Kirche im Dorf, Spatz in der Hand

„Der Sperling in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach“ – darauf stieß ich jüngst im Internet, was mich verwunderte, denn ich kannte nur den Spatzen in der Hand. Diese Version mit dem Sperling, gefunden im Internetwörterbuch Bab.la, kam mir nicht nur fremd, sondern auch schlechter vor: Sie klang überhaupt nicht wie eine richtige Redensart.

Ein Blick in Google zeigt, dass es Belegstellen auch aus neuerer Zeit gibt, aber zu erdrückend ist das – numerische! – Übergewicht des Spatzen. Dasselbe gilt für Spatzen/Sperlinge, auf die man mit Kanonen schießt oder die etwas von den Dächern pfeifen.

Ein repräsentatives Nachschlagewerk zu den deutschen Sprichwörtern erwähnt ausschließlich den Spatzen, vom Sperling keine Rede: „Sprw. heißt es ,Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach’, d.h. besser einen kleinen, aber sicheren Gewinn als große Hoffnungen, die sich nicht erfüllen. Ähnl. im Ndl. ,Beter een vogel in de hant als thien in de loght’.“ So Lutz Röhrich im Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (Bd. 4, S. 1496, 5. Aufl., Freiburg 1994).

Aber: Die klassische, erstmalig 1846 erschienene Sammlung „Deutsche Sprichwörter“  von Karl Simrock kennt nur den Sperling: „Besser ein Sperling in der Hand als ein Kranich auf dem Dach (über Land)“ (Sprichwort Nr. 9691) sowie „Die Sperlinge singen’s von den Dächern.“ (9695).

,Sperling’ ist ein gehobenes, eher schriftsprachliches, altmodisches Wort, das heutzutage vor allem in Biologiebüchern zu finden ist. Aus ihnen kann man auch entnehmen, dass Spatz kein pauschales Synonym für ,Sperling’, sondern für den Haussperling ist, was für unser Thema irrelevant ist.

Eine zweite Domäne des Sperlings ist die Welt der Bibelübersetzungen, denn in der Bibel wird der Vogel mehrfach erwähnt. Auch die neue (2016) Version der Einheitsübersetzung kennt den Sperling (Psalm 84,4: „Auch der Sperling fand ein Haus/und die Schwalbe ein Nest“), wählt aber meist den Spatzen. Luther übersetzt die beiden Stellen Matthäus 10,29 und Lukas 12,6 „οὐχὶ δύο στρουθία ἀσσαρίου πωλεῖται;“ und „οὐχὶ πέντε στρουθία πωλοῦνται ἀσσαρίων δύο;“ mit „Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig?“ sowie „Verkauft man nicht fünf Sperlinge um zwei Pfennige?“. In der Einheitsübersetzung dagegen hat sich der Spatz durchgesetzt: „Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig?“, „Verkauft man nicht fünf Spatzen für zwei Pfennige?“.

Woher dieser Triumph des Spatzen über den Sperling? Weil Spatz das ist, was die französischen Sprachwissenschaftler mot expressif  nennen. Bei derartigen Wörtern besteht irgendein Zusammenhang zwischen Lautgestalt und Sinn. Der bekannteste Untertyp ist das lautmalerische Wort, aber es gibt auch andere Arten des mot expressif. Eine Beispiel: die Verben ,lächeln’, ,lachen’, ,smile’, ,laugh’, bei deren Aussprache jedermann sein Gesicht entsprechend verzieht.

Ein einsilbiges Wort mit einem kurzen Vokal wie Spatz, das noch dazu auf einen stimmlosen Konsonanten endet, bietet sich an, um Kleines, Flüchtiges, Abgehacktes, Triviales zu benennen. Deshalb sagen manche ,ratz-fatz’ für ,äußerst schnell’, deshalb ist Vergebliches nicht für die Katze, sondern für die Katz’.

Das ist jedoch nicht der einzige Grund dafür, dass die Variante „Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ die eindrucksvollste, einprägsamste ist. Da ist zunächst der Rhythmus: Bésser der Spátz in der Hánd als die Taúbe auf dem Dách. Auf drei perfekte Daktylen (ein Daktylus=eine betonte Silbe + zwei unbetonte Silben) folgt ein vierter, der eine unbetonte Silbe zu viel hat, sowie eine weitere Hebung, Dách. Die Unregelmäßigkeit ist also genau an der Stelle, wo der unerreichbare Ort genannt ist.

Zumindest zum Teil daktylisch ist auch der Rhythmus anderer deutscher Redensarten: das Kínd mit dem Báde ausschütten, die Kírche im Dórf lassen, mit Kanónen auf Spátzen schiessen. Das gilt auch für die französische und die spanischen Variante des behandelten Sprichworts: „Un tiens vaut mieux que deux tu l’auras.“ (Ein habe ist mehr wert als zwei du wirst haben) und „Más vale pájaro en mano que ciento volando“ (Besser ein Vogel in der Hand als hundert in der Luft). Beide Sprichwörter sind nicht sinngleich mit dem deutschen, da nicht Schlechteres mit Besserem, sondern Eines mit Mehr verglichen wird.

Das einsilbige Wort ,Spatz’ für das Unbedeutendere steht dem längeren Wort ,Taube’ für das Bedeutendere gegenüber; so auch im französischen  Sprichwort: ,tiens’ – das sonst obligatorische Subjektpronomen ,je’ fehlt, offensichtlich genau um dieser sinnunterstreichenden Wirkung willen – und ,tu l’auras’. Das italienische Äquivalent lautet: „Meglio un uovo oggi che una gallina domani.“ (Besser ein Ei heute als eine Henne morgen). Auch hier der Kontrast der Silbenzahl: un (eine) uovo (zwei) oggi (zwei) und una (zwei) gallina (drei)  domani (drei).

Dasselbe Prinzip gilt dort, wo Unverhältnismäßigkeit der Mittel herrscht – wenn nämlich mit (dreisilbigen) Kanonen auf (zweisilbige) Spatzen geschossen wird!