Das erfolgreichste lateinische Wort

Welches lateinische Wort ist das erfolgreichste? Und welche Wörter liegen auf Platz 2 und 3? Eine kryptische Frage – denn was bedeutet „erfolgreich“? Gemeint ist dasjenige lateinische Wort, das am häufigsten von allen aus dem Lateinischen stammenden Wörtern verwendet wird. Man wird dabei in erster Linie an die modernen romanischen Sprachen denken, die ja Äste des Latein-Baums sind. Aber auch weit über diese Sprachen hinaus sind lateinische Wörter in die Sprachen der Welt eingedrungen. Es lohnt also auch, einen Blick etwa auf Deutsch oder Englisch zu werfen.

Die häufigsten Wörter moderner europäischer Sprachen sind die Artikel, aber gerade da ist im Lateinischen Fehlanzeige. Wir kennen aus dem klassischen Latein weder den unbestimmten noch den bestimmten Artikel (im klassischen Griechisch existiert zumindest einer von beiden, der bestimmte: ἄνθρωπος, ein Mensch, ὁ ἄνθρωπος, der Mensch).

In den berühmten – etwas barsch anmutenden – Worten Quintilians (Inst. 1. 4,19): „Sermo noster articulos non desiderat:“ – „Unsere Sprache erfordert keine Artikel.“

Woher stammen also die Artikel in den modernen romanischen Sprachen? Dumme Frage! Aus dem Lateinischen natürlich, und zwar von unus, una, unum einerseits und ille, illa, illud andererseits.

Das Zahlwort unus ist mit dem deutschen ein und den englischen Artikeln a/an/one verwandt. Es bleibt in seiner Bedeutung unangetastet, wird aber auch als unbestimmter Artikel verwendet, und erhält sogar einen Plural, in der Bedeutung „einige“. Das ist ein Unterschied zum Lateinischen, wo der Plural zwar existiert, aber hauptsächlich für Pluralwörter, pluralia tantum, verwendet wird: una castra, ein (einziges) Lager, unae aedes, ein (=one) Haus.

Hier die breite Skala der Verwendung von unus, am Beispiel des Spanischen:

„número uno“ (Zahlwort); un amigo, unos amigos, una amiga, unas amigas; el uno – el otro (der eine –  der andere); „dame uno“ (gib mir einen); „uno se pregunta si“ (man fragt sich ob).

Diese letzte Verwendung hat im Französischen eine besondere Entwicklung durchlaufen. Das Wörtchen on bedeutet nicht nur man, sondern wird im Alltag auch für die 1. Person Plural verwendet: on se demande si= man fragt sich oder wir fragen uns.

Im Spanischen darf man den unbestimmten Artikel nicht mit otro,-a (ein anderer) oder medio,-a (ein halber) kombinieren. Die logische Begründung: Einer (uno) kann nicht zugleich jemand anderes (otro) oder ein halber (medio) sein; una media hora kann man nur im Sinne von ungefähr eine halbe Stunde verwenden.

Nimmt man noch Pronomina hinzu, in denen unus sich versteckt, z.B. algún/alguno/alguna (irgendeiner), ningún/ninguno/ninguna (keiner, im Spanischen ein Pronomen ohne Plural), dann erahnt man, welche ungeheure Frequenz das Wörtchen in dieser von 570 Millionen Muttersprachlern (Zahl von 2016) verwendeten Sprache hat.

Eine Sprache, in der unus in besonders vielen (unbestimmten) Pronomina steckt, ist das Italienische: qualunque (wer auch immer), certuno (jemand), taluno (jemand), chiunque (wer auch immer), ognuno (jeder) und mehrere weitere.

Und das ist beileibe nicht alles. Zahlreiche Wörter des Grundwortschatzes  europäischer Sprachen enthalten das Element unus: Uniform, Unikum, Union, Universität, Universum … . Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Diese Wörter gebraucht man auch in den United States of America, dem Land mit dem Staatsmotto „E pluribus unum“. Unus ist im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Allerwelts-Wort geworden.

Was nun die andere Reihe, ille, illa illud, betrifft, so lebt auch sie in den romanischen Sprachen fort. Deren Artikel entstanden aus den lateinischen Akkusativen dieser Pronomina: illum etwa wurde zu il (Italienisch), el (Spanisch), le (Französisch), o (Portugiesisch).

Ille, illa, illud hat sich die uneingeschränkte Monopolstellung als bestimmter Artikel erworben. Es hat sich nämlich gegen den Konkurrenten ipse, ipsa, ipsum durchgesetzt, der ebenfalls in der Spätantike und im Mittelalter nach der Artikel-Krone griff, heute aber weit abgeschlagen ist.

In einigen Teilen Kataloniens wird allerdings der article salat, mit einem Rest-S der Formen von ipse verwendet: es (statt el) seu poble=dein Dorf. Vor Eigennamen findet sich im Katalanischen auch der Artikel en: Has vist en Marc? – Hast du (den) Marc gesehen? Es handelt sich um eine Kürzestform des lateinischen dominus.

Im Rumänischen wurde illum an das jeweilige Bezugswort angehängt: domnul =dominum illum, doamna (im Unterschied zur Form ohne Artikel, doamnă)= dominam illam. In der Umgangssprache wird das maskuline End-L häufig fortgelassen. Das ist der Grund dafür, dass zahlreiche rumänischen Nachnamen auf -u enden: Dimitrescu, Fotescu, Rădulescu.

Von ille, illa, illud stammen auch alle spanischen Personalpronomina der dritten Person Singular und Plural, él (=er), le (ihm/ihr), lo (ihn/es), la (sie) plus die dazugehörigen Plurale. In der Schreibweise wird im Spanischen das Personalpronomen él durch den Akzent vom Artikel el unterschieden, im Katalanischen dagegen durch ein doppeltes l: el (Artikel), ell (Pronomen). Beide Sprachen verwenden dieses Doppel-L in den anderen Formen des Personalpronomens: uno de los dos (Spanisch), uno dels dos (Katalanisch): einer von den beiden; uno de ellos (Spanisch), uno dells (Katalanisch): einer von ihnen.

Ein aufschlussreiches Beispiel für den Übergang vom Demonstrativpronomem zum Personalpronomen ist der Wahlspruch des Ritterordens: Deus lo vult.

Während das spanische les korrekt von illis abgeleitet ist, steht das entsprechende französische leur im ,falschen‘ Fall, denn es stammt von dem Genitiv illorum, wie auch sein italienisches Pendant loro.

Im Portugiesischen verschmolzen die beiden Akkusative illum (mask.) und illud (neutr.) miteinander und zeugten den Winzling o. Beispiele: o artigo, der Artikel, faço-o, ich tue es. Die übliche Aussprache als [u], sowohl in Portugal als auch in Brasilien, verrät jedoch immer noch die Herkunft dieses o.

Auch das Demonstrativpronomen aquel, aquella (jener, jene) darf nicht unerwähnt bleiben. Ille dient aber auch zur Bildung der extrem häufigen Ortsadverbien allí (von illic) und allá (von illac, das französische là). Und der bestimmte Artikel wird in Relativsätzen verwendet: „el problema del que/del cual hablamos“ (das Problem, von dem wir sprechen), genauso auf Italienisch: „il problema del quale parliamo.“

Bemerkenswert ist die Kombination des bestimmten mit dem unbestimmten Artikel im Französischen in Formulierungen wie l’un des meilleurs, einer der besten; spanisch: uno de los mejores.

Im Italienischen und im Französischen üblich ist das Pronomen lui, wie z.B. in C’est lui qui a dit cela. Es ist das lateinische illui, eine Alternativform zum Dativ illi. Die -ui-Endung entstand unter dem Einfluss der Form cui (Dativ des Frage- und des Relativpronomens).

Die Waagschale dürfte sich also zugunsten des bestimmten Artikels neigen – damit ist ille, illa, illlud bis zum Beweis des Gegenteils das erfolgreichste lateinische Wort!

Wer liegt auf Platz 3? Weitere Allerweltswörter, die fortleben, gibt es zuhauf, aber eines von ihnen, que, ragt in den romanischen Sprachen hervor. Im Spanischen als Fragepronomen, z.B. qué (was), por qué (warum), als Relativpronomen, als Teil zahlreiche häufiger Konjunktionen, z.B. porque, weil, aunque, obwohl, in Vergleichen: mejor que, französisch mieux que (besser als).

Und trotzdem finde ich hier keinen Kandidaten für Platz 3, denn im Fall que handelt es sich um einen Zusammenfluss aus verschiedenen lateinischen Wörtern, nicht um ein einziges Wurzelwort: quid (=französisch quoi, rumänisch ce), quem und quam. Platz 1 und Platz 2 festzulegen ist daher bedeutend einfacher, als den dritten Platz zu bestimmen. Die Frage bleibt also hier ungeklärt.

Wie man jedenfalls sieht, erfreut sich das Lateinische bester Gesundheit, getreu dem Spruch „Totgesagte leben länger.“ In den Worten des katalanischen Sprachwissenschaftlers Jesús Tuson (die Unterstreichungen sind von mir):

El llatí (del qual es diu impròpiament que és una llengua morta) es va anar transformant a poc a poc i es va fragmentar en les llengües romàniques actuals, de manera que el llatí encara és viu en la seva descendència“ (Històries naturals de la paraula, Barcelona 2014, S.88). 

„Das Lateinische, von dem in unangemessener Weise gesagt wird, es sei eine tote Sprache, veränderte sich nach und nach und zerfiel in die modernen romanischen Sprachen, so dass das Lateinische in seiner Nachkommenschaft immer noch lebt.“

Hier stört nur der irreführende Begriff descendència: Nicht um Deszendenz geht es, sondern um Evolution, um die – wie zu Anfang bemerkt – Äste ein- und desselben Sprach-Baumes, der lingua Latina. Illa arbor semper viridis linguarum.

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