Böse Blicke auf den bösen Blick – „Ești privit fix …“

Dass es sich stets lohnt, Blicke von außen auf das eigene Land zur Kenntnis zu nehmen, liegt auf der Hand. Was aus der Nähe selbstverständlich erscheint, muss aus der Außenperspektive keineswegs so sein, und man sollte ja stets die eigenen Denk- und Verhaltensmuster kritisch prüfen.

Die rumänische Netz-Zeitung Ziarul Românesc Germania richtet sich an Rumänen, die in Deutschland wohnen, bietet aber auch Informationen und Hilfen für solche Mitbürger, die erwägen, nach Deutschland zu ziehen, um hier zu leben und zu arbeiten.

Im April 2019 erschien dort ein Artikel mit dem Titel Nouă lucruri interesante despre viața în GermaniaNeun interessante Dinge über das Leben in Deutschland. ,Interessant‘ bedeutet natürlich, für Menschen, die nicht mit dem Leben hier vertraut sind. Hier die neun Punkte:

1. Der Fußball ist eine Religion. 2. Das deutsche Brot ist köstlich. 3. 16 Uhr bedeutet 15.55, man sollte immer 5 Minuten früher zu Verabredungen erscheinen. 4. Der Sonntag ist für die Erholung im Kreise der Familie da. Die allermeisten Geschäfte sind zu. 5. Sonntag nachmittags gibt es Kaffee und Kuchen. 6. ,Wie geht’s?‘ und ,Was machst du so?‘ sind reale Fragen, keine bloßen Grußfloskeln. 7. Deutsche haben Humor, so schwer das zu glauben ist. 8. Du wirst ständig beobachtet. 9. In Deutschland zieht man Barzahlung vor.

Natürlich sind diese neun Sätze nicht als hieb- und stichfeste, allgemeingültige Regeln gemeint. Das gilt bereits für Nummer 1.

Wenn sie auf jeden zuträfe, wäre ich kein Deutscher. Denn mich kümmert die ganze Balltreterei nicht die Bohne, und meine geringe Aufmerksamkeit für internationale Turniere ist endgültig erloschen, seit die Nationalmannschaft nur noch ,Mannschaft‘ heißt und, das meine ich wenigstens mitbekommen zu haben, verliert statt siegt.

Geht man die Liste durch, dann werden viele Leser einen Punkt besonders bemerkenswert finden, und er betrifft weder Fußball, noch Kaffee und Kuchen, noch deutsche Humorversuche.

Sondern Nummer 8: Du wirst ständig beobachtet. Hier die Regel und ihre Erläuterung:

8. Ești privit fix tot timpul

Germanii au o privire fixă: fie că e bătrâna doamnă de alături, care vă urmărește fiecare mișcare, sau copilul care stă în faţa voastră în metrou. În Germania, un schimb intens de priviri este un un eveniment zilnic, până la punctul în care imigranții și turiștii l-au poreclit „Privirea germană“.

8. Du wirst die ganze Zeit angeschaut

Die Deutschen haben einen starren Blick: sei es die alte Dame von nebenan, die jede eurer Bewegungen verfolgt, sei es das Kind euch gegenüber in der U-Bahn. In Deutschland ist ein intensiver Blickwechsel alltäglich, so sehr, dass Einwanderer und Touristen dafür den Begriff Privirea germană, ,der deutsche Blick‘, geprägt haben.

Schaut man im Google nach, so findet man jedoch nur ganz vereinzelt diese Wortgruppe (in dieser Bedeutung), der Begriff scheint also der mündlichen Kommunikation verhaftet zu sein, und/oder er wird mit anderen Worten umschrieben.

Anders sieht es mit der englischen Version aus, ,the German stare‘, die offensichtlich international üblich ist. Der Hilfeschrei eines Opfers:

„The German Stare. Is it a cultural thing? I mean folks do it in the States occasionally but since I’ve been here I feel like everywhere I go I get the stare down.“

Klagen über dieses Angeglotztwerden in Deutschland sind im ganzen angelsächsischen Sprachraum häufig, denn von Kindesbeinen an wird dort die Regel vermittelt, andere nicht mit dem Blick zu belästigen („Don’t stare“), zusammen mit dem Verbot, anderen ins Gesicht zu gähnen oder beim Essen zu schmatzen.

Und, das sei klar gesagt: Während etwa in der Londoner U-Bahn alle aus Gründen der Höflichkeit den unerwünschten Blickkontakt vermeiden, gibt es in Deutschland tatsächlich zahlreiche Zeitgenossen, die nicht merken, wie unangenehm ihr Glotzen auf andere wirkt. Und auf jemanden, der das nicht kennt und nicht vorgewarnt ist, etwa einen Neuankömmling aus dem freundlichen Rumänien, dürfte diese Form der Aufdringlichkeit in der Tat irritierend wirken.

Ab wann ist Blicken Glotzen? Hier eine klare Definition: Auf der Seite Entrepreneur Europe fragt ein Amerikaner, Gene Marks, am 21. Juni 2018 „Is It Sexual Harassment to Stare at Another Employee for More Than 5 Seconds?“

Seine Antwort: Ja. „Yes, but if your parents didn’t teach you it’s impolite to stare at people it will sound ridiculous when well-mannered adults write a rule against it.“

Aus dem genannten Titel geht nicht hervor (denn employee wird ja für beide Geschlechter verwendet): Der ganze Artikel von G. Marks, einem Unternehmer aus Philadelphia, handelt nur von starrenden Bürohengsten, nicht von Bürostuten. Wenn man Marks folgt, hat die Natur es anscheinend so eingerichtet, dass das Phänomen des Glotzens nur bei Männern vorkommt.

Ein eklatanter Widerspruch zu den Beobachtungen aus Rumänien allerdings. In dem Text aus der rumänischen Zeitung ist die legendäre ,Dame von nebenan‘ das allererste Beispiel, siehe oben!

Der Artikel von G. Marks bietet einen faszinierenden Einblick in das Ideal aseptisch-unanfechtbaren (vor allem: nicht justiziablen!) Umgangs der Geschlechter in den USA. So dekretiert etwa der Autor, das winzigste Kompliment eines Mannes gegenüber einer Frau – etwa zu einem neuen Schal, zu neuen Schuhen – sei ein schwerer Sitten-Verstoß.

So berechtigt der Kampf gegen sexuelle Belästigung ist, und auch wenn es Männer geben mag, die Don Draper-Zeiten nachtrauern, diese Dogmatik zerstört jedenfalls das so oft gerühmte und geforderte entspannt-kollegiale Miteinander am Arbeitsplatz.

Es ergeben sich zahlreiche weitere Fragen, die hier nicht  weiter diskutiert werden sollen.

Etwa, ob nicht das konstante Verweigern solcher verbalen Höflichkeiten gerade eine Form der Ungehobeltheit ist, etwa wenn sie zuvor seinen neuen Schal gewürdigt hat … .

Oder, viel tiefergehend: Wieviel kapitalistische Exploitation der Arbeitskraft, wieviel angestrebte Profitmaximierung steckt eigentlich hinter solchen Vorschlägen, die den Arbeitsplatz vom  Allzu-Menschlichen säubern wollen?

Rhetorisch fragt Marks:

„Do I gaze? Do I stare?“ (…) No, I don’t do any of this stuff.“ Das Ich in Marks‘ Zitat ist er selbst, der sich als Verhaltensmodell darbietet.

Idee: Gegen das Gaffen der Hengste am Arbeitsplatz könnte man eine Apparatur entwickeln, etwa eine Art Fitness-Armband plus Zeitschaltuhr, das beim Überschreiten des Zeitlimits der 5 Sekunden dem Büro-Glotzer einen Stromstoß versetzt. Das Tragen im Büro muss dann – natürlich nur für Männer – obligatorisch gemacht werden, der Stromstoß für Wiederholungstäter erhöht werden. Das würde zugleich auch deren Arbeitsleistung steigern, pardon, ihre performance boosten