Von Göttern und anderen Spitzbuben
πάντα θεοῖσ‘ ἀνέθηκαν Ὅμηρός θ‘ Ἡσίοδός τε,
Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt,
ὅσσα παρ‘ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν,
was bei den Menschen Schimpf und Schande bringt:
κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν.
Stehlen, Ehebrechen und einander Hereinlegen.
Diese griechischen Verse sind mir schon lange geläufig, erst neulich aber habe ich mir die Mühe gemacht, mich näher mit ihrem Kontext zu beschäftigen, und das, obwohl ich seit Jahren zwei hervorragende Hilfsmittel besitze.
Zum einen die einsprachig deutsche Textsammlung ,Die Fragmente der Vorsokratiker’ von Hermann Diels, ein Rowohlt-Taschenbuch von 1963 (Erste Auflage: 1957), das ich vor Jahren auf einem Flohmarkt erwarb, zum anderen die gleichnamige Edition (Text und Kommentar) der zentralen griechischen Texte von Franz-Josef Weber (Paderborn, Schöningh 1976), ein Geschenk meines Bruders.
Der Autor ist Xenophanes, einer der frühesten europäischen Denker, ein Vorsokratiker. Xenophanes stammte aus Kolophon an der kleinasiatischen Küste, in Jonien, und lebte, so die Überlieferung, etwa 100 Jahre, zwischen ca. 570 und ca. 470 vor Chr. Von seinen Werken sind uns nur Fragmente überliefert – mit denen zu beschäftigen sich auch im Jahre 2018 lohnt.
Den Großteil seines langen Lebens verbrachte er fern seiner Heimat auf der Wanderschaft als fahrender Sänger, nachdem er vor den Persern nach Italien geflohen war.
Ja, es sind nur ein paar Textscherben, die uns nach über zweieinhalbtausend Jahren von ihm vorliegen, aber glücklicherweise tritt uns aus ihnen der Mensch Xenophanes vor Augen, ein Mann von kauzig-liebenswürdigem Humor. So teilt der Uralte uns etwa mit, schon 67 Jahre sei er jetzt durch die hellenische Welt gewandert, und zwar seit seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr – „wenn ich mich hier nicht verrechne“.
Von einem fahrenden Sänger erwartete man, dass er die Gedichte Homers vorzutragen verstand, und trotzdem richtet Xenophanes an ihn und an den anderen großen griechischen Dichter, Hesiod, den oben wiedergegebenen Vorwurf. Denn der ewig wandernde Xenophanes hat sich auf seinen Wegen mit weitaus mehr beschäftigt als mit dem Memorieren von Versen, er war ein eigenwilliger Kopf. Scharf wendet er sich gegen die gängigen anthropomorphen Vorstellungen von den Göttern:
„Hätten die Rinder und Pferde und Löwen Hände, könnten sie malen und Bildwerke schaffen wie Menschen, dann würden die Pferde die Götter als Pferde, die Rinder sie als Rinder porträtieren! Sie würden Statuen meißeln, die ihrer eigenen jeweiligen Körpergestalt entsprächen.“
Und: „Die Äthiopier behaupten, die Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker aber, sie seien blauäugig und rothaarig.“
Anschaulich konkretisiert, glänzend despektierlich formuliert, tausendfach zitiert, ist seine Religionskritik bis heute die berühmteste Attacke auf den Anthropomorphismus.
Der Gipfel des Widersinns aber ist für ihn, den Göttern auch noch menschliche Schandtaten anzudichten. Das ist der Sinn der obigen Verse, die aus seinen σίλλοι stammen, Spottgedichten, in denen sich Hexameter und Jamben abwechseln; das oben zitierte Fragment ist – was meine Prosaübersetzung nicht widerspiegelt – rein hexametrisch.
Man kann nicht an Göttliches, an Absolutes, glauben, und zugleich den Göttern Menschliches und Allzumenschliches unterstellen. Welche Schandtaten meint Xenophanes im dritten Vers? Einige Beispiele:
Stehlen: Prometheus stiehlt, so Hesiod, Zeus das Feuer. Im homerischen Hermeshymnus stiehlt Hermes, wegen seiner Verschlagenheit der Gott der Diebe, die 50 Rinder des Apoll.
Ehebrechen: Im achten Buch der Odyssee begehen Ares und Aphrodite Ehebruch: „Komm ins Bett, meine Liebe! Wir wollen uns legen und uns erfreuen (τραπείομεν). Denn [dein Ehemann] Hephaistos ist nicht mehr im Lande.“ (292ff.).
Einander hereinlegen: Im 14. Buch der Ilias täuscht Hera Zeus, damit Poseidon den Griechen beistehen kann. Sie benutzt dazu den Gürtel der Aphrodite, der sie unwiderstehlich macht, um die Gedanken ihres – ohnehin stets lüsternen – Gatten auf Sex abzulenken.
Aus den Fragmenten des Xenophanes seine Religionskritik zu entnehmen ist einfach, seine eigene Theologie zu rekonstruieren schwierig. Vor allem eine zentrale Frage ist nicht definitiv zu beantworten: War Xenophanes strikter Monotheist oder ließ er die Götter unter der Oberherrschaft eines einzigen Gottes fortbestehen?
„Der eine Gott (εἷς θεός), unter Göttern und Menschen am größten (μέγιστος), gleicht weder dem Körper, noch dem Geist nach den Sterblichen“, er ist „ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr“. Er lässt das Weltall mit seiner Geisteskraft erbeben (κραδαίνει). Im Gegensatz zu den gerne auf der Erde herumwandernden Göttern der Tradition bewegt er sich selbst nicht, ein abstraktes Lebensprinzip, das alles Lebendige durchwaltet.
Dieser Gott ist kein Zeus, kein Göttervater, und es ist schwer nachzuvollziehen, welchen Platz Xenophanes den anderen Götter zubilligt (sieht er sie etwa als Lokalgötter?), und worin ihre Göttlichkeit besteht; menschenähnlich sind sie jedenfalls nicht. Es ist jedoch die These vertreten worden, sein Hinweis auf ,die Götter’ sei bloße literarische Konvention, gehöre also in den Bereich der Stilistik.
In jedem Fall trägt Xenophanes einen kühnen Doppelangriff vor, auf die geistigen Urväter Griechenlands und auf die Götterwelt. „Nach (=gemäß) Homer“ so heißt es in einem anderen seiner Fragmente, „haben alle von Anfang an gelernt.“ Für „haben gelernt“ steht im Original das Perfekt ,μεμαθήκασιν’, nicht die Vergangenheitsform des Aorists. Das Perfekt betont nicht den vergangenen Vorgang, sondern das jetzt vorliegende Endresultat: Sie sind in ihrem ganzen Denken von Homer geprägt. Es ist dies die erste uns überlieferte Kritik an Homer und an seiner erzieherischen Wirkung überhaupt.
Ein anderer Vorsokratiker, Heraklit, wird diesen Angriff in rüder Form steigern: Homer verdiene „ἐκ τῶν ἀγώνων ἐκβάλλεσθαι καὶ ῥαπίζεσθαι“, aus den Dichterwettkämpfen herausgeworfen und durchgeprügelt zu werden.
Xenophanes demontiert den traditionellen Götterglauben: Ihr Bild trivialisierend zu verzerren ist der dreiste Versuch des Menschen, sich Götter nach seinem Ebenbild zu erschaffen.
Was war das für ein geistiges Klima, in dem die Vorsokratiker wirken konnten? Aus welchen Gründen stand die Wiege von Mathematik, Naturwissenschaft, Philosophie – das Wort φιλοσοφία hat erst später Platon geprägt – in Jonien?
Durch die Lage am Meer war Jonien sperrangelweit offen für den Austausch von Waren – und Ideen! – von überall her. Zugleich waren die jonischen Städte Endpunkte der großen Handelsstraßen aus dem Inneren Asiens. (Fern-)Handel hieß Wohlstand. Die Erfordernisse der Seefahrt stimulierten Naturwissenschaft und Technik. Das Wetteifern zahlreicher Stadtstaaten, das Fehlen einer Kontrolle von fern, durch eine Zentralregierung, keine Priesterherrschaft – das waren weitere Faktoren, die eine freiere Luft wehen ließen als anderswo.
Die Vorsokratiker begründeten die Wissenschaft der westlichen Welt. Noch heute zehren wir von diesem Erbe. Thales und Pythagoras etwa sind in jedem Klassenzimmer präsent.
Wie gesagt, eine freiere Luft als anderswo. Und: als zu anderen Zeiten. Wer das Gegenprogramm sucht, Punkt für Punkt, der vergleiche dieses Ideenlabor mit derselben Region zweieinhalbtausend Jahre später.
Es ist die heutige Türkei, geistig enggeführt und verknöchert durch den Islam, unter der bleiernen Faust des Erdogan-Regimes. Nichts an Strahlkraft geht von ihr aus; in den Nachrichten taucht sie auf, wenn wieder ein Kritiker hinter Schloss und Riegel sitzt. Wer einmal die Probe macht und die Wortgruppe „türkische Intellektuelle“ in Google eingibt, stößt auf nichts als Gefängnis, Folter und Exil.
Fröstelnd wird der Leser gerne in das Jonien der Vorsokratiker zurückkehren, zu kühnem Denken und Fragen, zu dem Modell einer Welt ohne Denkverbote.