Der letzte Schrei: das wandernde Klassenzimmer

Passionierte Wanderer und Radfahrer wussten es immer schon: Bewegung fördert das Denken.

Das französische Magazin Sciences Humaines widmete letzten Herbst eine Spezialausgabe dem Lernen: Comment apprend-on? Das Thema wird unter allen möglichen Gesichtspunkten behandelt, aus pädagogischer, sozialer und psychologischer Sicht.

Ein Artikel, von Martine Fournier (S. 54 – 59), ist alternativen Lernformen gewidmet, er trägt den Titel Apprendre autrement. Es geht um fünf Teilthemen, unter den Titeln Chercher – Coopérer – Faire pour apprendre – Twitter (damit ist die Arbeit mit Computer und Tablet gemeint) sowie  – zu allererst behandelt – Bouger, also Bewegung.

Neuere Studien, so liest man, hätten gezeigt, dass Bewegung das Denken stimuliert: „Im Gehen denkt sich’s besser“ – „Marcher pour mieux penser“ lautet die Devise. „Marcher stimule la créativité dans beaucoup de domaines“ (Gehen regt die Kreativität in vielen Bereichen an): mit diesen Worten wird eine Wissenschaftlerin von Oakland University zitiert.

Eine neuere Untersuchung aus Spanien habe ergeben, dass Schüler, die zu Fuß zur Schule kommen, in standardisierten Tests bessere Ergebnisse erzielen als solche, die mit dem Bus oder dem Auto anreisen. Amerikanische Studien bei Menschen zwischen 18 und 59 Jahren hätten gezeigt, dass Pausen, die mit Bewegungsübungen gefüllt werden, den Arbeitsspeicher des Gedächtnisses erweitern.

Was fehlt, ist eine Erklärung dieses behaupteten Zusammenspiels von Geist und Körper: Die Füße als Quelle der Inspiration – wie genau funktioniert das?

Außerdem: Jeder, der fünf Minuten in Walter Krämers Standardwerk So lügt man mit Statistik geblättert hat, wird skeptisch bleiben, solange er nicht die genauen Bedingungen der Tests kennt. Vielleicht ist es ja umgekehrt: Schlauere Schüler gehen, sofern die Entfernung es zulässt, lieber durch die frische Luft zu Fuß zur Schule und kommen wach dort an, statt schon am frühen Morgen im Bus zu dösen.

Ein ausführlich dargestelltes Beispiel ist besonders fragwürdig. Grundschüler sollten verschiedene Dreiecksformen kennenlernen, indem sie sie mit den eigenen Armen darstellten. Sie waren bei diesen Übungen auf einem Bildschirm sichtbar. Diese Schüler hätten die Unterschiede zwischen den Dreiecken besser begriffen als solche, die auf traditionelle Weise unterrichtet worden waren.

War das ein Erfolg des Bewegungsvorgangs? Sicherlich waren so diejenigen geweckt worden, die in der letzten Reihe vor sich hindämmerten, aber war es vielleicht primär ein Erfolg der Konzentration auf die bestmögliche Darstellung der richtigen Formen, gepaart mit der Motivation durch den unerwarteten Methodenwechsel?

Auch der Hinweis auf große Denker, die im Gehen zu philosophieren pflegten, ist kein Beleg dafür, dass es sich en marchant besser denkt als im Sitzen, Liegen oder Stehen. Allerdings liefert der Artikel eine beeindruckende Liste solcher Geistesgrößen.

Sokrates, Platon, Aristoteles, Montesquieu, Rousseau, Kant, Nietzsche sowie Schriftsteller wie Jane Austen und Charles Dickens werden genannt. Die Aristoteliker heißen ja bis heute Peripatetiker, also ,Umhergehende’. 334 vor Chr. gründete Aristoteles seine Schule in einem dem Apollon Lykeios geweihten Gymnasium,  und dessen Wandelhalle (περίπατος, Peripatos, zum Verb περιπατεῖν, herumwandeln) war es, die seinen Schülern den Namen gab.

Ein Zitat von Montesquieu belegt die Bedeutung des Gehens für sein Denken, ganz im Sinne des Artikels: „Wenn mein Körper schreitet, schreitet mein Geist. Beide gehen aufgrund desselben Impulses.“ („Lorsque mon corps marche, c’est mon esprit qui marche. Ils vont tous deux d’une même branle.“)

Jean-Jacques Rousseau und Nietzsche waren zwei weitere Wanderer des Denkens. Von Rousseau heißt es in dem Artikel sogar, der bloße Anblick eines Schreibtisches habe ihn entsetzt. Nietzsche sei bis zu zehn Stunden an einem Stück gewandert, zwischendurch habe er seine Einfälle niedergekritzelt. „On n’écrit bien qu’avec ses pieds“ – „Man schreibt nur gut mit den Füßen“ sei sein Motto gewesen.

Drei illustre Namen sind allerdings in die Liste hineingemogelt: Sokrates suchte zwar auf dem Markt, der Ἀγορά, und in den Gassen Athens das Gespräch mit seinen Mitbürgern, von einer Begeisterung für Fußmärsche ist bei ihm aber nichts bekannt, bei Platon auch nicht. Kant machte jeden Tag um fünf Uhr seinen in Königsberg legendären Spaziergang, und zwar immer entlang derselben Route. Folgt daraus zwingend, dass er auch seine Gedankengebäude bei diesen Gängen errichtete?

Die Autorin des Artikels, Martine Fournier, plädiert jedenfalls für Denken on the move. Sie malt ein düsteres Bild schulischer Froststarre und hofft auf die heilsame Wirkung des bouger: „Ces découvertes récentes amèneront-elles à rompre avec l’organisation immuable des classes traditionelles et de leurs sacro-saintes rangées de tables et de chaises, où les élèves doivent rester immobiles durant de longues heures de cours?“ „Werden diese jüngst gemachten Entdeckungen dazu führen, dass man mit der starren Anordnung der traditionellen Klassen mit ihren sakrosankten Tisch- und Stuhlreihen bricht, wo die Schüler während langer Unterrichtsstunden regungslos zu verharren haben?“

Nicht dem fliegenden, dem wandernden Klassenzimmer gehört demnach die Zukunft!