Erneut und nochmal

Dass man die eigene Sprache am genauesten kennenlernt, wenn man sich mit Fremdsprachen beschäftigt, ist eine Binsenweisheit. Erst durch den Kontrast wird das scheinbar Selbstverständliche ja zur Besonderheit, konturieren sich reliefartig Charakteristika der Muttersprache und der Fremdsprache. Das Folgende ist, denke ich, ein gutes Beispiel.

Eines der häufigsten lateinischen Präfixe ist RE- [rĕ], vor Vokal RED- [rĕd], für ,zurück’ sowie für ,wieder’, ,erneut’. Es hat sich nicht nur in den romanischen Sprachen erhalten, sondern ist auch ins Deutsche und Englische eingedrungen.

Während man nun im Deutschen und Englischen jedes Verb mit den Adverbien ,wieder’/,again’ kombinieren kann, ist der Gebrauch des Präfixes RE- zur Bezeichnung der Wiederholung auf bestimmte Verben beschränkt. Man kann sagen: ,to rethink something’, aber nicht: *,to resay something’ oder *,to reask something’.

Ein Blick auf das Lateinische, Französische und Spanische zeigt, dass dort RE- viel häufiger ist, dass man aber auch in diesen Sprachen nicht einfach RE- vor jedes beliebige Verb setzen kann, um die Wiederholung zu bezeichnen.

So kann man etwa auf Französisch problemlos ,recommencer’ für ,wieder anfangen’ sagen, im Spanischen dagegen ist ,recomenzar’ (für ,volver a comenzar’) weitaus seltener.

,Revidere’ für ,wiedersehen’, wie in ,Au revoir!’ oder ,Arrivederci!“, ist im Lateinischen unüblich, weder Caesar noch Cicero benutzen das Verb.

Für „wenn er nach Hause zurückkommt“ kann man auf Französisch „quand il revient chez lui “ sagen, für ein spanisches „cuando *reviene a casa“ findet sich dagegen im ganzen Internet kein einziger Beleg, man sagt „cuando vuelve a casa“.

Anders im Italienischen. Im Sinne von ,wieder’ kann man ,RI–’ vor jedes Vollverb setzen:

„Ho rimesso il libro sul tavolo.“       „Ich habe das Buch wieder auf den Tisch gelegt.“

„Giovanni ha rivinto.“                        „Hans hat wieder gewonnen.“

„Questo mi ristupisce ogni volta.“   „Das erstaunt mich jedesmal wieder.“

Das gilt auch für die beiden Verben ,nascere’, ,leben’ und ,morire’ ,sterben’. Überschrift eines Zeitungsartikels aus Rom:

„Rinasce e rimuore in pochi mesi il giardino di via Pirzio Biroli.“ – „Der kleine Park in der Via Pirzio Biroli wird zum Leben erweckt und stirbt dann wieder, beides im Laufe weniger Monate.“

Man kann RI- sogar doppeln (außer vor re-), die sprachliche Repeat-Taste also zweimal drücken:

„Mi sono ririsvegliata alle 11.“         „Ich bin um elf Uhr erneut wiederaufgewacht.“

„Ho ririfatto colazione.“                    „Ich habe zum dritten Mal gefrühstückt.“

„Giovanni ha ririvinto.“                     „Hans hat erneut wieder gewonnen.“

„Mi riricandido e voi mi ririeleggete.“ – „Ich kandidiere zum dritten Mal, und ihr wählt mich zum dritten Mal.

Das passt lautlich natürlich hervorragend zum emphatischen Sprechduktus des Italienischen:

„L’ho letto, l’ho riletto, l’ho ririletto!“ –  „Ich hab’s gelesen, nochmal gelesen, wieder gelesen!“

Wer die Dopplungen für merkwürdig hält, sollte bedenken, dass es auch im Deutschen Parallelen gibt, zum Beispiel ,vorgestern’ und ,vorvorgestern’, ,Vorgänger’ und ,Vorvorgänger’, ,Urgroßvater’, ,Ururgroßvater’, und ,Urururgroßvater’.

Ein ähnliches sprachliches Allheilmittel wie das Präfix RI- gibt es im Deutschen auch, nämlich ,weiter’, das mit jedem Verb, transitiv oder intransitiv, Zustands- oder Handlungsverb, zu einem neuen kombiniert werden kann (indem man es vor den Infinitiv setzt), nicht um die Wiederholung, sondern um die Fortdauer anzuzeigen.

Und auch was RE-/RI- für ,wieder’ betrifft, so verhält sich das Deutsche nicht so anders, wie man meinen könnte. Im Bereich der in den Wissenschaftssprachen gebräuchlichen Verben griechischen und lateinischen Ursprungs nämlich.

Das Deutsche bietet ja große Freiheit der Zusammenfügung unterschiedlicher Elemente zu neuen Wörtern. Nichts spricht prinzipiell dagegen, im akademischen Wortgebrauch neben gebräuchlichen Kombinationen wie ,reanimieren’, ,reformieren’ oder ,refinanzieren’ auch weitere zu benutzen, etwa ,reinstitutionalisieren’, ,reintegrieren’,  ,retransformieren’, ,rediversifizieren’, ,rekanalisieren’, ,revariieren’ ,resynthetisieren‘.

Die Dopplung ist allerdings meist nicht möglich, es würde etwa merkwürdig klingen, zu sagen *,rereformieren’. Und doch: Spräche etwas dagegen, in einem medizinischen Kontext von Re-Reanimationsversuchen zu sprechen?

Selbstgeschaffene RE- oder sogar RE-RE-Kombinationen bieten sich natürlich für alle jene Sumpfgebiete der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften an, wo es Brauch ist, gedanklich Dürftiges durch exzessiven Fremdwortgebrauch aufzuwerten, das Matte wenigstens verbal aufzupolieren.

Vor allem also bei den üblichen Verdächtigen: Sozialwissenschaft, Politikwissenschaft, Pädagogik. Es böte sich dort vielleicht an, schon Erstsemester auf diese Möglichkeit der Wortbildung hinzuweisen, Pardon: auf diese lexikalische Formations-Option.