Realität&Fiktion
„Die Realität übertrifft die Fiktion“ – „La realidad supera la ficción“ ist ein spanisches Sprichwort. Wie wahr!
Im Jahre 2017 verstarb Jesús Tuson, einer der bedeutendsten katalanischen Sprachwissenschaftler, Professor für Linguistik an der Universität Barcelona. Neben seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk schrieb Tuson auch für das allgemeine Publikum.
Eines seiner erfolgreichsten Bücher ist Històries naturals de la paraula, Naturgeschichten des Wortes. In dieser Sammlung von Vignetten zu verschiedenen sprachlichen Themen geht es Tuson darum, die Wechselwirkungen zwischen sprachlicher Veränderung und Alltagsleben zu veranschaulichen. Er setzt sich für Respekt im Alltag gegenüber jeder Sprachgemeinschaft ein, auch der kleinsten. Wie zu erwarten, verteidigt er vor allem das Katalanische gegen die Vormacht des Spanischen, aber aus der Position eines Liberalen, nicht der des Eiferers.
Das Buch erschien zuerst 1998 und ist seitdem wiederholt nachgedruckt worden. Man merkt ihm seine über zwanzig Jahre nicht an, es könnte gestern geschrieben sein.
Mit einer einzigen, aufschlussreichen und befremdenden Ausnahme. In dem Kapitel „Wörter und Lügen“ („Paraules i mentides“) behandelt Tuson auch die Gängelungen seitens der „politisch-korrekten“ Sprache, die „privacions lingüístiques“, also den Raubbau an der Sprache, den er scharf kritisiert.
Jede Art von verordneten Sprachregeln, so schreibt er, löse jedoch immer auch eine Gegenbewegung aus. „Contra eufemisme, rebel·lió“ ist der Titel des Unterkapitels.
Die Zukunft werde zeigen, ob es den Hütern des Neusprech gelänge, uns in bester Orwell-Manier zu dressieren, oder ob der Aufstand der Tiere, „la revolta del animals“, sie von der Farm verjagen würde, ein Aufstand „gegen die soziale Heuchelei, gegen die Gängelungen durch einige Machtzentren, die die wahrhaftigen Namen der Dinge verbieten (que prohibeixen els noms veritables de les coses)“.
Was Tuson schreibt, muss 2020 jeden kritischen Geist in doppelter Hinsicht frustrieren. Denn zum einen wissen wir inzwischen: Aufstand? Keine Spur, vor allem (natürlich) hier in Deutschland nicht.
Eine so entschiedene Ablehnung des herrschenden Sprachregiments könnte sich kein deutscher Linguistik-Professor mehr ,herausnehmen‘. Wenn ein Liberaler wie Tuson einen solchen kritischen Text in einer Zeitung veröffentlichen wollte – in welcher sollte er das tun? Etwa in der ZEIT?!
Ein zweiter Punkt aber ist noch unerfreulicher. Für Tuson war es 1998 ein Zeichen der Hoffnung, ein Silberstreif, dass sich längst Satiriker des Themas „politische Korrektheit“ angenommen hätten: „Comença, doncs, la rebel·lió.“
Er nennt und zitiert ein Beispiel, eine satirische ,Übersetzung‘ (von James Finn Garner) des Märchens vom Rotkäppchen in die Denk- und Sprachwelt der Sprachkontrolleure.
Nur: 2020 ist die Satire längst real geworden. Vielen Lesern dürfte die Absicht gar nicht mehr auffallen. Einen Claus Kleber etwa, um das Beispiel dieses standhaft, ja glorreich humorfreien Sprachwarts zu nennen, wird kein Lachmuskel jucken, wenn er liest:
„Eines schönen Tages bat die Mutter Rotkäppchen, der Großmutter einen Korb mit frischem Obst und Mineralwasser zu bringen; keineswegs etwa, weil es typisch weibliches Verhalten wäre, so etwas zu tun, sondern als ein großzügiger Beitrag zur Stiftung von Solidaritätsbewußtsein (a crear un sentiment solidari).“
Längst sind ja alle möglichen Kinder- und Jugendbücher so oder ähnlich überarbeitet. Es gibt eine ganze neue Art von ideologischer Waffe gegen den Humor: Man macht aus Persiflage einfach Klartext.
Wirklich überraschend ist diese Beobachtung nicht, man denke an die Scherze vor einigen Jahren über freie Toilettenwahl des Individuums oder über immer neue Genderklassifizierungen. Erst war es Satire, dann wurde es real. In der englischsprachigen Welt ist seit Jahren der Aufschrei zu hören „1984 was a novel, not a blueprint!“. Umsonst.
Wer also persiflierend oder satirisch eigene Wortschöpfungen in die Welt setzt, könnte seine Persiflagen einige Zeit später von den Lippen eben jenes Claus Kleber hören, ex cathedra. Der wird übrigens für seine Gutsherrntätigkeit mit 600 000 Euro Bruttoverdienst pro Jahr entlohnt (ich habe es zuerst auch nicht geglaubt).
Die Kritiker sollten also aufhören zu spaßen, um die anderen nicht auf dumme Gedanken zu bringen.
Wie sagte doch Camille Desmoulins auf dem Weg zur Guillotine: „C’est ma plaisanterie qui m’a tué.“ Er hatte einen Witz über Saint-Just gemacht …