Leserzuschrift – Nachtrag zu meinem Eintrag vom 3. 5. 2018 (,Von Göttern und anderen Spitzbuben‘)

Ein freundlicher Leser meines Blogs hat mich auf folgendes Zitat von Spinoza aufmerksam gemacht, das das Fortwirken des Xenophanes illustriert:

„(…), denn ich glaube, wenn ein Dreieck nur reden könnte, würde es geradso sprechen, Gott sei eminent dreieckig, und ein Kreis, die göttliche Natur sei im eminenten Sinne kreisförmig (…)“ (Spinoza in einem Brief an Hugo Boxel im Herbst 1674; zitiert nach „Die Ethik – Schriften und Briefe“, Alfred Kröner Verlag 1976, S. 333)

Der Leser fügt zurecht hinzu: „So originell war Feuerbach also nicht!“

Im Pantheon mit Don Quijote oder: Bekanntsein um jeden Preis

Unter den unzähligen merkwürdigen Geschichten, die das Meisterwerk des Cervantes so lesenswert machen, ist auch die folgende, die der hochedle Ritter seinem Knappen erzählt:

„Der Kaiser Karl V. wollte [in Rom] jenen berühmten Rundtempel besichtigen, der in der Antike Pantheon, Tempel Aller Götter, hieß und jetzt, mit besserem Namen, die Kirche Aller Heiligen. Es handelt sich um das vollständigste Gebäude, das von denen, die während der heidnischen Zeit errichtet wurden, geblieben ist, und es ist dasjenige, das am meisten den Ruhm der Erhabenheit und der Großzügigkeit seiner Erbauer bewahrt.

Es hat die Form einer Apfelsinenhälfte und ist äußerst groß und sehr hell, ohne dass aus einer anderen Richtung Licht einträte als aus einem einzigen Fenster, besser gesagt einer runden Öffnung ganz oben. Von ihr aus betrachtete der Kaiser das Gebäude, und an seiner Seite war ein römischer Ritter und erklärte ihm die Vorzüge und Feinheiten jenes gewaltigen Baus, jener merkwürdigen Architektur.

(Das Foto stammt aus Eckart Peterich, Rom. Ein Führer. München 1990, S. 329)

Nachdem sie die Öffnung verlassen hatten, sagte er zum Kaiser: ,Tausendmal kam mir, Heilige Majestät, das Verlangen, Eure Majestät zu umarmen und mich zusammen mit Ihnen nach unten zu stürzen, um mir so ewiges Andenken auf der ganzen Welt zu verschaffen [por dejar de mí fama eterna en el mundo].’ ,Ich danke Euch,’ lautete die Antwort des Kaisers, dass Ihr eine so schlimme Absicht nicht in die Tat umgesetzt habt. Von nun an werde ich Euch keine Gelegenheit mehr bieten, einen Beweis Eurer Loyalität abzulegen, und so befehle ich Euch, mich nie wieder anzusprechen, noch irgendwo zu sein, wo ich mich aufhalte.’ Und nach diesen Worten machte er ihm ein großes Ehrengeschenk.“

(II, 8. Übersetzt nach der Ausgabe von M. de Riquer, Barcelona 1968, S. 592f.)

Ich musste bei der Lektüre an die Bluttat von Münster denken, wo jemand viele Unschuldige verletzte oder mit sich in den Tod riss: Welche Gedanken auch immer diesem (Selbst-)Mörder durch den Kopf gingen, einer war jedenfalls der an das Aufsehen, das er erregen würde, an die Schlagzeilen.

Thema der von Cervantes erfundenen Anekdote über Karl V. (1500 – 1558) ist nicht die Sucht nach Ruhm, die cupiditas gloriae, wie Plutarch sie Julius Cäsar bescheinigt, sondern nach bloßer Bekanntheit. Deshalb spricht der römische Ritter auch nicht von ,gloria eterna’, sondern von ,fama eterna’, die er nicht für eine Tat, sondern für eine Untat geerntet hätte – wäre er seinem Impuls gefolgt. Don Quijote erwähnt einen vergleichbaren Fall, dieses Mal ein reales Ereignis aus der Antike, nämlich die Untat des Herostrat.

Herostrat (Ἡρόστρατος), ein Bürger von Ephesos, steckte 356 v. Chr. den dortigen Tempel der Artemis an – eins der Sieben Weltwunder –, um seinen Namen zu verewigen, wie er nachher auf der Folter gestand. Er, ein Niemand, zum kleinsten kreativen Akt unfähig, beging den der maximalen Zerstörung. Was nun geschah, berichtet Aulus Gellius in seinen Noctes Atticae (Buch II, Kap. 6): Die kleinasiatischen Griechen hielten eine Nationalversammlung ab, auf der sie beschlossen, nie dürfe jemand den Namen des Frevlers nennen. Gellius führt den Vorfall an, um den Begriff ,inlaudatus’ zu erläutern. Ein ,inlaudatus’ ist jemand, der es nicht verdient, genannt zu werden, er ist weder der Erwähnung noch der Erinnerung würdig: „neque mentione aut memoria ulla dignus“.

Trotz dieses Beschlusses überlieferte der zeitgenössische Historiker Theopompos von Chios den Namen des Herostrat und verhalf ihm so ans Ziel. Sir William Smith bringt es im Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology auf den Punkt: „Theopompos embalmed him in his history, like a fly in amber“.

Der Drang nach allgemeiner Bekanntheit oder oberflächlicher Popularität blieb nicht auf frühere Zeiten beschränkt. Das braucht dem Fernsehzuschauer oder YouTube-Nutzer keiner zu erklären. Auch nicht: dass dieser Drang stärker sein kann als Anstand und Scham, die bei dem römischen Ritter die Oberhand behielten. Der Menschenschlag, der Bekanntheit sucht, findet sich heute wie damals; er tobt sich zumeist in Politik und Unterhaltung aus.

Man denke an boshafte Proletkomiker wie S. Raab und J. Böhmermann, den Sprecher des Dezernats ,Humor’ beim GEZ-Meinungssender ZDF. Statt ihr Brot ehrlich zu erwerben, füllen sie ein paar Jahre lang den Bildschirm mit ihren Visagen, bevor sie schließlich samt ihren Unappetitlichkeiten wieder ,von der Bildfläche’ in den Orkus verschwinden – finanziell allerdings deutlich besser gestellt als zuvor. Weitere Exempel: Schrägstimmige Sänger(innen) setzen sich den Kommentaren eines D. Bohlen aus, andere Ruhmgierige suhlen sich derweil im Spinnen- und Schlangenmorast des Dschungelcamps.

Ihr Traum heißt Ruhm plus Geld ohne Leistung, und das am besten möglichst lange. Dieses Phänomen der instant celebrity ist im angelsächsischen Sprachraum bereits in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit aller Klarheit beschrieben worden.

1966 nannte die britische Rockgruppe The Troggs ihr erstes Album ,Aus dem Nichts’ (From Nowhere). Ein anderer Sixties-Star, das Model Twiggy, die Spindeldürre, war immerhin schlau genug, auf dem Höhepunkt des ,Ruhms’ zu begreifen: „I may not be around here for another six months.“

Von Göttern und anderen Spitzbuben

πάντα θεοῖσ‘ ἀνέθηκαν Ὅμηρός θ‘ Ἡσίοδός τε,

Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt,

ὅσσα παρ‘ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν,

was bei den Menschen Schimpf und Schande bringt:

κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν.

Stehlen, Ehebrechen und einander Hereinlegen. 

Diese griechischen Verse sind mir schon lange geläufig, erst neulich aber habe ich mir die Mühe gemacht, mich näher mit ihrem Kontext zu beschäftigen, und das, obwohl ich seit Jahren zwei hervorragende Hilfsmittel besitze.

Zum einen die einsprachig deutsche Textsammlung ,Die Fragmente der Vorsokratiker’ von Hermann Diels, ein Rowohlt-Taschenbuch von 1963 (Erste Auflage: 1957), das ich vor Jahren auf einem Flohmarkt erwarb, zum anderen die gleichnamige Edition (Text und Kommentar) der zentralen griechischen Texte von Franz-Josef Weber (Paderborn, Schöningh 1976), ein Geschenk meines Bruders.

Der Autor ist Xenophanes, einer der frühesten europäischen Denker, ein Vorsokratiker. Xenophanes stammte aus Kolophon an der kleinasiatischen Küste, in Jonien, und lebte, so die Überlieferung, etwa 100 Jahre, zwischen ca. 570 und ca. 470 vor Chr. Von seinen Werken sind uns nur Fragmente überliefert – mit denen zu beschäftigen sich auch im Jahre 2018 lohnt.

Den Großteil seines langen Lebens verbrachte er fern seiner Heimat auf der Wanderschaft als fahrender Sänger, nachdem er vor den Persern nach Italien geflohen war.

Ja, es sind nur ein paar Textscherben, die uns nach über zweieinhalbtausend Jahren von ihm vorliegen, aber glücklicherweise tritt uns aus ihnen der Mensch Xenophanes vor Augen, ein Mann von kauzig-liebenswürdigem Humor. So teilt der Uralte uns etwa mit, schon 67 Jahre sei er jetzt durch die hellenische Welt gewandert, und zwar seit seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr – „wenn ich mich hier nicht verrechne“.

Von einem fahrenden Sänger erwartete man, dass er die Gedichte Homers vorzutragen verstand, und trotzdem richtet Xenophanes an ihn und an den anderen großen griechischen Dichter, Hesiod, den oben wiedergegebenen Vorwurf. Denn der ewig wandernde Xenophanes hat sich auf seinen Wegen mit weitaus mehr beschäftigt als mit dem Memorieren von Versen, er war ein eigenwilliger Kopf. Scharf wendet er sich gegen die gängigen anthropomorphen Vorstellungen von den Göttern:

„Hätten die Rinder und Pferde und Löwen Hände, könnten sie malen und Bildwerke schaffen wie Menschen, dann würden die Pferde die Götter als Pferde, die Rinder sie als Rinder porträtieren! Sie würden Statuen meißeln, die ihrer eigenen jeweiligen Körpergestalt entsprächen.“

Und: „Die Äthiopier behaupten, die Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker aber, sie seien blauäugig und rothaarig.“

Anschaulich konkretisiert, glänzend despektierlich formuliert, tausendfach zitiert, ist seine Religionskritik bis heute die berühmteste Attacke auf den Anthropomorphismus.

Der Gipfel des Widersinns aber ist für ihn, den Göttern auch noch menschliche Schandtaten anzudichten. Das ist der Sinn der obigen Verse, die aus seinen σίλλοι stammen, Spottgedichten, in denen sich Hexameter und Jamben abwechseln; das oben zitierte Fragment ist – was meine Prosaübersetzung nicht widerspiegelt – rein hexametrisch.

Man kann nicht an Göttliches, an Absolutes, glauben, und zugleich den Göttern Menschliches und Allzumenschliches unterstellen. Welche Schandtaten meint Xenophanes im dritten Vers? Einige Beispiele:

Stehlen: Prometheus stiehlt, so Hesiod, Zeus das Feuer. Im homerischen Hermeshymnus stiehlt Hermes, wegen seiner Verschlagenheit der Gott der Diebe, die 50 Rinder des Apoll.

Ehebrechen: Im achten Buch der Odyssee begehen Ares und Aphrodite Ehebruch: „Komm ins Bett, meine Liebe! Wir wollen uns legen und uns erfreuen (τραπείομεν). Denn [dein Ehemann] Hephaistos ist nicht mehr im Lande.“ (292ff.).

Einander hereinlegen: Im 14. Buch der Ilias täuscht Hera Zeus, damit Poseidon den Griechen beistehen kann. Sie benutzt dazu den Gürtel der Aphrodite, der sie unwiderstehlich macht, um die Gedanken ihres – ohnehin stets lüsternen – Gatten auf Sex abzulenken.

Aus den Fragmenten des Xenophanes seine Religionskritik zu entnehmen ist einfach, seine eigene Theologie zu rekonstruieren schwierig. Vor allem eine zentrale Frage ist nicht definitiv zu beantworten: War Xenophanes strikter Monotheist oder ließ er die Götter unter der Oberherrschaft eines einzigen Gottes fortbestehen?

„Der eine Gott (εἷς θεός), unter Göttern und Menschen am größten (μέγιστος), gleicht weder dem Körper, noch dem Geist nach den Sterblichen“, er ist „ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr“. Er lässt das Weltall mit seiner Geisteskraft erbeben (κραδαίνει). Im Gegensatz zu den gerne auf der Erde herumwandernden Göttern der Tradition bewegt er sich selbst nicht, ein abstraktes Lebensprinzip, das alles Lebendige durchwaltet.

Dieser Gott ist kein Zeus, kein Göttervater, und es ist schwer nachzuvollziehen, welchen Platz Xenophanes den anderen Götter zubilligt (sieht er sie etwa als Lokalgötter?), und worin ihre Göttlichkeit besteht; menschenähnlich sind sie jedenfalls nicht. Es ist jedoch die These vertreten worden, sein Hinweis auf ,die Götter’ sei bloße literarische Konvention, gehöre also in den Bereich der Stilistik.

In jedem Fall trägt Xenophanes einen kühnen Doppelangriff vor, auf die geistigen Urväter Griechenlands und auf die Götterwelt. „Nach (=gemäß) Homer“ so heißt es in einem anderen seiner Fragmente, „haben alle von Anfang an gelernt.“ Für „haben gelernt“ steht im Original das Perfekt ,μεμαθήκασιν’,  nicht die Vergangenheitsform des Aorists. Das Perfekt betont nicht den vergangenen Vorgang, sondern das jetzt vorliegende Endresultat: Sie sind in ihrem ganzen Denken von Homer geprägt. Es ist dies die erste uns überlieferte Kritik an Homer und an seiner erzieherischen Wirkung überhaupt.

Ein anderer Vorsokratiker, Heraklit, wird diesen Angriff in rüder Form steigern: Homer verdiene „ἐκ τῶν ἀγώνων ἐκβάλλεσθαι καὶ ῥαπίζεσθαι“, aus den Dichterwettkämpfen herausgeworfen und durchgeprügelt zu werden.

Xenophanes demontiert den traditionellen Götterglauben: Ihr Bild trivialisierend zu verzerren ist der dreiste Versuch des Menschen, sich Götter nach seinem Ebenbild zu erschaffen.

Was war das für ein geistiges Klima, in dem die Vorsokratiker wirken konnten? Aus welchen Gründen stand die Wiege von Mathematik, Naturwissenschaft, Philosophie – das Wort φιλοσοφία hat erst später Platon geprägt –  in Jonien?

Durch die Lage am Meer war Jonien sperrangelweit offen für den Austausch von Waren – und Ideen! – von überall her. Zugleich waren die jonischen Städte Endpunkte der großen Handelsstraßen aus dem Inneren Asiens. (Fern-)Handel hieß Wohlstand. Die Erfordernisse der Seefahrt stimulierten Naturwissenschaft und Technik. Das Wetteifern zahlreicher Stadtstaaten, das Fehlen einer Kontrolle von fern, durch eine Zentralregierung, keine Priesterherrschaft – das waren weitere Faktoren, die eine freiere Luft wehen ließen als anderswo.

Die Vorsokratiker begründeten die Wissenschaft der westlichen Welt. Noch heute zehren wir von diesem Erbe. Thales und Pythagoras etwa sind in jedem Klassenzimmer präsent.

Wie gesagt, eine freiere Luft als anderswo. Und: als zu anderen Zeiten. Wer das Gegenprogramm sucht, Punkt für Punkt, der vergleiche dieses Ideenlabor mit derselben Region zweieinhalbtausend Jahre später.

Es ist die heutige Türkei, geistig enggeführt und verknöchert durch den Islam, unter der bleiernen Faust des Erdogan-Regimes. Nichts an Strahlkraft geht von ihr aus; in den Nachrichten taucht sie auf, wenn wieder ein Kritiker hinter Schloss und Riegel sitzt. Wer einmal die Probe macht und die Wortgruppe „türkische Intellektuelle“ in Google eingibt, stößt auf nichts als Gefängnis, Folter und Exil.

Fröstelnd wird der Leser gerne in das Jonien der Vorsokratiker zurückkehren, zu kühnem Denken und Fragen, zu dem Modell einer Welt ohne Denkverbote.

Logica verbale

An einem regnerischen Herbsttag 2016 kaufte ich in Mailand, der Stadt der Buchhandlungen, bei Feltrinelli ein Buch mit dem Titel Logica (Hoepli, Mailand 2016, ohne Verfasserangabe).

Es handelt sich nicht etwa um eines jener Werke, die kein Mensch freiwillig liest, weil ihre Seiten vom Spinnengewebe dürrer Tabellen und Wahrheitstafeln bedeckt sind, sondern um ein abwechslungsreiches Übungsbuch mit Testaufgaben plus Schlüssel.

Man kann es also verwenden wie ein Kreuzworträtselheft, etwa im Wartezimmer des Hausarztes; darin zu lesen ist um einiges bereichernder als die bleiernen Seiten des Einerleis Spiegel-Bunte-Focus-Stern zu wenden.

Logica bietet sprachliche, geometrische, arithmetische Aufgaben in buntem Wechsel. Das erste Kapitel, Logica verbale, behandelt unter anderem „premesse e conclusioni“. Es gilt zum Beispiel, kurze Texte daraufhin zu analysieren, welche unausgesprochenen Prämissen ihnen zugrundeliegen.

Jeder, der sich mit Texten beschäftigt weiß, dass es hier um Fundamentales geht. Was ein Text implizit mitteilt, ist oft wichtiger als das, was auf dem Papier steht. Für das Nichtaussprechen von Prämissen kann es verschiedene Gründe geben: etwa die Überzeugung, dass der Adressat des Textes weiß, worum es geht; Zeitmangel; Scham; vor allem: allgemeine kulturelle Voraussetzungen. Und: Es gibt Fälle, in denen Prämissen unerwähnt bleiben, um manipulativ der Diskussion entzogen und unterschoben zu werden.

Wiederholt musste ich in den letzten Monaten an Logica und die unausgesprochenen Prämissen denken, während ich die politischen Debatten in diesem Lande verfolgte.

In der Sendung Berlin Direkt äußerte sich im Dezember 2016 ein Michael Grosse-Brömer, Geschäftsführer der CDU/CSU Fraktion im Bundestag, zu Gefahren der Meinungsmanipulation im Wahlkampf.

Ich hatte seinen Namen nie gehört. Näheres über ihn wusste und weiß ich nicht. Wer wissen will, was ,die CDU’ will, dem reichen die Worte der Vorsitzenden A. Merkel. Um die Einlassungen ihrer Hofschranzen braucht sich in der Regel niemand weiter zu scheren, also auch nicht – jetzt kommt eine strenge Implikation ganz im Sinne von Logica – um die der Schranzen dieser Schranzen.

Der große Grosse-Brömer war es also, der äußerte, es gelte, „falsche Meinung“ – er benutzte ,Meinung’ als kollektiven Singular – vom Bürger fernzuhalten: „Im Netz sind ‘ne Menge Leute unterwegs, die destabilisieren wollen, die falsche Meinung verbreiten, die manipulieren wollen, und da muss Politik mit umgehen, insbesondere vor Wahlkämpfen.“

,Falsche Meinung’ – was steckt hinter dieser Formulierung? Nun, ganz offensichtlich die Prämisse: Ich und meinesgleichen verwalten die Trennlinie zwischen wahr und falsch, und jeder, der auf der falschen Seite steht, hat gefälligst das Maul zu halten, ganz einfach.

Außerdem: ,Destabilisieren’, ein transitives Verb, wird von ihm ohne Akkusativobjekt benutzt. Attackiert er diejenigen, die sich gegen die Fortdauer der sogenannten ,GroKo’ einsetzen?

Ein weiteres Beispiel. Im März 2018 debattierten in Dresden die Schriftsteller Uwe Tellkamp und Durs Grünbein öffentlich über die Masseneinwanderung nach Deutschland.

Grünbein vertrat die politisch korrekte Position, erntete erwartungsgemäß den Beifall der Presse und der GEZ-Journalisten und wurde – in jener üblich gewordenen Orwellschen Sprachumdeutung – auch noch als couragiert gepriesen. Mutig hatte er den allgemeinen Beifall der allgemeinen Ächtung vorgezogen; hier ergibt sich ein gewisses Problem mit logica verbale.

Uwe Tellkamp dagegen ,meinte falsch’, äußerte Unerwünschtes, sorgte für die gebotene flächendeckende Entrüstung. Die sächsische Wirtschaftsministerin Eva-Maria Stange (SPD) etwa sah sich bemüßigt, mitzuteilen, Tellkamps Ansichten seien eine „Privatmeinung, die ich nicht teile“.

Ein bemerkenswertes Statement. Im Weltbild der Eva-Maria Stange gibt es eine offizielle Linie, der es zu folgen gilt. Jede dissenting opinion ist irrelevant, weil nicht amtlich. Um eine solche Abweichlermeinung (und: ihren Vertreter) zu erledigen, reicht der bloße Hinweis, dass sie sich nicht mit der vorgegebenen Linie deckt, basta.

Nicht nach Bundesrepublik klang dieser Zungenschlag, sondern nach – DDR. Einer Eingebung folgend, suchte ich den Wikipedia-Eintrag dieser „deutschen Politikerin (SPD) und Gewerkschaftsfunktionärin“. Ich wurde fündig: „Stange war von 1981 bis 1988 Mitglied der SED und ist seit 1998 Mitglied der SPD“. Eine deutsche Karriere, nahtlos. Karrieren dieses Stils kennt die Geschichte der Bundesrepublik seit den frühen fünfziger Jahren.

Auch Tellkamps Verlag Suhrkamp schaltete sich ein. Er fühlte sich bemüßigt, nach der Debatte, am 9. März 2018, um 11:06 zu twittern:

Aus gegebenem Anlass: Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlages zu verwechseln.

Die Haltung des Verlages? Dass Individuen eine Haltung haben, haben sollten, sei unbestritten, aber ein Verlagshaus? Hier wird vorausgesetzt, dass die Mitarbeiter des Suhrkamp-Verlages so auf Vordermann gebracht sind, dass sie einen einzigen monolithischen Haltungsblock formen. Der Tweet war selbst der Süddeutschen Zeitung zu blöd, er werde „für Suhrkamp zum Bumerang“.

Beim WDR, so weiß man in Köln, muss jeder Hausmeister, jeder Parkwächter das SPD-Parteibuch haben – aber Suhrkamp? Es soll Zeiten gegeben haben, als der Suhrkamp-Verlag vielen als Fackelträger aufklärerischer Vernunft, unbequemen Denkens galt. Das muss Anno Tobak  – anders formuliert: um 1968 herum – gewesen sein.

Neulich hat jemand zum ersten Mal erfolgreich gegen die Löschung eines Facebook-Eintrags geklagt. Wer seine Meinungsfreiheit verteidigen will – und damit die aller –, sollte das am besten in die eigene Hand nehmen. Auf Verlage wie Suhrkamp, auf Spiegel-Bunte-Focus-Stern oder Politiker wie die genannten braucht er dabei jedenfalls nicht zu setzen.

 

Neuer Aufsatz erschienen!

FORVM CLASSICVM, die Zeitschrift für die Fächer Latein und Griechisch an Schulen und Universitäten, hat einen neuen Aufsatz von mir publiziert, der hier von meiner Homepage gratis als PDF downloadbar ist: De principatibus – der Principe Machiavellis und Ciceros De Officiis. Mit den Worten des Herausgebers Markus Schauer: „Christoph Wurm entführt uns in die Zeit der Renaissance-Humanismus und vergleicht zwei staatsphilosophische Werke, die beide in gewisser Weise Fürstenspiegel sind: den Principe Machiavellis und Ciceros De Officiis.“

Kirche im Dorf, Spatz in der Hand

„Der Sperling in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach“ – darauf stieß ich jüngst im Internet, was mich verwunderte, denn ich kannte nur den Spatzen in der Hand. Diese Version mit dem Sperling, gefunden im Internetwörterbuch Bab.la, kam mir nicht nur fremd, sondern auch schlechter vor: Sie klang überhaupt nicht wie eine richtige Redensart.

Ein Blick in Google zeigt, dass es Belegstellen auch aus neuerer Zeit gibt, aber zu erdrückend ist das – numerische! – Übergewicht des Spatzen. Dasselbe gilt für Spatzen/Sperlinge, auf die man mit Kanonen schießt oder die etwas von den Dächern pfeifen.

Ein repräsentatives Nachschlagewerk zu den deutschen Sprichwörtern erwähnt ausschließlich den Spatzen, vom Sperling keine Rede: „Sprw. heißt es ,Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach’, d.h. besser einen kleinen, aber sicheren Gewinn als große Hoffnungen, die sich nicht erfüllen. Ähnl. im Ndl. ,Beter een vogel in de hant als thien in de loght’.“ So Lutz Röhrich im Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (Bd. 4, S. 1496, 5. Aufl., Freiburg 1994).

Aber: Die klassische, erstmalig 1846 erschienene Sammlung „Deutsche Sprichwörter“  von Karl Simrock kennt nur den Sperling: „Besser ein Sperling in der Hand als ein Kranich auf dem Dach (über Land)“ (Sprichwort Nr. 9691) sowie „Die Sperlinge singen’s von den Dächern.“ (9695).

,Sperling’ ist ein gehobenes, eher schriftsprachliches, altmodisches Wort, das heutzutage vor allem in Biologiebüchern zu finden ist. Aus ihnen kann man auch entnehmen, dass Spatz kein pauschales Synonym für ,Sperling’, sondern für den Haussperling ist, was für unser Thema irrelevant ist.

Eine zweite Domäne des Sperlings ist die Welt der Bibelübersetzungen, denn in der Bibel wird der Vogel mehrfach erwähnt. Auch die neue (2016) Version der Einheitsübersetzung kennt den Sperling (Psalm 84,4: „Auch der Sperling fand ein Haus/und die Schwalbe ein Nest“), wählt aber meist den Spatzen. Luther übersetzt die beiden Stellen Matthäus 10,29 und Lukas 12,6 „οὐχὶ δύο στρουθία ἀσσαρίου πωλεῖται;“ und „οὐχὶ πέντε στρουθία πωλοῦνται ἀσσαρίων δύο;“ mit „Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig?“ sowie „Verkauft man nicht fünf Sperlinge um zwei Pfennige?“. In der Einheitsübersetzung dagegen hat sich der Spatz durchgesetzt: „Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig?“, „Verkauft man nicht fünf Spatzen für zwei Pfennige?“.

Woher dieser Triumph des Spatzen über den Sperling? Weil Spatz das ist, was die französischen Sprachwissenschaftler mot expressif  nennen. Bei derartigen Wörtern besteht irgendein Zusammenhang zwischen Lautgestalt und Sinn. Der bekannteste Untertyp ist das lautmalerische Wort, aber es gibt auch andere Arten des mot expressif. Eine Beispiel: die Verben ,lächeln’, ,lachen’, ,smile’, ,laugh’, bei deren Aussprache jedermann sein Gesicht entsprechend verzieht.

Ein einsilbiges Wort mit einem kurzen Vokal wie Spatz, das noch dazu auf einen stimmlosen Konsonanten endet, bietet sich an, um Kleines, Flüchtiges, Abgehacktes, Triviales zu benennen. Deshalb sagen manche ,ratz-fatz’ für ,äußerst schnell’, deshalb ist Vergebliches nicht für die Katze, sondern für die Katz’.

Das ist jedoch nicht der einzige Grund dafür, dass die Variante „Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ die eindrucksvollste, einprägsamste ist. Da ist zunächst der Rhythmus: Bésser der Spátz in der Hánd als die Taúbe auf dem Dách. Auf drei perfekte Daktylen (ein Daktylus=eine betonte Silbe + zwei unbetonte Silben) folgt ein vierter, der eine unbetonte Silbe zu viel hat, sowie eine weitere Hebung, Dách. Die Unregelmäßigkeit ist also genau an der Stelle, wo der unerreichbare Ort genannt ist.

Zumindest zum Teil daktylisch ist auch der Rhythmus anderer deutscher Redensarten: das Kínd mit dem Báde ausschütten, die Kírche im Dórf lassen, mit Kanónen auf Spátzen schiessen. Das gilt auch für die französische und die spanischen Variante des behandelten Sprichworts: „Un tiens vaut mieux que deux tu l’auras.“ (Ein habe ist mehr wert als zwei du wirst haben) und „Más vale pájaro en mano que ciento volando“ (Besser ein Vogel in der Hand als hundert in der Luft). Beide Sprichwörter sind nicht sinngleich mit dem deutschen, da nicht Schlechteres mit Besserem, sondern Eines mit Mehr verglichen wird.

Das einsilbige Wort ,Spatz’ für das Unbedeutendere steht dem längeren Wort ,Taube’ für das Bedeutendere gegenüber; so auch im französischen  Sprichwort: ,tiens’ – das sonst obligatorische Subjektpronomen ,je’ fehlt, offensichtlich genau um dieser sinnunterstreichenden Wirkung willen – und ,tu l’auras’. Das italienische Äquivalent lautet: „Meglio un uovo oggi che una gallina domani.“ (Besser ein Ei heute als eine Henne morgen). Auch hier der Kontrast der Silbenzahl: un (eine) uovo (zwei) oggi (zwei) und una (zwei) gallina (drei)  domani (drei).

Dasselbe Prinzip gilt dort, wo Unverhältnismäßigkeit der Mittel herrscht – wenn nämlich mit (dreisilbigen) Kanonen auf (zweisilbige) Spatzen geschossen wird!

Watermelon Man

On a visit to New York a few years ago I bought a second-hand record, the single Watermelon Man by Gloria Lynne, the original 45 from 1965. At that time I didn’t know anything about her, but I did know the tune. It was Herbie Hancock’s famous jazz instrumental; Gloria Lynne had written lyrics for it. At home I gave it a spin and I liked it from the start: a beautifully sung jazz tune, tightly arranged by the great Al Cohn. The occasional pop and crackle and the fact that it is a mono record only add to its charm. In fact, I’ve listened to it quite a few times since.

The other day I happened to listen to it again, and decided to do some research on the Internet. Gloria Lynne, an Afro-American, was born in Harlem in 1929, sang in a church choir as a young girl; her career as a jazz and soul vocalist spanned decades; she died in 2007. Her single Watermelon Man went to number 8 on the R&B charts in 1965.

But, strangely enough, her song was nowhere to be found on iTunes. There is a live version of the same song, hidden on an obscure album, but the hit song was not available. There is a version by Jon Kendricks that has different lyrics, which do not emphasize the glory of eating watermelon as strongly as Gloria’s version.

On amazon.com I checked the top five albums by Gloria Lynne, all hit compilations, one of them a double disc with over 40 songs; none of the albums contains the song. The title of the first of these records, ‘The Greatest Hits’, is a blatant lie, because Watermelon Man was one of these greatest hits. Her Wikipedia entry doesn’t mention the song among her hits; there is a reference to it at the very end of the article.

That was when I started to smell a rat. As a rule of thumb, whenever something (for example a quotation, a book, a historical fact) or someone (for example an author, a painter) disappears without a trace, there must be a case of ‘Political Incorrectness‘. But concerning a song which celebrates watermelons of all things? “I would buy one from you every day… they make you almost want to eat the seeds… big, ripe, red, goody-good watermelons…. Everybody digs Watermelon Man!“

However, I was right, my instinct had not deceived me. I found out that the Watermelon Man is a racist stereotype used to ridicule Afro-Americans. Racist caricatures show a Black Man sinking his teeth greedily into a big slice of watermelon. There is a movie called Watermelon Man (1970), which deals with a racist waking up as an Afro-American one morning. Now he, an insurance salesman, who used to sneer at ‘Watermelon Men’, has become one himself.

Question: Is it possible that two Afro-American artists of the calibre of Herbie Hancock and Gloria Lynne were NOT aware of this connotation? I did some further research until I chanced upon Hancock’s autobiography Possibilities (2014), in which he addresses the topic in a clear, rational way:

“I took the situation apart analytically. I asked myself two questions: Is there anything wrong with watermelons? No. Is there anything inherently wrong with the watermelon man? No. I didn’t like the fact that something as innocent and inoffensive as a watermelon had been so completely co-opted by racism, and I didn’t want to give in to it, because giving in to it felt like giving in to that victim mentality, the tendency to accept, subsconsciously or otherwise, the negativity that racism directs at us.“

There’s nothing to be added; the song can be listened to on YouTube.

Vorfahren? Welche Vorfahren?

Bitte auf das Bild klicken, um es ganz zu sehen.

Dass die Germanen das Volk unserer Vorfahren waren gilt uns als ausgemachte Sache, ist es aber nicht, wie ein Blick auf das Englische zeigt, wo es nur ein Wort gibt, Germans, das sowohl die Germanen als auch die Deutschen bezeichnet, uns also ohne Umschweife mit unseren Altvorderen und ihren rauhen Sitten in einen sprachlichen Topf wirft. Problematisch ist aber auch unsere Verwendung des Epithetons ,alte’ Germanen, das die Betroffenen gewissermaßen zu einem Zustand ewigen Greisentums verdammt.

Auch in unserm Nachbarland Frankreich liegt die Sache mit den Vorfahren nicht so einfach, wie uns das zunächst scheinen könnte.

In der in Frankreich beliebten Taschenbuchserie Gallimard Découvertes heißt ein Titel ,Nos ancêtres les Romains’. ,Unsere Vorfahren, die Römer’? Würde man nicht ,Nos ancêtres les Gaulois’ erwarten? Die Antwort auf die Frage ergibt sich aus zwei weiteren Bänden derselben Reihe, ,L’Europe des Celtes’ sowie ,Quand les Gaulois étaient Romains’: Nach der Eroberung durch Julius Cäsar setzte die rapide Romanisierung Galliens ein, die lateinische Sprache verbreitete sich überall und wurde zur Grundlage des modernen Französisch, eine spezifisch gallisch-römische Mischkultur entstand. Allerdings: Selbstverständlich finden sich, wie eine kurze Google-Recherche ergibt, nicht nur Bücher mit dem Titel ,Nos ancêtres les Gaulois’, sondern auch mit dem Titel ,Nos ancêtres les Francs’; die Franken waren es schließlich, die Land, Einwohnern und Sprache ihre Namen gaben.

Zurück zu ,Nos ancêtres les Romains’ (R. Hanoune, J. Scheid; 2003 (1993)) und ,Quand les Gaulois étaient Romains’ (F. Beck, H. Chew; 2008 (1989)). Beide Bände sind – wie von Gallimard Découvertes gewohnt – hervorragend bebildert und dokumentiert. Zahlreiche Farbaufnahmen veranschaulichen den Siegeszug römischer Kultur in allen Lebensbereichen Galliens. „En 52 av. J.-C., la Gaule est conquise … Mais Alésia n’est pas la fin de la Gaule. Rome unifie et organise le pays, propose à ses habitants un mode de vie qu’ils adoptent volontiers. Les Gaulois assimilent de nouveaux usages et, les mêlant à leurs traditions, créent une civilisation originale, la civilisation gallo-romaine, qui s’épanouit pendant plus de deux siècles de paix.“ (,Quand les …’, S. 13)

Insbesondere in den beiden südfranzösischen Städten Nîmes und in Arles finden sich noch heute bedeutende architektonische Zeugnisse der Römerzeit. Auf S. 21 in ,Quand les Gaulois …’ ist ein besonders schöner Fund aus Arles abgebildet, die Marmorkopie eines Ehrenschildes für Augustus. Auf diesem Rundschild ist eine Inschrift eingraviert, die auch auf der Fotografie klar leserlich ist.

Die Erläuterung zu dem Foto lautet: „Copie, trouvée en Arles, d’un bouclier de Vertu offert par le Sénat à Auguste en 27 av. J.-C.“. Da sich in dem Buch nichts Näheres zu der Inschrift und ihrem Kontext findet, hier zunächst der vollständige Text plus Übersetzung:

Senatus populusque Romanus imperatori Caesari divi filio Augusto consuli VIII (=octavum) dedit clupeum virtutis, clementiae, iustitiae, pietatis erga deos patriamque.

Der Senat und das römische Volk haben den Imperator Caesar Augustus, Sohn des vergöttlichten Caesar [der Oktavian, den späteren Augustus, adoptiert hatte], zum achten Mal Konsul, mit diesem Ehrenschild für Tüchtigkeit, Milde, Gerechtigkeit, Frömmigkeit gegenüber den Göttern und dem Vaterland ausgezeichnet.

Das Original des Ehrenschildes war, wie Augustus uns in seinem Tatenbericht mitteilt, aus Gold. Er rühmt sich dieser Auszeichnung:

In consulatu sexto et septimo, postquam bella civilia exstinxeram per consensum universorum potitus rerum omnium, rem publicam ex mea potestate in senatūs populique Romani arbitrium transtuli. Quo pro merito meo senatūs consulto Augustus appellatus sum et laureis postes aedium mearum vestiti publice coronaque civica super ianuam meam fixa est et clupeus aureus in curia Iulia positus, quem mihi senatum populumque Romanum dare virtutis clementiae et iustitiae et pietatis causā testatum est per eius clupei inscriptionem. Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri, qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt. (Res Gestae, VI, 34)

In meinem sechsten und siebten Konsulat [also 28 und 27 v. Chr.] habe ich, nachdem ich den Bürgerkriegen ein Ende gesetzt hatte und mit Zustimmung der Allgemeinheit zur höchsten Gewalt gelangt war, den Staat aus meiner Macht entlassen und wieder der Entscheidungsfreiheit des Senats und des römischen Volkes übertragen. Für dieses mein Verdienst wurde ich auf Senatsbeschluss Augustus, ,der Erhabene’, genannt, die Türpfosten meines Hauses wurden öffentlich mit Lorbeer geschmückt, der Bürgerkranz über meiner Tür angebracht sowie ein Goldschild in der Curia Iulia [also dem Sitzungsgebäude des Senats] aufgehängt, den mir Senat und Volk von Rom verliehen aufgrund meiner Tüchtigkeit, Milde, Gerechtigkeit und Pflichttreue, wie die auf diesem Schild angebrachte Inschrift bezeugt. [in der griechischen Parallelversion: „ἀρετὴν καὶ ἐπείκειαν καὶ δικαιοσύνην καὶ ἐυσέβειαν ἐμοὶ μαρτυρεῖ“] Seit dieser Zeit überragte ich zwar an Einfluss und Ansehen alle, Macht aber besaß ich nicht mehr als diejenigen, die meine Kollegen in irgendeinem Amt waren.

Der abgebildete Schild führt also unmittelbar in den Prinzipat des Augustus und in die Selbstdarstellung des Herrschers.

Kühles Blondes, Graue Zellen

„Wer Bier trinkt, lebt 100 Jahre“ – so wenigstens will es ein legendärer italienischer Werbeslogan: „Chi beve birra, campa cent’ anni.“ Jeder, der gerne Bier trinkt, wird dieser Botschaft gerne lauschen. Das italienische Wissenschaftsmagazin Focus, das stets anregend Naturwissenschaften und Technik behandelt – Entwarnung: es hat nichts mit Merkels Hochglanzbroschüre desselben Namens zu tun – hat diesen Slogan nun abgewandelt.

„Wer eine Sprache lernt, lebt 100 Jahre“ – „Chi impara una lingua … campa cent’anni“ – ist der Titel eines Artikels von Daniela Cipolloni, der im Septemberheft 2017 (S. 66 – 70) erschien. Er behandelt, sorgfältig dokumentiert, die segensreichen Wirkungen des Fremdsprachenwerwerbs.

Neue Untersuchungen haben gezeigt, dass nichts so hilfreich für die Wahrung und Verbesserung der Gehirnleistung eines Menschen ist wie das Fremdsprachenlernen. Vorbei die Zeit, als man der Vorstellung anhing, nur Kinder oder Jugendliche seien dazu befähigt. Längst ist erwiesen: Man kann auch im Alter Sprachen lernen.

So wie man einen Muskel trainieren kann, so kann man auch sein Gehirn üben und elastisch halten. (S. 68): „Come per fare massa muscolare, conta l’allenamento“ [Genauso wie wenn man Muskelmasse schaffen will, kommt es auf das Training an.] Es entwickelt sich, wie aktuelle italienisch-chinesische Forschungen belegen, „più materia grigia“, mehr Gehirnmasse. Es entstehen „più neuroni, più interconnessi fra loro“: mehr Neuronen und mehr Verbindungen zwischen ihnen (S. 68). So berichtet Jubi Abutalebi, Neuropsychologe und Direktor des Zentrums für Neurolinguistik der Università Vita-Salute San Raffaele in Mailand, das mit der Universität Hongkong zusammen forscht.

Für jede Altersgruppe ist der Fremdsprachenerwerb die beste Gehirnschulung. Die Konzentrationsfähigkeit verbessert sich, alle kognitiven Fähigkeiten profitieren; es gibt keine Medikament, das dieselben positiven Wirkungen hätte. Der Spracherwerb kann einen Beitrag zur Demenzprävention und zur vollen Wiederherstellung der geistigen Fähigkeiten nach einem Schlaganfall liefern.

„Se il sistema sanitario finanziasse corsi di lingua per la terza età, potrebbe risparmiare centinaia di milioni di euro all’anno nella prevenzione delle demenze e dei loro costi socio-sanitari.“ (S. 68): „Wenn das Gesundheitssystem Sprachkurse für Senioren finanzierte, dann könnte es hunderte Millionen Euro pro Jahr einsparen – in der Prävention von Demenzerkrankungen sowie ihrer gesellschaftlichen und gesundheitlichen Kosten.“

 

Eurogrüße aus Barcelona

 

Mario Draghi, seit 2011 – zum Leidwesen des rechtschaffenen Sparers – Gehirn der Europäischen Zentralkrake, ist zwar selbst bereit, Geld zu drucken, wann immer es ihn in den Tentakeln juckt, diese numismatische Lieferung aus Barcelona dürfte ihm und den anderen Euro-Bürokraken freilich kaum behagen. Die Münzen, ein kompletter Euro- und Centmünzen-Satz Kataloniens, wurden letztes Jahr geprägt. Sie besitzen keinerlei Legitimation durch die EU. Falschgeld ist für die Münzen ein zu rüder Ausdruck; die Floskel täuschend echt scheidet aus: Nichts was mit Euro und Euro,rettung‘ zu tun hat verdient das Epitheton ,echt’. Ich betrachte sie als Sammlerstücke, und zwar recht ansehnliche.