Logica verbale
An einem regnerischen Herbsttag 2016 kaufte ich in Mailand, der Stadt der Buchhandlungen, bei Feltrinelli ein Buch mit dem Titel Logica (Hoepli, Mailand 2016, ohne Verfasserangabe).
Es handelt sich nicht etwa um eines jener Werke, die kein Mensch freiwillig liest, weil ihre Seiten vom Spinnengewebe dürrer Tabellen und Wahrheitstafeln bedeckt sind, sondern um ein abwechslungsreiches Übungsbuch mit Testaufgaben plus Schlüssel.
Man kann es also verwenden wie ein Kreuzworträtselheft, etwa im Wartezimmer des Hausarztes; darin zu lesen ist um einiges bereichernder als die bleiernen Seiten des Einerleis Spiegel-Bunte-Focus-Stern zu wenden.
Logica bietet sprachliche, geometrische, arithmetische Aufgaben in buntem Wechsel. Das erste Kapitel, Logica verbale, behandelt unter anderem „premesse e conclusioni“. Es gilt zum Beispiel, kurze Texte daraufhin zu analysieren, welche unausgesprochenen Prämissen ihnen zugrundeliegen.
Jeder, der sich mit Texten beschäftigt weiß, dass es hier um Fundamentales geht. Was ein Text implizit mitteilt, ist oft wichtiger als das, was auf dem Papier steht. Für das Nichtaussprechen von Prämissen kann es verschiedene Gründe geben: etwa die Überzeugung, dass der Adressat des Textes weiß, worum es geht; Zeitmangel; Scham; vor allem: allgemeine kulturelle Voraussetzungen. Und: Es gibt Fälle, in denen Prämissen unerwähnt bleiben, um manipulativ der Diskussion entzogen und unterschoben zu werden.
Wiederholt musste ich in den letzten Monaten an Logica und die unausgesprochenen Prämissen denken, während ich die politischen Debatten in diesem Lande verfolgte.
In der Sendung Berlin Direkt äußerte sich im Dezember 2016 ein Michael Grosse-Brömer, Geschäftsführer der CDU/CSU Fraktion im Bundestag, zu Gefahren der Meinungsmanipulation im Wahlkampf.
Ich hatte seinen Namen nie gehört. Näheres über ihn wusste und weiß ich nicht. Wer wissen will, was ,die CDU’ will, dem reichen die Worte der Vorsitzenden A. Merkel. Um die Einlassungen ihrer Hofschranzen braucht sich in der Regel niemand weiter zu scheren, also auch nicht – jetzt kommt eine strenge Implikation ganz im Sinne von Logica – um die der Schranzen dieser Schranzen.
Der große Grosse-Brömer war es also, der äußerte, es gelte, „falsche Meinung“ – er benutzte ,Meinung’ als kollektiven Singular – vom Bürger fernzuhalten: „Im Netz sind ‘ne Menge Leute unterwegs, die destabilisieren wollen, die falsche Meinung verbreiten, die manipulieren wollen, und da muss Politik mit umgehen, insbesondere vor Wahlkämpfen.“
,Falsche Meinung’ – was steckt hinter dieser Formulierung? Nun, ganz offensichtlich die Prämisse: Ich und meinesgleichen verwalten die Trennlinie zwischen wahr und falsch, und jeder, der auf der falschen Seite steht, hat gefälligst das Maul zu halten, ganz einfach.
Außerdem: ,Destabilisieren’, ein transitives Verb, wird von ihm ohne Akkusativobjekt benutzt. Attackiert er diejenigen, die sich gegen die Fortdauer der sogenannten ,GroKo’ einsetzen?
Ein weiteres Beispiel. Im März 2018 debattierten in Dresden die Schriftsteller Uwe Tellkamp und Durs Grünbein öffentlich über die Masseneinwanderung nach Deutschland.
Grünbein vertrat die politisch korrekte Position, erntete erwartungsgemäß den Beifall der Presse und der GEZ-Journalisten und wurde – in jener üblich gewordenen Orwellschen Sprachumdeutung – auch noch als couragiert gepriesen. Mutig hatte er den allgemeinen Beifall der allgemeinen Ächtung vorgezogen; hier ergibt sich ein gewisses Problem mit logica verbale.
Uwe Tellkamp dagegen ,meinte falsch’, äußerte Unerwünschtes, sorgte für die gebotene flächendeckende Entrüstung. Die sächsische Wirtschaftsministerin Eva-Maria Stange (SPD) etwa sah sich bemüßigt, mitzuteilen, Tellkamps Ansichten seien eine „Privatmeinung, die ich nicht teile“.
Ein bemerkenswertes Statement. Im Weltbild der Eva-Maria Stange gibt es eine offizielle Linie, der es zu folgen gilt. Jede dissenting opinion ist irrelevant, weil nicht amtlich. Um eine solche Abweichlermeinung (und: ihren Vertreter) zu erledigen, reicht der bloße Hinweis, dass sie sich nicht mit der vorgegebenen Linie deckt, basta.
Nicht nach Bundesrepublik klang dieser Zungenschlag, sondern nach – DDR. Einer Eingebung folgend, suchte ich den Wikipedia-Eintrag dieser „deutschen Politikerin (SPD) und Gewerkschaftsfunktionärin“. Ich wurde fündig: „Stange war von 1981 bis 1988 Mitglied der SED und ist seit 1998 Mitglied der SPD“. Eine deutsche Karriere, nahtlos. Karrieren dieses Stils kennt die Geschichte der Bundesrepublik seit den frühen fünfziger Jahren.
Auch Tellkamps Verlag Suhrkamp schaltete sich ein. Er fühlte sich bemüßigt, nach der Debatte, am 9. März 2018, um 11:06 zu twittern:
Aus gegebenem Anlass: Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlages zu verwechseln.
Die Haltung des Verlages? Dass Individuen eine Haltung haben, haben sollten, sei unbestritten, aber ein Verlagshaus? Hier wird vorausgesetzt, dass die Mitarbeiter des Suhrkamp-Verlages so auf Vordermann gebracht sind, dass sie einen einzigen monolithischen Haltungsblock formen. Der Tweet war selbst der Süddeutschen Zeitung zu blöd, er werde „für Suhrkamp zum Bumerang“.
Beim WDR, so weiß man in Köln, muss jeder Hausmeister, jeder Parkwächter das SPD-Parteibuch haben – aber Suhrkamp? Es soll Zeiten gegeben haben, als der Suhrkamp-Verlag vielen als Fackelträger aufklärerischer Vernunft, unbequemen Denkens galt. Das muss Anno Tobak – anders formuliert: um 1968 herum – gewesen sein.
Neulich hat jemand zum ersten Mal erfolgreich gegen die Löschung eines Facebook-Eintrags geklagt. Wer seine Meinungsfreiheit verteidigen will – und damit die aller –, sollte das am besten in die eigene Hand nehmen. Auf Verlage wie Suhrkamp, auf Spiegel-Bunte-Focus-Stern oder Politiker wie die genannten braucht er dabei jedenfalls nicht zu setzen.