „¿Qué hiciste de mis legiones, Quintilio Varo? Vuélveme mis soldados valerosos. ¿Qué cuenta has dado de tanto y tan esforzado capitán?“ No se le vio reir en meses, ni comer en días. Ésta sí que es verdadera política, y no contraria a la majestad.“ (S.73)
„Erhaben war Augustus, dessen Name ein Glockenklang seines Herzens ist, und doch litt er so unter dem Massaker an den römischen Legionen in Germanien, dass er den Boden mit den Füßen stampfte und den Kopf gegen die Wand schlug und schließlich wiederholt rief: „Was hast du mit meinen Legionen gemacht, Quintilius Varus? Gib’ mir meine tapferen Soldaten wieder. Von welch großem Verlust musstest du mir da berichten, du, ein so mutiger Heerführer?“ Monatelang sah man ihn nicht lachen, tagelang nicht essen. Das ist wirklich wahre Politik und keinesfalls mit Majestät unvereinbar.“
Ferdinand sei in eine Epoche großer Politiker hineingeboren worden, mit denen er erfolgreich wettgeeifert habe (S. 68):
Contemporizó Fernando con la política de un Luis XI, con la prudencia de un primer Maximiliano, con la sagacidad de un Alexandro VI, con la astucia de un Ludovico Moro; dioles por su comer a cada uno, y alzose al cabo con la ganancia.
„Ferdinand passte sich der Politik Ludwigs XI. von Frankreich, der Klugheit Maximilians I., dem Scharfsinn Papst Alexanders VI, der Schläue Ludovico Sforzas an, einem jedem von ihnen gab er zu essen – und erhob sich zuletzt mit dem Gewinn von der Tafel.“
Argos und Janus in einer Person sei der gute Herrscher, so Gracián in der Passage des Werkes, die sich am stärksten den Vorstellungen Machiavellis (7) nähert (S.72):
Un príncipe sagaz, Argos real que todo lo previene. Émulo de Jano, que mira a dos haces, de fondo inapeable, con más ensenadas que un océano. Los propios le recelan, los extraños le temen y todos le atienden, porque a todos entiende.
„Ein scharfsinniger Fürst: ein königlicher Argos, der alles vorhersieht. Er ahmt Janus nach, der mit zwei Gesichtern schaut, ist von unergründlicher Tiefe, mit mehr Buchten als ein Ozean. Die eigenen Leute misstrauen ihm, die Ausländer fürchten ihn und alle achten auf ihn (atienden), weil er alle versteht (entiende).“
Neben den Lehren Machiavellis stehen diese Worte auch dem Breviarium politicorum (1684) nahe, einer anonymen Schrift auf Latein (8). Sie gibt sich als Sammlung der politischen Maximen des Kardinales JULES MAZARIN (1602 – 1661) aus und knüpft unmittelbar an Gracián an. Der Hauptteil des Werkes besteht wie Graciáns Handorakel aus einer Abfolge kurz erläuterter praktischer Ratschläge zur Lebensführung. Auch hier stehen Selbstdisziplin und Vorsicht im Mittelpunkt. Wie der Político Fernando behandelt die Schrift die Sphäre des Politischen.
Die Intention des Breviarium hat jedoch kaum etwas mit den Schriften Graciáns gemein. Es richtet sich nicht – wie der político Fernando – an den Princeps, sondern die politici sind seine Höflinge, Vasallen und Diplomaten. Ihnen erteilt der Verfasser – moralisch unbekümmert – eine umfassende Verhaltenslektion. Er empfiehlt ihnen vor allem ein Höchstmaß an Vorsicht und Tarnung. Die Grundlage des Werks ist die alle Ratschläge bestimmende Furcht des Höflings vor dem Verlust seiner Stellung. Es ist daher verfehlt, das Breviarium als Satire zu lesen. Die Detailkenntnis der politisch-diplomatischen Gepflogenheiten weist den Verfasser als Kenner des Lebens bei Hofe aus, der alles aus der unmittelbaren Anschauung des politischen und diplomatischen Spiels schöpft. Historische Beispiele sind daher im Breviarium rar. Es entstammt einer Welt der Intrigen, in der jeder die eigene Haut zu retten versucht, um, wenn möglich, die eigene Machtposition zu festigen oder auszubauen. Es gilt, Gegner gegen einander auszuspielen und keinen Augenblick auf Wachsamkeit und Misstrauen zu verzichten (S. 81f.):
Nullum secretum concede, quia nullus est, qui post horam hostis fieri non possit. (…) In quantacunque amicitia, cogita odium; in fortuna adversitatem.
Der Politiker soll jede bindende Zusage meiden:
In contractibus tibi onerosis appone conditiones indeterminatas, quae latius et strictius possint explicari (…). (S. 107).
Eine große Rolle spielen auch Tarnung und Chiffrierung brieflicher Mitteilungen. Um
seine prekäre, stets bedrohte Lage zu schützen soll der Höfling – so ,Mazarin’ – stets die eigenen Absichten verbergen. Das Breviarium liefert daher eine Fülle von krass realistischen Ratschlägen, die bis in die Einzelheiten der perfekten Kontrolle von Gestik und Mimik gehen. Verdächtigungen gilt es bedenkenlos von der eigenen Person auf andere abzulenken. Mit dem Ethos Graciáns oder BALDASSARE CASTIGLIONES (1478 – 1529), der uns im Ideal des Hofmanns das Urbild des well-rounded gentleman vermittelt hat, sind derartige Maßgaben nicht vereinbar.
Eine Qualität des modernen Politikers, die Rhetorik, lässt Gracián völlig unerwähnt, daher fallen auch die Namen DEMOSTHENES’ und CICEROS an keiner Stelle des Traktats. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass der Politiker absoluter Monarch ist: um Konsens zu buhlen, hat er nicht nötig. Nachdem Gracián die für einen guten Herrscher unverzichtbaren Eigenschaften erläutert hat, schreibt er zusammenfassend:
Este príncipe comprensivo, prudente, sagaz, penetrante, vivo, atento, sensible y, en una palabra, sabio, fue el Católico Fernando, el rey de mayor capacidad que ha habido, calificada con los hechos, ejercitada en tantas ocasiones; fue útil su saber, y, aunque le sobró valor, jugó de maña. (S. 73f.)
„So ein umfassend begreifender, kluger, scharfsinniger, tiefblickender, über alles informierter, hellwacher, empfindsamer, in einem einzigen Wort weiser Fürst war Ferdinand der Katholische, der König mit der größten Geisteskraft, die es jemals gegeben hat, ausgewiesen durch ihre Taten, bei so vielen Gelegenheiten erprobt; seine Weisheit war nützlich, und, obwohl er mehr als tapfer war, handelte er geschickt.“
Die Doppelbödigkeit dieser Passage enthüllt sich erst durch den Vergleich mit dem ernüchternden Bild des realen spanischen Königs zur Zeit Graciáns, mit dem von seinen Beratern beherrschten Philipp IV., unter dem sich der Niedergang der politischen Macht Spaniens fortsetzte: „Er war ein Theater-, Weiber-, Jagd- und Maler-König. Nie wieder wurde im Theatersaal des alten Madrider Alcázar, auf Bühne und Teich des Buen Retiro soviel Komödie gespielt als unter seinem fröhlichen Zepter.“ (9) Man vergleiche die Worte Graciáns: „Anfangs blühen Sorgfalt und Tapferkeit, dann tritt Selbstgewissheit ein, dann Nachlässigkeit, dann verderben Vergnügungen (las delicias) alles (S. 59)“.
In einer sarkastischen Passage, die offensichtlich dem gestrengen Blick des inquisitorischen Zensors entkam, rühmt Gracián an seinem König weniger diesem selbst zukommende Qualitäten als die Beschäftigung eines ‚Erzministers’ (archiministro), des CONDE-DUQUE DE OLIVARES (1587 – 1645): Philipp erscheint – und das zur Zeit von Aufständen in Katalonien und in Portugal (10) – als ein König, der nicht herrscht, sondern herrschen lässt (S. 83f.):
Y el gran Felipe IV de las Españas (…) ha tenido un ministro, digo, un archiministro: el Excelentísimo señor don Gaspar de Guzmán, Conde-Duque de Olivares, eminente en todo, Ministro Grande del Monarca Grande. Verdaderamente gigante de cien brazos, de cien entendimientos, de cien prudencias. Que sin duda previno el Cielo para los mayores riesgos de esta Católica Monarquía los mayores hombres.
„Und dem großen Philipp IV. von Spanien (…) ist ein Minister zuteilgeworden, was sage ich, ein Erzminister: der Allervortrefflichste Herr Gaspar de Guzmán, der Erzherzog von Olivares, hervorragend in allem, Großminister des Großherrschers, ein wahrer Gigant von hundert Armen, hundertmal Verstand, hundertmal Klugheit! Ohne Zweifel hat der Himmel gegen die größten Gefahren für diese Katholische Monarchie die besten Männer
bereitgestellt.“
Dann fügt er hinzu:
Y el conjurarse el mundo entero contra ella no ha sido sino para que las reales y ducales prendas saliesen a la luz universal de todo el orbe y de todos los siglos
„Und dass sich die ganze Welt gegen diese Monarchie verschworen hat, ist nur deshalb erfolgt, damit die herrlichen königlichen und herzoglichen Eigenschaften im universellen Licht des ganzen Erdkreises und aller Jahrhunderte aufscheinen.“
Diese dick aufgetragene Hyperbolik illustriert KARL VOSSLERS Wort vom „hintersinnigen “ Stil Graciáns. „Flüsternd und raunend“ – habe er seinen „kritischen Spott“ ertönen lassen (11). 1640, im Jahr der Veröffentlichung des Político, zerschellte die politische Einheit der Iberischen Halbinsel. Portugal beendete 60 Jahre spanischer Fremdherrschaft.
Leser unserer Tage mag das dem schwachen König Philipp IV. entgegengesetzte Porträt des von der Vorsehung berufenen absolutistischen Herrscher-Titans, des Magno del Orbe, wie Gracián ihn im Héroe nennt (S. 40), zunächst abstoßen. In einem Kommentar zu El político Fernando (12) heißt es:
Gouverner est un art secret dont l’ exercice nécessite une personne exceptionelle, c’est-à-dire à la fois singulière et semi divine – le héros.
„Regieren ist eine Geheimwissenschaft, deren Ausübung eine außergewöhnliche Persönlichkeit erfordert, das heißt sowohl einzigartig als auch halb göttlich – den Helden.“
Aber: die Menge an historischen Beispielen, die Gracián zusammengetragen hatte, diente zu Belehrung und Mahnung künftiger Herrscher – vor allem aber zur Kritik an der Pflichtvergessenheit des eigenen. Unbestreitbar ist auch, dass der von Gracián gefeierte kometenhafte Aufstieg Spaniens zu Nation und Weltmacht tatsächlich mit großem Geschick von den Katholischen Königen eingeleitet wurde, was in ganz Europa die Bewunderung politischer Köpfe erregte. Machiavelli (13):
Nessuna cosa fa tanto stimare uno principe, quanto fanno le grande imprese e dar di sé rari exempli. Noi abbiamo nelli nostri tempi Ferrando di Aragona, presente re di Spagna; costui si può chiamare quasi principe nuovo, perché d’uno re debole è diventato per fama e per gloria el primo re de’ Cristiani; e se considerrete le actioni sua, le troverrete tutte grandissime e qualcuna estraordinaria.
„Nichts bringt einem Fürsten soviel Ansehen ein wie große Unternehmungen und außergewöhnliche Beispiele der eigenen Tatkraft. Wir sehen dies in unseren Tagen an Ferdinand von Aragón, dem gegenwärtigen König von Spanien. Ihn kann man gleichsam einen neuen Fürsten nennen, weil er aus einem schwachen König zum ersten unter den christlichen Königen geworden ist; und wenn man seine Taten betrachtet, wird man sie alle sehr groß und manche außerordentlich finden.“
Im Político liefert Gracián eine Skizze des verantwortungsbewussten Staatsmanns. Gewonnen, destilliert hat er dieses Bild aus der gründlichen Beschäftigung mit den antiken Historikern.
(1) María Pilar Cuartero, „Oráculo manual y arte de prudencia“ in: Aurora Egido und María del Carmen Marín Pina, Baltasar Gracián: Estado de la cuestión y nuevas perspectivas, Zaragoza 2001, S. 89 – 102, hier: S. 89
(2) Alle Gracián-Zitate entstammen der Ausgabe Obras Completas, II, hrsg. von Emilio Blanco, Biblioteca Castro Turner, Madrid 1993
(3) Alle Zitate aus dem Principe nach der Ausgabe von Jean-Louis Fournel und Jean-Claude Zancarini De principatibus – Le Prince, Paris 2000
(4) Vgl. R. O. Jones, Historia de la literatura española 2 – Siglo de Oro: prosa y poesía,
4. Aufl. 1979, Barcelona, S. 295
(5) In: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Auflage, Tübingen und Basel 1993, S. 272
(6) Zitiert nach Ángel Ferrari, Fernando el Católico en Baltasar Gracián, Madrid, 2006,
(Neuauflage des Originals von 1945 durch die Real Academia de la Historia),
S. 146
(7) In seiner Studie Allegories of kingship: Calderón and the anti-Machiavellian tradition, Pennsylvania State University 1996, betont Stephen James Rupp, El Político Don Fernando weise eine „marked affinity with the Machiavellian politics of calculation“ auf, S. 173
(8) Breviarium Politicorum Secundum Rubricas Mazarinicas, multis locis auctius. 7. Auflage, Frankfurt 1697 (1684); die Orthographie ist von mir modernisiert.
(9) Ludwig Pfandl, Spanische Kultur und Sitte des 16. und 17. Jahrhunderts – Eine Einführung in die Blütezeit der spanischen Literatur und Kunst, München, 1924, S. 15
(10) Emilio Blanco in der Einleitung zu Baltasar Gracián – Obras Completas, s.o., Anm. (2), S. XX
(11) Poesie der Einsamkeit in Spanien, München, 1940, S. 336
(12) Stéphan Vaquero im Vorwort zu seiner Übersetzung Le Politique Ferdinand le
Catholique, Paris, 2010, S. 25
(13) Der italienische Text aus der unter (3) genannten Ausgabe, Kapitel XXI, 1 – 2.
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