Homeoffice – im vorletzten Jahrhundert

Hermann Menge (1841-1939) ist einer der produktivsten deutschen Philologen gewesen und gewiss einer der besten (der beste?) Kenner der alten Sprachen.

Die heutigen Langenscheidt-Wörterbücher aller Größenordnungen des klassischen Griechisch (1) und des Lateinischen entstammen seinen Zettelkästen, und zwar jeweils Griechisch – Deutsch und Deutsch – Griechisch, Latein – Deutsch und Deutsch – Latein.

Dazu kommen Handbücher der griechischen und lateinischen Stilistik, Übungsbücher und – last but not least – die akribische Übersetzung der ganzen Bibel aus den hebräischen und griechischen Urtexten.

Ein Bekannter Menges berichtet: „Ich bat ihn, aus seinem Leben zu erzählen. Da breitete der fast Hundertjährige ein Leben vor mir aus von wahrhaft fleißiger Arbeit und nimmermüder Hingabe. In launiger Weise sagte er unter anderem: ,Ich habe eigentlich in meinem Leben nur am Schreibtisch gesessen. Ich kenne nicht das Meer und nicht das Gebirge. Ich verstehe nichts von Schiffen und nichts von der Technik. Ich weiß so recht gar nichts von dem, was die Welt weiß; aber ich habe mich bemüht, in meinem Fach etwas Leidliches zu leisten. Wenn ich mit meiner lieben Frau früher zu ihrer Erholung in einen Badeort fuhr, war mein erster Blick, ob in unserm Hotelzimmer auch ein Tisch stünde, an dem ich arbeiten könnte. Dort packte ich meine Bücher aus und habe von morgens früh bis abends spät wieder über den Büchern gesessen. Mit Recht sagte meine liebe Frau zu mir: ,Hör einmal, arbeiten kannst du doch auch zu Hause!‘ Worauf ich antwortete: ,Ja, du hast auch recht!‘ Und so sind wir dann lieber wieder nach Hause gefahren.“ (2)

Wer sich mit Menges Übungsbüchern beschäftigt, wird in doppelter Hinsicht beeindruckt sein: sowohl von den immensen Sprachkenntnissen des Verfassers als auch von dem  Anspruchsniveau, dem sich Schüler und Studenten gegenübersahen. Kein Vergleich mit dem dünnblütigen Sprachunterricht unserer Tage. Eine Kostprobe:

„Übersetze INS LATEINISCHE:

Obwohl Dionysios, der Tyrann von Syrakus, von braven Eltern und aus einem geachteten Haus stammte  – freilich lautet die Überlieferung hiervon bei den verschiedenen Schriftstellern verschieden –, und obwohl er auch zahlreiche Altersgenossen zu Freunden hatte und den Umgang mit Verwandten genoß, traute er doch keinem von ihnen, sondern überließ den Schutz für seine Person Sklaven und Ausländern und hatte sich, weil er infolge seiner unberechtigten Herrschbegier nirgends sicher zu sein meinte, gewissermaßen selbst in einen Kerker eingeschlossen.“

Der, nun, vielleicht ein wenig unübersichtliche Satz stammt aus den Materialien zur Erlernung und Wiederholung der lateinischen Grammatik von Hermann Menge (1. Auflage 1885), einem Übungsbuch für Oberstufenschüler. (3)

(1)    Ich vermeide das Wort ,Altgriechisch‘.

(2)    Fritz Schmidt-König, Hermann Menge. Vom Gymnasialdirektor zum Bibelübersetzer, Gießen (Brunnen), 1956, S. 44.

(3)    Zitiert nach der 6. Auflage 1914; S. 145.