Geist und Schrei

Im achten Jahrhundert vor Christus übernehmen die Griechen die Schrift von den Phöniziern – aber sie ergänzen die Konsonantenschrift durch die Vokale und formen so das griechischen Alphabet.

Eine kühne Veränderung, das ist jedoch nicht alles; Joachim Latacz schreibt in seinem großen Homer-Buch*:

„Die Literalität des Abendlandes hätte einen anderen Verlauf genommen, hätten die Griechen damals [=bei der Übernahme des Alphabets von den Phöniziern] im gleichen Geist gehandelt wie später ihre etruskischen, römischen und mittelalterlichen Nachfolger: diese alle übernahmen von ihren jeweiligen Lehrmeistern zusammen mit der Schrift auch die Literatur (und eben dadurch ist die einheitliche Literatur von Homer bis zur Literatur der Gegenwart ermöglicht worden). Die Griechen als einzige entschieden damals anders. Sie lösten das Instrument von den Produkten ab und nutzten es zur Schaffung einer eigenen Literatur. Die Werke, die sie an den Anfang des auf diese Weise neubegründeten Literalitätsstrangs stellten, waren nicht Fremdimporte, sondern Schöpfungen des eigenen Geistes: Ilias und Odyssee.“

Mit den beiden ersten europäischen Großtexten, Ilias und Odyssee, beginnt nicht nur die Dichtung der westlichen Welt, sondern die Textualität. Hellenische Geistesblitze findet auf Schritt und Tritt, wer sich mit der Kultur der Griechen befasst. (Ich habe mich hier auf diesem Blog schon einmal mit diesem Thema befasst, am 3. Mai unter dem Titel „Von Göttern und anderen Spitzbuben“.) Man hat diese exorbitanten geistigen Leistungen in früheren Zeiten schlicht damit erklärt, die Griechen seien offenbar ein überdurchschnittlich intelligentes, besonders kreatives Volk gewesen. Über einen Dozenten, der sich an einer deutschen Universität der Jetztzeit so äußerte, würde ein Riesen-Shitstorm hereinbrechen.

,Buntheit‘ und Toleranz verfechtende ,Studierende’ würden statt zu studieren seine Vorlesung sprengen. Danach würde die Universitätsleitung sich bei ihnen (natürlich nicht: bei dem Sprecher) entschuldigen und ihnen für ihr couragiertes Handeln danken; der Dozent wäre in Acht und Bann. Warum? Weil wer die Griechen besonders intelligent nennt, Intelligenzunterschiede zwischen Völkern zulässt, das aber ist ,rassistisch’.

Nach dem Verhallen dieses ,Aufschreis’ aber wäre nicht der kleinste Schritt zur  Widerlegung der Ausgangshypothese getan. Im Gegenteil: Sollten jene Gruppen von ,Studierenden’, die an unseren Universitäten den politisch korrekten Ton angeben, wirklich zu Deutschlands geistiger Vorhut zählen, so spräche das für die Existenz solcher Unterschiede, ja es wäre ein recht eindeutiger Indikator dafür, dass wir Deutschen zu den Unter(st)belichteten gehören (es gäbe da noch ein paar weitere Belege…).

Als vor ein paar Wochen ,Studierende’ der Universität Köln sich bei der Hochschulleitung darüber beschwerten, dass auf dem Universitätsgelände tätige Bauarbeiter T-Shirts der Marke Thor Steinar trugen, wurde den BeschwerdeführerInnen nicht etwa wegen erwiesener Blödheit umgehend die Zwangsexmatrikulation zugestellt.

Nein, an die BauarbeiterInnen erging die Anweisung, sich gefälligst anders zu gewanden! Man vergleiche dazu den wohlwollenden Artikel in der ,Welt’ vom 14. 5. 2018 („Uni Köln verbietet Bauarbeitern das Tragen von Thor-Steinar-Shirts“), der auf der Webseite unter das Stichwort ,Neutralitätsgebot’ gestellt ist; bei Springers (A. Merkels) Flaggschiff ist Borniertheit offenbar nicht hinreichende Bedingung für den Rauswurf, sondern notwendige Bedingung für die Anstellung.

„Der AStA machte den Vorgang vergangene Woche auf seiner Facebook-Seite öffentlich und rief dazu auf, die Augen offenzuhalten. ,Falls es dennoch zu weiteren Fällen kommen sollte, wäre es sehr hilfreich, wenn bei Meldungen der genaue Standort (das Gebäude, an dem gearbeitet wird) und der genaue Zeitpunkt genannt wird’, schrieb das Studierendengremium in dem Eintrag mit der Überschrift ,Gegen rechte Kleidung an der Uni.’“

,Rechte Kleidung‘? Frage: Zählen dazu auch Klamotten des legendären Herrenmoden-Ladens Braun in Hamburg?

Schritte dieselbe Kölner Hochschulleitung gegen irgendein ,Antifa’- oder Dschihad-T-Shirt ein, es erhöbe sich ein Aufschrei wie Donnerhall, und zwar aus denselben Kehlen wie zuvor gegen die Bauarbeiter. Der Shitstorm ist eben seinem Wesen nach kein stream of arguments, sondern ein storm of shit.

 

* Homer – Der erste Dichter des Abendlandes, 2., durchgesehene Aufl., München und Zürich (Artemis) 1989, S. 29