Die Sprachen des Beda Venerabilis

von Christoph Wurm – Forum Classicum 04/2012

Vor ein paar Jahren beehrte sich die Londoner Traditionsbuchhandlung Foyles, „the world’s greatest bookshop“, Liebhabern antiker Literatur eine Aufmerksamkeit zu überreichen: ein ausfaltbares Plakat mit einer Zeitachse aller Titel der Loeb Classical Library, von ca. 700 v. Chr. (HOMER, HESIOD, ARCHILOCHOS, ALKMAN) bis ca. 500 n. Chr. (MUSAIOS, PROKOP, SIDONIUS, BOETHIUS). Als letzter Autor der ganzen timeline folgt mit deutlichem zeitlichen Abstand BEDA (ca. 700 n. Chr.).

Worauf gründet sich diese besondere Wertschätzung?

Beda (673/74 – 735), der den Ehrentitel Venerabilis erhielt, war die prägende Gestalt früher kirchenlateinischer Literatur. Er ist der Vater der englischen Geschichtsschreibung – und der einzige Engländer, dem DANTE einen Platz im Paradies zugesteht (1).

1899 wurde Beda von Papst LEO XIII. heiliggesprochen und – ebenfalls als einziger Engländer – in den Rang eines doctor ecclesiae erhoben.

Fast sein ganzes Leben verbrachte der Benediktiner im northumbrischen Kloster Jarrow (in der Nähe des heutigen Newcastle), einer wohlhabenden Abtei mit internationalen Kontakten. Durch ihn wurde sie zum kulturellen Zentrum Englands.

He never travelled farther than from Jarrow to York, but his mind travelled over all the studies then known, history, astronomy, saints’ lives and the lives of martyrs.

„Er reiste nie weiter als von Jarrow nach York, geistig jedoch bereiste er die ganze Wissenschaft seiner Zeit: Geschichte, Astronomie, Heiligenleben und Leben von Märtyrern.“ (2)

Er hinterließ ein enzyklopädisches Werk: Schulbücher, theologische Traktate, Heiligenviten, kosmographische Abhandlungen, eine Klostergeschichte und – wichtigstes Vorbild mittelalterlicher Geschichtsschreibung – seine 731 vollendete Historia ecclesiastica gentis Anglorum. Ihr fügt er im 24. Buch eine autobiographische Notiz sowie eine Übersicht über die eigenen Werke an; fast alles von dem Wenigen, was wir über Beda wissen, entstammt diesem Anhang.

Mit sieben Jahren trat er auf Veranlassung von Verwandten – vermutlich nach dem Tod der Eltern – in das Kloster ein, wo er sein ganzes Leben verbrachte; mit dreißig Jahren wurde er zum Priester geweiht. Späteren Generationen von Ordensleuten galt Beda als das ideale Vorbild unermüdlichen Bildungsdrangs. Als später ALKUIN VON YORK (735 – 804) erfährt, dass die Novizen des Klosters Lindisfarne ihre Zeit mit der Hasenjagd und dem Herausbuddeln von Füchsen aus ihren Löchern verbringen, hält er ihnen erzürnt das Beispiel Bedas entgegen, der sich von Kindesbeinen an der Gelehrsamkeit verschrieben habe (3).

Moderne Historiker haben gewürdigt, dass die Historia ihre Vorbilder – CASSIODOR, ISIDOR VON SEVILLA, GREGOR VON TOURS – bei weitem an Sachlichkeit und quellenkritischer Distanz übertrifft (4).  Er bemüht sich um eine exakte Datierung der Ereignisse; in den ersten drei Kapiteln, also bis zur Eroberung Britanniens durch CLAUDIUS (46 n. Chr.), ab urbe condita, danach ab incarnatione Domini. Im Anhang

verwendet er dann unsere moderne Zeitrechnung, mit der Opposition ante incarnationem Dominicam und ab incarnatione Domini. Die Monats- und Tagesbestimmung folgt im ganzen Werk dem traditionellen römischen Prinzip.

Eindrucksvoll ist nicht nur die gewissenhafte Aufführung aller Quellen und Gewährsleute in der Praefatio, die an den northumbrischen König CEOWULF gerichtet ist, sondern auch die Umsicht, mit der er sich seine Informationen verschaffte, Urkunden und mündliche Überlieferungen verwertete. Ein wichtiger Gewährsmann war für ihn ALBINUS, Abt von Canterbury, der ihm die dortigen Quellen zugänglich machte; ein weiterer der Londoner Priester NOTHELM, der ihm bei einem Romaufenthalt päpstliche Urkunden beschaffte, deren Inhalt er verwenden konnte.

It was a dark age in the history of Europe, when learning and civilization were at their lowest ebb on the Continent, when western Christendom was reduced to a narrow belt of lands between the unconverted Germanies and the Mohammedans debouching from the Pyrenees, and when the heritage of early Christian art and thought, as well as that of ancient Rome, might well have seemed to be in danger of disappearing altogether.  (5)

„Es war ein dunkles Zeitalter in der Geschichte Europas, als Bildung und Kultur auf dem europäischen Kontinent einen Tiefststand erreicht hatten, als die westliche Christenheit auf einen engen Gürtel von Ländern zwischen den noch nicht bekehrten germanischen Völkern und den Mohammedanern reduziert war, die aus den Pyrenäen hervorbrachen. Man konnte mit gutem Grund die Befürchtung hegen, dass das Erbe frühchristlicher Kunst und frühchristlichen Denkens,  zusätzlich zu dem des antiken Rom, ganz untergehen würde.“

Im Gegensatz zu Gallien wurde in Britannien das Lateinische nach dem Ende der Römerzeit durch das Erstarken der keltischen Dialekte zurückgedrängt. In Gallien, das kaum länger römische Provinz gewesen war,  blieb das Lateinische bestimmend.

Die Sprache der angelsächsischen Stämme zur Zeit der Besitznahme der Insel war – ebenso wie die der Kelten – uneinheitlich. Es gab verschiedene Dialekte, so dass die Gebiete der in England errichteten Stammeskönigtümer ungefähr auch mit Dialektgrenzen zusammenfielen. Englalond wurde schließlich die Bezeichnung für das ganze germanisch besiedelte Gebiet der Insel, die Sprache hieß Englisc, lingua Anglorum. (6). Beda differenziert zwar (in I,15) zwischen Jüten (Iutae), Angeln (Angli, aus Schleswig) und Sachsen (Saxones, aus Holstein), begreift aber alle drei Stämme als Teile der gens Anglorum:

The concept of  ‘Englishness’ is (…) one formed by Bede in his ‘History‘, for his phrase ‘gens anglorum‘ was new. But this was in no sense an exclusive nationalism; Bede saw the English as a ‘gens‘, a tribe, a part of the people of God (…). (7)

„Die Vorstellung eines ‚Englischseins’ wurde von Beda in seiner Historia begründet, denn sein Ausdruck gens anglorum war neu. Aber es handelte sich keineswegs um einen ausgrenzenden Nationalismus; Beda sah die Engländer als eine gens, einen Stamm des Gottesvolks.“

Klar treten die wesentlichen Züge der englischen Geschichte von JULIUS CAESARS Britannienfahrten bis zur eigenen Gegenwart (725 – 731) Bedas hervor.

Was seine Historia farbig macht, ist der Wechsel zwischen Abstraktem und Konkretem.

Er liefert abstrakt-resümierende Faktendarstellungen – zum Beispiel in der geographisch-landeskundlichen Darstellung der Britischen Inseln, die das erste Kapitel füllt – genauso wie theologische Quellentexte und scharf konturierte Einzelberichte. Zu diesen gehören vor allem zahlreiche Wunder, die Beda gewissenhaft registriert.

Berühmt geworden ist die Schilderung des Ursprungs der Britannienmission (596) aufgrund der Anordnung Papst GREGORS DES GROSSEN (um 540 bis 604), der auf dem römischen Sklavenmarkt  feilgebotene blonde junge Männer sah (II, 1). Man habe ihm auf seine Nachfragen geantwortet, sie stammten aus dem heidnischen Britannien (8):

Responsum est, quod Angli uocarentur. At ille, “Bene,“ inquit; nam et angelicam habent faciem, et tales angelorum in caelis decet esse coheredes. Quod habet nomen ipsa provincia de qua isti sunt adlati?’ Responsum est, quod “Deiri“  [Männer aus Deifyr oder lateinisch Deira: ein Teil Northumbriens ] vocarentur iidem provinciales. At ille: “Bene,“ inquit, “Deiri, de ira eruti, et ad misericordiam Christi vocati. Rex provinciae illius quomodo appellatur?“ Responsum est, quod “Aelli“ [AELLE, König von Deira, gest. 588]  diceretur. At ille adludens ad nomen ait: “Alleluia, laudem Dei Creatoris illis in partibus oportet cantari.“

Der heilige AUGUSTINUS VON CANTERBURY (gest. 604 oder 605) landete mit vierzig italienischen Mönchen auf der Insel Thanet, wahrscheinlich im Hafen von Richborough oder in dessen Nähe, nicht weit von der Stelle, wo Caesars Einfall stattgefunden hatte.

Dieser Beginn der Mission war ganz benediktinisch geprägt. Die benediktinische Weltmission ist das Verdienst des GREGORS, der selber Benediktinermönch war. Von einem Benediktinerkloster an einem der sieben Hügel Roms, am Caelius, zogen AUGUSTINUS und seine Mönche zur Bekehrung Englands aus, und das Benediktinerkloster in Canterbury wurde der Ausgangspunkt einer Erneuerungsbewegung, die einen neuen Kern christlicher Kultur im Westen schuf,

„tête de pont ecclésiastique et romaine“.

Contrairement aux projets de Grégoire le Grand – qui avait prévu la fondation d’un archevêche à Londres et d’un autre à York – le centre du royaume du Kent va devenir à la fois l’agent principal et le symbole de l’unité anglaise. (9)

„Im Gegensatz zu den Planungen Gregors des Großen – der die Gründung eines Erzbistums in London und eines zweiten in York vorgesehen hatte – wird das Zentrum des Königsreichs Kent zugleich Hauptantriebskraft und Symbol der Einheit Englands werden.“

Diese Missionare wirkten vorwiegend bei den Jüten in Kent; während Gregors Pontifikat erreichten sie die weiter nördlich siedelnden Angeln nicht. Im Frühmittelalter war die häufigere Gesamtbezeichnung für die germanischen Völker Britanniens im Lande selbst und außerhalb Sachsen; diese Bezeichnung hat sich bei den keltischen Völkern bis in die Gegenwart gehalten. Bedas Historia hat anscheinend viel zur Verbreitung der Bezeichnung England beigetragen (10).

Es war den Römern in vier Jahrhunderten nicht gelungen, ganz Britannien, benannt nach den ersten (700 bis 500 vor Chr.) keltischen Besiedlern der Insel, den Priteni, zu erobern. Die Landenge zwischen dem Firth of Clyde und dem Firth of Forth war die durch den Riegel des Limes geschützte Nordgrenze zu den Pikten.

Schon vor dem Abzug der Römer, seit dem dritten Jahrhundert, kam es zu Einfällen in größerem Umfang. Als 409 die letzte Legion Britannien verlassen hatte, verstärkten sich die Angriffe. Die mit den germanischen Einfällen gleichzeitige Bedrohung Britanniens an der Westküste aus Irland wird von Beda nicht erwähnt (11); er schildert (in I, 15), wie die Briten nach wiederholten Hilferufen an Rom schließlich, von den Pikten und Skoten bedrängt, Germanenstämme aufforderten, ihnen gegen die Angreifer Hilfe zu leisten. Die Germanen sollten als Gegenleistung Landbesitz erhalten. Die ersten Germanen landeten in Kent. Als es wegen der Belohnung für ihre Unterstützung zu einem Streit mit den Briten kam, wurden diese leicht besiegt.

Auf die Kunde von diesen Geschehnissen kamen nun weitere germanische Stämme mit dem Ziel der Landnahme und drängten die Kelten in langen Kämpfen in den Westen der Insel zurück. Diese Eroberung Britanniens vom Süden und Osten her ist in ihren einzelnen Phasen kaum bezeugt. Es steht fest, dass es mehrere Jahrhunderte dauerte, bis aus Britannien England wurde und den keltischen Völkern nur die Randzonen blieben.

Die germanische Kolonisation vollzog sich also nicht in Form einer Großinvasion wie 43 n. Chr. unter CLAUDIUS oder 865 n. Chr. durch die Dänen, sondern wurde von mehreren sächsischen Teilvölkern getragen, die in größeren und kleineren Wellen eindrangen. Das Christentum ging in den eroberten Gebieten unter.

Im Westen überlebten kleinere keltische Reiche: Devon, Cornwall, Wales, Cumbria und Strathclyde. Als die germanischen Völker weiter nach Westen vordrangen, flüchtete ein Teil der Briten über das Meer nach Süden und setzte sich in Aremorica fest, das so den Namen Britannia minor erhält, Bretagne.

Die Jüten besiedelten das Gebiet von Kent und daran angrenzende Landstriche, die Sachsen den südlichen Teil der Insel sowie im Osten auch Gebiete nördlich der Themse, die Angeln das Zentrum und das Gebiet nördlich des Humber bis zum Firth of Forth, Northumbrien.

Die selbstverschuldete Eroberung dieser Gebiete durch die heidnischen Germanen versteht Beda als Gottesstrafe für den liederlichen Lebenswandel der Kelten:

(…) placuitque omnibus cum suo rege Vurtigerno ut Saxonum gentem de transmarinis partibus in auxilium vocarent:  quod Domini nutu dispositum esse constat, ut veniret contra inprobos malum, sicut evidentius rerum exitus probavit. (Ende von Kap. I, 14).

Das Hauptthema der Historia ist die trotz aller Widerstände, Heresien und Rückschläge fortschreitende Rechristianisierung Britanniens, die er mit Hilfe zahlreicher Einzelheiten konkretisiert. Ein berühmtes Beispiel: König EDWIN von Northumbrien und seine Adligen beraten auf einem Thing im Jahre 627 über die Annahme des Glaubens. Einer der Adligen vergleicht das menschliche Leben mit dem Flug eines Spatzen durch die im Winter geheizte königliche Speisehalle, in der der König mit seinen Thanen zu Tische sitzt (II, 13) (12):

Ipso quidem tempore quo intus est, hiemis tempestate non tangitur, sed tamen parvissimo spatio serenitatis ad momentum excurso, mox de hieme in hiemem regrediens, tuis oculis elabitur. Ita haec vita hominum ad modicum apparet; quid autem sequatur, quidve praecesserit, prorsus ignoramus. Unde si haec nova dcotrina certius aliquid attulit, merito esse sequenda videtur.“

Es blieben Überreste römischer Zivilisation. Beda blickt auf die Römerzeit zurück und fügt hinzu “quod [=die römische Präsenz] civitatem, farus, pontes, et stratae ibidem [=südlich des limes] factae usque hodie testantur (Ende von Kapitel I, 11).

Dazu kam die lateinische Sprache. Der britannische Mönche GILDAS, Autor des in der Mitte des 6. Jahrhunderts verfassten Werks De Excidio Britanniae, schrieb auf Latein für seine Landsleute; das Werk – eine der Quellen Bedas – war nicht nur an Geistliche gerichtet. Im 5. und 6. Jahrhundert dürfte ein beträchtlicher Teil der Briten zweisprachig gewesen sein.

THEODOR VON TARSUS (602 – 690), Erzbischof von Canterbury, der lange Jahre als Mönch in Rom gelebt hatte, und sein Helfer HADRIAN (gest. 710), Abt von St. Peter und Paul in Canterbury, ein gebürtigen Nordafrikaner, gaben der englischen Kirche eine tragfähige Struktur. Theodor initiierte die Entwicklung fester Pfarrbezirke, setzte eine einheitliche Missionspolitik und Seelsorge durch und reformierte die Klöster nach der Regel BENEDIKTS (um 480 – 547). Bei Theodors Tod gab es 15 Diözesen, die sich über ganz England erstreckten (13).

Nach neunzigjähriger Bekehrungsarbeit hatte ganz England das Christentum – wenn auch oft nur oberflächlich – angenommen. Im 8. Jahrhundert gab es hier nur noch einheimischen Klerus. Die allmähliche Entwicklung des Pfarrwesens war ein wesentlicher Aspekt der weiteren Kirchengeschichte. Für mehr als ein Jahrhundert blieben jedoch die Klöster die maßgebenden Bildungsträger. Aus ihrer Tätigkeit entfaltete sich schon im 7. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt in Northumbria eine erste angelsächsisch-christliche Kulturblüte. Hier entstanden um 700 die Evangelien von Lindisfarne mit ihren berühmten Buchmalereien; hier schrieb BEDA Anfangs des 8. Jahrhunderts seine Werke. (14)

Das Bild von England, das Beda am Ende seiner Historia (Kapitel 23) malt, ist trotz der Erwähnung der bestehenden Feindschaft zwischen Germanen und Kelten positiv. Es herrsche Frieden und Wohlstand in Northumbrien.

Im Hinblick auf Bedas Umgang mit verschiedenen Sprachen ist mehreres  bemerkenswert. Zum einen seine Verwendung eines an der Vulgata und an den Kirchenvätern geschulten, eleganten Lateins, das sich in seiner Transparenz deutlich von zeitgenössischen bizarren Mischformen abhebt (15).

Bede himself was essentially a man of the Bible and whenever he could, he taught Latin through the Bible, usually the elegant Latin of Jerome’s Vulgate, not through the classics, and often advised caution in using classical authors as guides to Latinity (…) Bede distrusted the content of the works of pagan writers and, however necessary it might be to use the Latin grammarians, he warned his pupils of their danger and provided alternatives. (16)

„Beda selber war von Grund auf ein Mann der Bibel und, wann immer er konnte, unterrichtete er Latein durch die Bibel, in der Regel durch das elegante Latein der Vulgata des Hieronymus, nicht durch die Klassiker, und riet oft zur Vorsicht beim Gebrauch klassischer Autoren als Führer zum Lateinischen. Beda misstraute dem Gehalt der Werke der heidnischen Autoren und er warnte – wie notwendig es auch immer sein mochte, lateinische Grammatiker zu benutzen – seine Schüler vor ihren Gefahren und sorgte für Alternativen.

So verfasster er Lehrbücher für den Gebrauch in der Klosterschule zu Jarrow, etwa die Schrift De Arte Metrica et De Schematibus et Tropis, in der er das Schreiben lateinischer Dichtung in verschiedenen Versmaßen und die Lehre von den Stilfiguren vermittelt, die er anhand von Beispielen aus der Bibel illustriert (17).  Der Lateinunterricht war es, der die Grundlage für die Entwicklung einer Schriftsprache des Englischen lieferte.

Gelegentlich koloriert Beda seine Schilderungen mit Wendungen oder Zitaten der Dichtersprache, vor allem, wenn es ihm um die Schilderung von Emotionen oder die Schaffung von Atmosphäre geht. In II, 1 etwa schildert er GREGORS Reaktion auf die Mitteilung, die Angli seien Heiden: “At ille intimo ex corde longa trahens suspiria: ’Heu, proh dolor!’ inquit (…)“. Er flicht auch das eine oder andere VERGILzitat ein, etwa in V,12

“Sola sub nocte per umbras“ (Aen. VI, 268) oder in IV, 26 „fluere ac retro referri“ (Aen.,

II, 169).

Ein kunstvoll gestalteter, alphabetisch angeordneter Hymnus (in IV, 20) Bedas zu Ehren von ETHELDREDA (635 – 679), Königin von Northumbria,  Äbtissin von Ely, zeigt nicht nur ebenfalls in der Wortwahl den Einfluss VERGILS, sondern erwähnt den Dichter und die Aeneis explizit:

Alma Deus Trinitas, quae saecula cuncta gubernas,

    Adnue iam coeptis , alma Deus Trinitas.

Bella Maro resonet, nos pacis dona canamus:

    Munera nos Christi, bella Maro resonet.

Carmina casta mihi, foedae non raptus Helenae,

     Luxus erit lubricis, carmina casta mihi. 

Dona superna loquar, miserae non praelia [sic] Trojae;

     Terra quibus gaudet, dona superna loquar. (…)

Beda besitzt rudimentäre Kenntnisse des Hebräischen (18), er beherrscht  – wie eine Reihe anderer englischer und irischer Gelehrter, die er erwähnt – das Griechische und verwendet beide Sprachen wie selbstverständlich für seine exegetischen Studien.

Bedas Griechischkenntnisse kamen wohl über Benedict Biscop, den Begleiter des Erzbischofs Theodor von Canterbury, eines griechisch-syrischen Mönchs, nach Wearmouth und Jarrow. Auf jeden Fall hat Theodor griechische wie lateinische Texte aus Rom und Neapel für seine Bibliothek in Canterbury beschafft. Bei dem zumeist engen Verbund der klösterlichen Bibliotheken und Schreibschulen war es für Beda daher möglich, von dort griechische Bücher zu besorgen und sich somit Griechischkenntnisse anzueignen. (19)

Durch Bedas Initiative wurde die Domschule von York zu einem Mittelpunkt griechischer Bildung. Hier wurde etwa  Alkuin erzogen, der das Griechische in das Frankenreich, an den Hof KARLS DES GROSSEN (747 oder 748 – 814) hinübertrug. 782 übernahm Alkuin die Leitung der Hofschule zu Aachen.

Am bemerkenswertesten ist jedoch Bedas Haltung zum Englischen, zur lingua Anglorum, die er – „ganz in der kirchlich-lateinischen Welt seines Klosters beheimatet“ (20) – ohne Scheu als den klassischen Sprachen gleichrangig betrachtet.

Sein Schüler CUTHBERT berichtet, Beda sei mit der englischen Dichtung vertraut („doctus in nostris carminibus“) gewesen. Noch bis zu seinem Tod habe er an einer – uns nicht erhaltenen – englischen Übersetzung des Johannesevangeliums gearbeitet. (21)

Beda Haltung zum Englischen kommt deutlich in der Schilderung CAEDMONS (IV, 24, diese Quellenangabe gilt für alle im folgenden zitierten Passagen aus dieser Geschichte) zum Ausdruck. Er ist der erste uns mit Namen bekannte englische Dichter. Im Bereich des Epos hatten die angelsächsischen Sieger der Schlachten gegen die Kelten keine literarische Gestaltung ihrer Taten hinterlassen – im Gegensatz zu den Besiegten mit ihren Geschichten der ARTUS-Sage.

Caedmon war ein Viehhirte aus Whitby in Yorkshire, der nie dichterisches Talent besessen hatte, bis er durch göttliche Inspiration – jemand (quidam) erschien ihm im Traum und lehrte ihn einen englischsprachigen Hymnus – zum Dichter wurde. Hatte er vorher die bei Festen reihum gereichte Harfe des Liedersängers abgelehnt, so wurde er jetzt zum Verfasser religiöser Gedichte.

Ins Kloster aufgenommen dichtete er über biblische Themen, die ihm seine Mitbrüder nahelegten. Sie übersetzten Passagen für ihn ins Englische, die er dann, einem wiederkäuenden Tier vergleichbar, in Versparaphrasen umformte:

At ipse cuncta quae audiendo discere poterat, rememorando secum et quasi mundum animal ruminando, in carmen dulcissimum convertebat; suaviusque resonando, doctores suos vicissim auditores sui faciebat. 

Bemerkenswert ist nicht nur, dass Beda uns diesen Geburtsmoment der englischen Dichtung, der ältesten Nationalliteratur Europas nach der Antike, überliefert, sondern, dass er nicht zögert, den klassischen Sprachen die eigene, das Englische, in einem Atemzuge gleichrangig zur Seite zu stellen. Von dem Prälaten TOBIAS VON ROCHESTER etwa heißt es (in V, 8), er sei „Latina, Graeca et Saxonica lingua instructu[s]“ gewesen.

Beda umreißt den Inhalt des Hymnus Caedmons: Es sei ein Lobpreis auf den Schöpfergott. In radikalem Gegensatz zu antiken Vorurteilen gegen ‚barbarische’ Sprachen fügt er nun – „das ist die geradezu provokative Tendenz in Bedas Erzählung“ (22) hinzu, die spezifische Schönheit des von Caedmons gelernten Hymnus sei nur im englischen Original anzutreffen, nicht in einer Übersetzung ins Lateinische – lost in translation:

Hic est sensus, non autem ordo ipse verborum, quae dormiens ille canebat: neque enim possunt carmina, quamvis optime composita, ex alia in aliam linguam ad verbum sine detrimento sui decoris ac dignitatis transferri. Exsurgens autem a somno, cuncta quae dormiens cantaverat memoriter retinuit, et eis mox plura in eundum modum verba Deo digni carminis adiunxit.

KLAUS VON SEE hebt die Bedeutung der Szene für die Dichtung Nordeuropas hervor (23):

Indem er die Caedmon-Vision an den Anfang der angelsächsischen Bibeldichtung stellt, macht er sie zugleich zu einer Art von ‚Initiations-Szene’ für die gesamte volksprachliche Bibeldichtung Nordeuropas. 

Im Verfasser der Historia tritt uns – vom Rande des frühmittelalterlichen Europa – eine seiner zentralen Gestalten entgegen: Beda vere venerabilis.

(1)     Paradiso, 10, 131

(2)     Ifor Evans, A Short History of English Literature, Harmondsworth 1971, S. 17.

Eine erzählerische geformte Darstellung des Lebens Bedas liefert Kathleen

Parbury in Star From The North, Newcastle upon Tyne 1973

(3)     Benedicta Ward SLG, the Venerable Bede, London/New York (1990) 2002, S. 37

(4)     Vgl. etwa Friedrich Prinz, Von Konstantin zu Karl dem Grossen, Entfaltung und

Wandel Europas, Düsseldorf und Zürich 2000, S. 233

(5)     Dom David Knowles, Bede’s Ecclesiastical History of the English Nation,

London 1910, Nachdr. 1970, S. V der Einleitung

(6)     Herbert Koziol, Grundzüge der Geschichte der englischen Sprache, Darmstadt

1967, S. 20

(7)     Ward a.a.O, S. 145

(8)     Alle Zitate  aus Bedas Historia entstammen, auch in der Interpunktion, der

Ausgabe Bede, Historical Works  in der Loeb Classical Library, Harvard University

Press, Cambridge, Massachusetts, London 1930, (Nachdr.) 2006

(9)     Georges Tugene, L’image de la nation anglaise dans l’Histoire Ecclésiastique de

Bède le Vénérable, Straßburg 2001, S. 90

(10)   Vgl. Michael Richter, Irland im Mittelalter, Kultur und Geschichte,

Münster/Hamburg/London 2003, S. 36

(11)   a.a.O., S. 37

(12)   Vgl. dazu Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, S. 35 ff. und Gerd Wolfgang

Weber, „Altenglische Literatur: volkssprachliche Renaissance einer

frühmittelalterlichen christlichen Latinität“ in Neues Handbuch der

Literaturwissenschaft Band 6, Europäisches Frühmittelalter, hrsg. von Klaus von

See, Wiesbaden 1985, S. 277 – 316; S. 283 ff.

(13)  Vgl. Kurt Kluxen, Geschichte Englands, 4. Aufl., Stuttgart 1991, S. 15. Zu Theodor

von Tarsus und zum ‚griechischen Rom’ im Frühmittelalter vgl. auch Karl

Bosl, Gesellschaft im Aufbruch, Die Welt des Mittelalters und ihre Menschen,

Regensburg 1991, S. 17 – 35.

(14)   Kluxen a.a.O., S. 15

(15)   Vgl. Richter, a.a.O., S.75 ff.

(16)   Ward, a.a.O., S. 21

(17)   Libri II De Arte Metrica et de Schematibus et Tropis, mit englischer Übersetzung,

hrsg. von Calvin B. Kendall, Bibliotheca Germanica, Series Nova, Vol. 2,

Saarbrücken 1991

(18)   Beda ist der früheste christliche Gelehrte, von dem es heißt, er habe

Hebräischkenntnisse besessen, aber sie dürften geringfügig gewesen sein. So

Joseph L. Mihelic in „The Study of Hebrew in England“, Journal of Bible and

Religion 14, Nr. 2, Mai 1946, S. 94 – 100; S. 94

(19)   Prinz a.a.O., S. 233 f.

(20)   a.a.O., S. 234

(21)   Baedae Opera Historica I, hrsg. von Charles Plummer, Oxford 1896, S. clxi

(22)   Klaus von See „Das Frühmittelalter als Epoche der europäischen

Literaturgeschichte“ in Neues Handbuch der Literaturwissenschaft Band 6, vgl.

(9),  S. 5 – 70, S. 54

(23)   a.a.O.

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