Verdrehte Symbole

 

Das Bild Guernica von Pablo Picasso ist gewiss eines der bekanntesten Gemälde des zwanzigsten Jahrhunderts. In zahlreichen Büchern, etwa Schulbüchern, ist es abgebildet, als Symbol der Schrecken des modernen Krieges oder, enger gefasst, des Luftkrieges gegen Zivilisten. Das Bild der aus den Fugen geratenen, durcheinandergewirbelten Welt gilt, ähnlich wie Picassos Friedenstaube, als Ausdruck fundamentaler Ablehnung des Krieges, als pazifistisches Symbol.

Das Sujet: 1937 wurde während des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) das baskische Städtchen Guernica Ziel eines Bombenangriffs deutscher, italienischer und spanischer Flieger, die zu den Luftstreitkräften des aufständischen Generals Franco gehörten. 70% der Stadt wurden zerstört.

Die Regierung in Madrid und die mit ihr sympathisierenden Teile der internationalen Presse stilisierten den Angriff zu einem erbarmungslosen Terrorangriff, eine Darstellung, die sich in politisch korrekten Kreisen, zumal in Deutschland, bis heute gehalten hat.

Dabei wurde wiederholt von Historikern klargestellt, dass der Angriff ein militärisches Versehen war, da die Brücke über den Oca und die Straßenkreuzung der Vorstadt Rentería das Ziel gewesen waren. Schlechte Sichtverhältnisse führten dazu, dass die Bomben stattdessen die Stadt zerstörten. Die Kriegspropaganda sprach von 4000 Todesopfern, es waren aber weniger, insgesamt ca. 330.

Zum Vergleich: Tragische Versehen dieser Art unterliefen den Bombern der U.S. Airforce im Zweiten Weltkrieg am laufenden Band. So wurden versehentlich 70 Mal Ziele in der neutralen Schweiz bombardiert, darunter die Stadt Schaffhausen statt der IG-Farbenwerke in Mannheim-Ludwigshafen – 200 Kilometer daneben.

Die versehentliche Zerstörung Guernicas passt nicht als Symbol in die Reihe jener gezielten Terrorangriffe gegen die Zivilbevölkerung, die mit Dresden, Hiroshima und Nagasaki ihre fürchterlichsten Höhepunkte erreichten.

Das sagt allerdings nichts über den Symbolwert des Gemäldes. Und doch lohnt es sich auch hier, näher hinzusehen. Picasso unterstützte im Spanischen Bürgerkrieg vorbehaltlos die Linke. Später trat er in die kommunistische (=stalinistische) Partei ein. Er wurde strammes Parteimitglied. Und das, obwohl 1937, also in dem Jahr, als das Bild entstand, der stalinistische Terror für alle Welt sichtbar geworden, im wahrsten Sinne des Wortes ,zur Schau gestellt’ worden war. Denn in Moskau fanden die berüchtigten Schauprozesse gegen echte oder vermeintliche  Abweichler statt.

Für die mit dem Kommunismus sympathisierenden europäischen ,Kulturschaffenden‘, etwa Brecht, Shaw, Lasker-Schüler, kein Grund zur Irritation. Einer von ihnen, der damals erfolgreiche Romanautor Lion Feuchtwanger, reiste sogar als Gast Stalins nach Moskau, nahm an Schauprozessen teil, lobte die freundliche Atmosphäre, den Plauderton zwischen Richter und Angeklagten, und schrieb ein Propagandabuch.

Walter Benjamin rühmt in seinem Moskauer Tagebuch, dass am Sonntag in Moskau endlich Ruhe herrsche, das Kirchengeläute, das ihm in anderen Städten der Welt auf die Nerven gehe, sei endlich verstummt! Jean-Paul Sartre forderte, die Freiheit des Einzelnen müsse aufgehen in der absoluten Freiheit der kommunistischen Partei.

Martin Heidegger hat später über seine eigene unappetitliche Verbindung zum Nationalsozialismus geschrieben: „Wer groß denkt, muß groß irren.“ Man möchte wie in einem Grundkurs der Aussagenlogik antworten: Aber nicht jeder, der groß irrt, ist auch ein großer Denker.

Als 1933 Salvador Dalí das Bild ,Das Rätsel des Wilhelm Tell‘ veröffentlichte, führte das in dem genannten Intellektuellenmilieu zu Protesten, heute würde man sagen, zu einem politisch korrekten ,Aufschrei‘. Dalí hatte sich erdreistet, die andere Portalfigur des Sowjetkommunismus, Wladimir Iljitsch Lenin, mit nacktem, in die Länge gezogenen Hinterteil zu malen; ein unverzeihlicher Frevel: Die Gutmenschen von damals und dort hatten nicht ohne Grund den Eindruck, von Dalí verarscht worden zu sein.

In Spanien selbst führten die Kommunisten einen brutalen Zweifrontenkrieg: nicht nur gegen alles, was als ,faschistisch’ eingestuft wurden, sondern auch gegen ihre politischen Konkurrenten, die Anarchisten des Frente Anarquista Ibérico. Der Genosse Erich Mielke etwa war im Einsatz. Er erwarb professionelle Kenntnisse, die ihm später als Minister für Staatssicherheit (1957-1989!) in der Deutschen Demokratischen Republik nützlich sein würden.

Zurück zu dem Gemälde Guernica. Jeder, der das kleine Einmaleins des Marxismus-Leninismus kennt, weiß, dass von fundamentaler Ablehnung von Gewalt gar keine Rede sein kann. Es gibt zwei Arten von Gewalt: die der Herrschenden (schlecht) und die der Unterdrückten (gut). Oder, in Lenins Worten, die Grundfrage der Geschichte ist: Wer wen? Deshalb hing in den Stuben der 68er auch nicht das Antlitz von Mahatma Gandhi, sondern das Konterfei Ernesto ,Che‘ Guevaras. (Über den letztgenannten zu schreiben wie hier über Picasso lohnt sich kaum – Guevara selbst hat sich in einem lichten Augenblick als Don Quijote bezeichnet. Er meinte einen blutrünstigen Don Quijote.)

Vom Beginn des Spanischen Bürgerkriegs an bombardierten die ,roten Flieger‘ der Regierungsseite die Zivilbevölkerung im Territorium der Aufständischen, zum Beispiel erfolgten 1936 Angriffe auf Albacete und Oviedo. Ein Spezialangriff galt einem spanischen Nationalheiligtum, der barocken Kathedrale von Zaragoza, die eingeäschert werden sollte. Aber die Bombenlast explodierte nicht (ein Wunder?) oder fiel daneben, siehe oben.

Guernica ist also gar kein Aufschrei gegen Krieg und Gewalt, sondern gegen Krieg und Gewalt der anderen Seite – ein fundamentaler Unterschied.

1939 gipfelte der Zynismus Stalins im Pakt mit Hitler, Grundlage des gemeinsamen Überfalls auf Polen. Er verriet damit vor aller Welt seine spanischen Freunde, die er zuvor mit Waffen unterstützt hatte, eine geradezu irre politische Pirouette. Nazis und Kommunisten entdeckten einander als verwandte Seelen. Reichsaußenminister Ribbentrop, der am 23. August 1939 in Moskau den Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnete, schwärmte: „Es war wie unter alten Parteigenossen.“ (Ein paar Monate zuvor erst hatte der spanische Bürgerkrieg mit dem Sieg des General Franco geendet, am 1. April 1939.)

Erste kritische linke Schriftsteller, etwa Eric Ambler oder George Orwell, distanzierten sich. Der Verfasser von ,1984′ hat den Pakt in ,Animal Farm’ unnachahmlich karikiert. Picasso blieb bei der Fahne. Als Stalin 1953 starb, veröffentlichten kommunistische Autoren in Frankreich eine Hommage mit hymnischen Texten, ,Ce que nous devons à Staline‘. Picasso steuerte auf der Titelseite eine Zeichnung des jungen Josef Wissarionowitsch bei, Porträt eines glutäugigen Idealisten mit klassisch ebenmäßigen Gesichtszügen; künstlerisch eher fragwürdig. Vive la différence: Jeder ,Kulturschaffende‘, der sich jemals an einer vergleichbaren Huldigung an A. Hitler beteiligt hätte (oder: hat!), wäre/ ist erledigt.

Im Englischen spricht man von ,pluralistic details’, die falsche Verallgemeinerungen entlarven, propagandistische Trompetenstöße dämpfen. Ein solches Detail sind die Ereignisse von Weihnachten 1936 in Sevilla.

Die Streitkräfte der spanischen Regierung hatten für Weinachten den Einwohnern einen Luftangriff angekündigt. Als besonderes ,Weihnachtsgeschenk’ sollte eine 1000-kg-Bombe über der Stadt abgeworfen werden. Dass es dazu nicht kam, war vor allem den Fliegern der deutschen Legion Condor zu verdanken, also jenen Luftstreitkräften, die später für die Zerstörung der Stadt Guernica mitverantwortlich waren.

Sie waren entscheidend an der Verteidigung des Luftraums über Sevilla beteiligt, und zwar mit der modernsten Jagdmaschine, der pfeilschnellen ME 109 (BF 109). Die ,roten Flieger’ wurden zum Abdrehen gezwungen, die Stadt blieb verschont.

Ein Fazit: Picassos Bild als Mahnung, als Aufschrei gegen den Krieg misszuverstehen ist eine Fehlinterpretation  – wer aber sollte etwas an dieser Botschaft auszusetzen haben?